BT-Drucksache 17/151

Ermittlung der Höhe der Regelleistung im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch

Vom 2. Dezember 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 17/151
17. Wahlperiode 02. 12. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,
Heidrun Dittrich, Diana Golze, Kornelia Möller, Ingrid Remmers,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Ermittlung der Höhe der Regelleistung im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch

In den Verfahren BVerfG 1 BvL 1/09, BVerfG 1 BvL 3/09 sowie BVerfG 1 BvL
4/09 wird derzeit von dem Bundesverfassungsgericht die Verfassungsgemäßheit
der Ermittlung der Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozial-
gesezubuch (SGB II) verhandelt. Hierzu liegen dem Bundesverfassungsgericht
je ein Vorlagebeschluss des Hessischen Landessozialgerichts und des Bundes-
sozialgerichts vor. Während das Bundessozialgericht die Verfassungsgemäßheit
der Ermittlung der Kinderregelsätze geklärt wissen möchte, bezweifelt der Vor-
lagebeschluss des Hessischen Landessozialgerichts (L 6 AS 336/07 vom 29. Ok-
tober 2008) die verfassungsgemäße Ermittlung der Regelsätze überhaupt. Am
20. Oktober 2009 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden und es ist zu
Beginn des Jahres 2010 mit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zu rechnen.

Im Kontext dieser Verhandlungen stellen sich zahlreiche Fragen, die jenseits der
verfassungsrechtlichen Bewertung klärungsbedürftig sind. Insbesondere ist zu
hinterfragen, inwieweit die gesetzlichen Regelungen und Vorschriften zum Ver-
fahren zur Ermittlung und Fortschreibung der SGB-II-Regelleistung in der Ver-
gangenheit ausreichend beachtet wurden und wie sichergestellt werden soll, dass
dies in Zukunft gewährleistet wird. Problematisch erscheinen in diesem Zusam-
menhang insbesondere die Auswahl der Referenzgruppe bei der Auswertung der
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) (Ein-Personen-Haushalte statt
aller Haushalte), die anscheinend nicht verwirklichte Vermeidung von Zirkel-
schlüssen, die fehlende Bedarfsermittlung bei Kindern und Jugendlichen sowie
die sachfremde und im Ergebnis unzureichende Anpassung der Leistungen.

Unabhängig davon, ob die genannten Sachverhalte in der mündlichen Verhand-
lung am 20. Oktober 2009 zur Sprache gekommen sind, wird von der Bundes-
regierung eine politische Bewertung erwartet, die auch die Konsequenzen aus
dem bisherigen Verfahren für das Regierungshandeln der nächsten Jahre deutlich
benennt.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Bewertet die Bundesregierung die aktuell gültigen Regelleistungen für
Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene als angemessen und ausreichend
und das Verfahren der Ermittlung der Regelleistungen als sachgerecht und
transparent?

2. Auf welchen rechtlichen Grundlagen mit welchen Verfahrensvorschriften
beruht die Ermittlung der SGB-II-Regelleistung?

Drucksache 17/151 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

3. Auf Grund welcher rechtlichen Grundlage hat die Bundesregierung – ab-
weichend von dem Wortlaut in § 28 Absatz 3 Satz 3 SGB XII – die Ermitt-
lung der Regelleistung nach der EVS auf die Gruppe der Ein-Personen-
Haushalte beschränkt?

4. Sind der Bundesregierung Studien oder Berechnungen bekannt, die auf allen
Haushaltstypen basieren, und zu welchen Ergebnissen hinsichtlich der
Regelleistung kommen diese Berechnungen?

5. Wie bewertet die Bundesregierung die Berechnungen von Dr. Rudolph
Martens vom Paritätischen Gesamtverband in dem Verfahren vor dem
Hessischen Landessozialgericht, nach denen der Erwachsenenregelsatz bei
Zugrundelegung aller Haushalte als Referenzgruppe mit 403 Euro um
58 Euro höher hätte ausfallen müssen (LSG-Beschluss vom 29. Oktober
2008, L 6 AS 336/07, VIII Nr. 5)?

