BT-Drucksache 17/14713

Asylrelevante Lage in Tschetschenien

Vom 5. September 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/14713
17. Wahlperiode 05. 09. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen, Harald Koch,
Thomas Nord, Katrin Werner, Kathrin Vogler und der Fraktion DIE LINKE.

Asylrelevante Lage in Tschetschenien

In den letzten Monaten ist die Zahl der Asylsuchenden mit russischer Staatsan-
gehörigkeit deutlich angestiegen. Stellten in den Monaten Januar bis Juli 2012
1 098 russische Staatsangehörige einen Antrag auf Asyl, waren es im Januar bis
Juli 2013 11 564 (Asylgeschäftsstatistik des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge für den Monat Juli 2013). Im ersten Halbjahr 2013 wurde für
47,8 Prozent dieser Asylsuchenden ein Übernahmeersuchen an einen anderen
Mitgliedstaat der Europäischen Union gestellt, weil es nach der Dublin-Verord-
nung für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei oder dort bereits
ein Asylverfahren durchgeführt wurde (Antwort der Bundesregierung auf die
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE., „Ergänzende Informationen zur
Asylstatistik im zweiten Quartal 2013, Bundestagsdrucksache 17/14553). Die
meisten Übernahmeanträge wurden dabei an Polen gestellt, über das nach Be-
richten in den Medien und Pressemitteilungen der Bundespolizei viele der rus-
sischen Asylsuchenden in die Bundesrepublik Deutschland einreisen. Zusam-
men mit der gestiegenen Zahl der Asylsuchenden ist die Anerkennungsquote für
Asyl, Flüchtlingsschutz und subsidiären Schutz deutlich gesunken, von
15,8 Prozent auf 4,3 Prozent jeweils im zweiten Quartal 2012 respektive 2013.
Die bereinigte Schutzquote, d. h. Anerkennungen bezogen auf inhaltliche Ent-
scheidungen (z. B. ohne Dublin-Entscheidungen), betrug zuletzt 14,9 Prozent.

In der Öffentlichkeit wird über den Anstieg der Asylzahlen spekuliert. Unter der
reißerischen Überschrift „Terroristen suchen Asyl in Deutschland“ berichtete
„DIE WELT“ am 8. August 2013 über angeblich in Tschetschenien kursierende
Gerüchte, nach denen Asylsuchende in Deutschland 4 000 Euro „Begrüßungs-
geld“ erhalten würden, gab dafür aber keine bestimmte Quelle an. Im gleichen
Artikel werden anonyme Quellen im Bundesamt für Verfassungsschutz zitiert,
nach denen führende Köpfe des „Kaukasischen Emirats“ als Asylsuchende nach
Deutschland gekommen seien. Es gebe Gespräche zwischen deutschen und rus-
sischen Nachrichtendienstlern über mögliche „Terrornetzwerke aus dem Kauka-
sus, die sich in Deutschland etabliert haben“. Sie rekrutierten Personal und trie-
ben Spenden ein. Die Zahl ihrer Mitglieder wird auf 200 geschätzt. Auch Mafia-
banden versuchten, unter den Asylsuchenden Mitglieder zu werben.

Unerwähnt blieb in dem zitierten Beitrag in der Tageszeitung „DIE WELT“,

dass die Sicherheitslage in Tschetschenien weiterhin desaströs ist. In einem Be-
richt einer fact finding mission des Dänischen Immigrationsservice aus dem Jahr
2011 werden zahlreiche Aussagen von Menschenrechtsorganisationen, Mitar-
beitern westlicher Botschaften und Gewährsleuten aus Tschetschenien oder
tschetschenischen Gemeinden in anderen Teilen Russlands zusammengestellt.
Faktisch hat sich unter der Alleinherrschaft von Ramsan Kadyrow in der russi-
schen Teilrepublik Tschetschenien eine Sondergesetzgebung etabliert, auf die