6. Welche Regelleistung ergibt sich nach der Kalkulation der Bundesregierung,
wenn bei der Berechnung der Regelleistung statt der Gruppe der Ein-
Personen-Haushalte auf alle Haushalte abgestellt wird?

7. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage des Hessischen Landes-
sozialgerichts, dass durch die Beschränkung der Referenzgruppe auf Ein-
Personen-Haushalte die Regelleistung deutlich zu niedrig ausfallen würde
und systematisch familienspezifische Bedarfe untererfasst würden?

8. Gedenkt die Bundesregierung bei künftigen Auswertungen der EVS zur
Ermittlung der Regelleistung an der umstrittenen Beschränkung auf Ein-
Personen-Haushalte festzuhalten, und wie begründet sie ggf. diese Absicht?

9. Stimmt die Bundesregierung der Aussage zu, dass sog. Zirkelschlüsse durch
den Ausschluss von Haushalten von Grundsicherungsberechtigten bei der
Ermittlung der Regelleistungen vermieden werden müssen?

10. Stimmt die Bundesregierung zu, dass analog Haushalte von „verdeckt
Armen“ – hier verstanden als Haushalte, die einen Anspruch auf Grund-
sicherungsleistungen nicht in Anspruch genommen haben – aus der Be-
rechung ausgeschlossen werden müssen?

11. In welcher Weise hat die Bundesregierung in den bisherigen Auswertungen
der EVS Zirkelschlüsse vermieden?

12. Wie erklärt die Bundesregierung, dass nach Aussagen von Rüdiger Bökel,
der für einen der Kläger eine „Stellungnahme zu den Ausführungen der
Bundesregierung zur Ermittlung der Höhe von SGB-XII-Regelsatz/SGB-II-
Regelleistung vom 29. September 2009“ verfasst hat, über 52 Prozent der
Referenzhaushalte keine GEZ-Gebühren bezahlen?

13. Welche Rückschlüsse auf die soziale und finanzielle Situation der Referenz-
gruppe lässt der genannte Sachverhalt – angesichts der notwendigen Voraus-
setzung für eine GEZ-Gebührenbefreiung – zu?

14. Wie bewertet die Bundesregierung die Interpretation, dass der genannte
Sachverhalt für einen großen Anteil von verdeckt Armen und Grundsiche-
rungsbeziehenden in der Referenzgruppe spricht und somit Zirkelschlüsse
nicht vermieden wurden?

15. Wie gedenkt die Bundesregierung in Zukunft Zirkelschlüsse bei der Ermitt-
lung der Regelleistung auszuschließen?

16. Auf welchen empirischen Daten zum Ausgabeverhalten der in der EVS
erfassten Referenzgruppe erfolgte die Festlegung von Abschlägen in den
einzelnen Abteilungen der EVS (Auswertungen 1998 und 2003), oder

beruhen diese lediglich auf normativen Setzungen, und wie lassen sich diese
ggf. begründen?

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17. Wie begründet die Bundesregierung die Veränderungen der Abschläge bei
der Auswertung der EVS 2003 gegenüber der EVS 1998?

18. Wie hoch hätte die Regelleistung jeweils nach der Herleitung aus der ak-
tuellen EVS (1998 und 2003) ausfallen müssen, wenn auf die Abschläge in
den verschiedenen Abteilungen verzichtet worden wäre?

19. Gedenkt die Bundesregierung bei zukünftigen Auswertungen der EVS auf
willkürlich erscheinende Abschläge zu verzichten?

20. Wie begründet die Bundesregierung das bisher gewählte Verfahren zur Fest-
legung der Kinderregelsätze (Festlegung eines prozentualen Abschlags von
der Eckregelleistung)?

21. Auf Grund welcher Erwägungen hat die Bundesregierung für Kinder und
Jugendliche in Bezug von Leistungen nach dem SGB II 2005 nur zwei Al-
tersstufen eingeführt?

22. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage von Rüdiger Bökel (a. a. O.,
S. 27 f.), dass der Bundesregierung die Notwendigkeit von drei Altersstufen
schon vor dem Jahr 2003 bekannt war und das Versäumnis einer entspre-
chenden Korrektur vorenthaltene Leistungen in Höhe von über 1,5 Mrd.
Euro zur Folge hatte?

23. Was waren der Anlass und das Ergebnis der von der Bundesregierung in
Auftrag gegebenen Sonderauswertung des Statistischen Bundesamts zur Er-
mittlung von Kinderregelsätzen?

24. Ist die Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes öffentlich, und lag
sie den Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichts in der
mündlichen Verhandlung am 20. Oktober 2009 vor (falls nein, bitte mit Be-
gründung, warum nicht)?

25. Wie bewertet die Bundesregierung – unabhängig von der letztendlichen ver-
fassungsrechtlichen Bewertung – die Aussage des Vorlagebeschlusses des
Hessischen Landessozialgerichts, dass der Senat des Gerichts von der Unter-
deckung des soziokulturellen Existenzminimums des klagenden Kindes
überzeugt sei und „dass die Unterdeckung der Bedarfe von Familien und
Kindern im SGB-II-Bezug (…) mit hoher Wahrscheinlichkeit die Lern- und
Bildungsfähigkeit der Kinder beeinträchtigt und zu deren sozialen Ausgren-
zung führt“?

26. Gedenkt die Bundesregierung in Reaktion auf die Kritik an den unzureichen-
den Mitteln für Kinder und Jugendliche im Grundsicherungsbezug die Leis-
tungen zu erhöhen, und welche Vorkehrungen trifft die Bundesregierung
hierfür im Rahmen des Haushaltsentwurfs 2010?

27. Plant die Bundesregierung im Laufe dieser Legislaturperiode eine Reform
der Ermittlung des soziokulturellen Existenzminimums für Kinder und Ju-
gendliche in Bezug von Grundsicherungsleistungen (wenn ja, in welcher
Form)?

28. Gedenkt die Bundesregierung – unabhängig von der anstehenden verfas-
sungsrechtlichen Bewertung – eine Öffnungsklausel für Sonderbedarfe in
das SGB II einzuführen, um eine Ungleichbehandlung von Hilfeberechtig-
ten im SGB II und im SGB XII zu beenden?

29. Mit welcher Begründung koppelt die Bundesregierung die Anpassung von
Leistungen nach dem SGB II an die Entwicklung des aktuellen Renten-
werts?

30. Wie bewertet und kommentiert die Bundesregierung die Aussage u. a. des

Bundessozialgerichts (Urteil vom 27. Februar 2008, B 14/11b AS 32/06 R),

Drucksache 17/151 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
dass eine Anpassung der Regelleistungen anhand der Entwicklung des
aktuellen Rentenwerts nicht sachgerecht ist?

31. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage, dass eine Fortschreibung
der Regelleistung, die unterhalb der Preisentwicklung für die regelsatz-
relevanten Güter und Dienstleistungen bleibt, zu einer Unterdeckung des
soziokulturellen Existenzminimums führt?

32. Gedenkt die Bundesregierung die Regeln und Verfahren zur jährlichen An-
passung der Regelleistungen im Laufe dieser Legislaturperiode zu reformie-
ren, und ggf. in welcher Weise?

33. Welche Schritte muss eine Hilfeberechtigte oder ein Hilfeberechtigter ein-
leiten und beschreiten, damit bei einer evtl. durch das Bundesverfassungsge-
richt konstatierten Verfassungswidrigkeit der Regelleistung für Kinder und
Jugendliche bzw. Erwachsene Leistungen rückwirkend nachgezahlt wer-
den?

34. Welche Haushaltsmittel stellt die Bundesregierung in den Haushaltsentwurf
2010 zusätzlich ein, um eine Anhebung der Regelleistungen für Erwachsene
und/oder Kinder und Jugendliche in welcher Höhe zu finanzieren?

Berlin, den 2. Dezember 2009

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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