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die föderalen und gesamtstaatlichen Behörden Russlands kaum noch Einfluss
haben. Selbst bei geringsten tatsächlichen oder vermuteten oppositionellen Ak-
tivitäten gegen Machthaber Ramsan Kadyrow werden Verdächtige in offizielle
und auch inoffizielle Gewahrsamseinrichtungen der Polizei verbracht. Schwere
körperliche Misshandlungen und Folter in den ersten Tagen der Gefangenschaft
sind nach diesen Berichten obligatorisch. Um keine dokumentierbaren Spuren
zu hinterlassen, wird im Rahmen der Verhöre mit Strom gefoltert. Sind die Ver-
dächtigen selbst nicht greifbar, werden auch solche Personen verhört und ge-
foltert, die Informationen über ihren Verbleib geben könnten. Für die Polizei-
beamten oder Mitglieder des Inlandsgeheimdienstes FSB (der in Tschetschenien
autonom von der Zentrale in Moskau agiert und vollständig unter Ramsan
Kadyrows Kontrolle steht) herrscht vollkommene Straffreiheit. Hinzu kommt,
dass Ramsan Kadyrow auch ihm persönlich unterstellte, irrreguläre Milizen un-
terhält. Jede Form der öffentlichen Kritik an der Regierung wird unterdrückt, es
werden Beweise gefälscht, um unliebsame Personen wegen des Verdachts der
Unterstützung des „Kaukasischen Emirats“ oder Drogenhandels festnehmen zu
können. Die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ und das „Civic
Assistance Comittee“ geben in dem Bericht an, folgende Gruppen seien beson-
ders von Folter, Verschwindenlassen, Entführungen und extralegalen Tötungen
bedroht: mutmaßliche Unterstützer und Sympathisanten als terroristisch einge-
stufter Untergrundgruppen, Freunde und Verwandte solcher Unterstützer, Rück-
kehrer aus westeuropäischen Staaten, junge Menschen zwischen 15 und 30 Jah-
ren, die sich nicht eindeutig zu Ramsan Kadyrow bekennen. Junge Frauen kön-
nen Opfer von Zwangsheiraten mit einflussreichen und mächtigen Männern
werden, das Problem ist in seiner Dimension aber nicht erfasst, weil darüber
nicht gesprochen wird.

Auch im Entscheiderbrief 5/2013 (S. 2) des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge (BAMF) ist von „fortlaufenden Menschenrechtsverletzungen“ die
Rede. „Kampfhandlungen und Anschläge sind fast an der Tagesordnung. Hinzu
kommt der intensive allgemeine Fahndungsdruck der russischen Sicherheits-
kräfte“ (ebd.). Und weiter: „Es muss weiterhin mit schweren Menschenrechts-
verletzungen gerechnet werden. Hinzu kommt eine zunehmende Islamisierung
des Alltagslebens. Seit Ende 2010 wächst der gesellschaftliche und politische
Druck – insbesondere gegenüber Frauen – sich den Regeln des Korans anzupas-
sen. So kam es vereinzelt schon zu Übergriffen gegenüber Frauen mit typisch
westlicher Kleidung und solchen, die sich weigerten, ein Kopftuch zu tragen“
(ebd.). Zudem „scheint es Befürchtungen vor einer Verschlechterung der Situa-
tion im Vorfeld der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi zu geben. Es wird
mit Übergriffen der russischen Sicherheitskräfte auf die Bevölkerung gerech-
net“ (a. a. O., S. 3). Schließlich heißt es im Entscheiderbrief (ebd.) zur Weiter-
flucht tschetschenischer Flüchtlinge von Polen nach Deutschland: „In Polen er-
halten Asylbewerber ungeachtet ihres asylrechtlichen Status nach einem Jahr
keine staatliche Unterstützung mehr“.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele der in den Jahren 2012 und 2013 eingereisten russischen Asyl-
suchenden stammten nach Kenntnis der Bundesregierung aus Tschetschenien
oder anderen Teilen des Nordkaukasus, und was lässt sich Näheres über die
Herkunft, Altersstruktur und das Geschlecht dieser Asylsuchenden sagen?

2. Welche Gründe werden aktuell von den russischen, besonders tschetscheni-
schen, Asylsuchenden im Besonderen vorgetragen (soweit keine statistische
Übersicht existiert, bitte kursorische Auflistung, insbesondere zu ge-
schlechtsbezogener Angst vor Verfolgung)?
3. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung aktuell zur Sicherheitslage in
Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien?

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4. Was ist der Bundesregierung zum Ausmaß von physischen Misshandlungen
und Folter mit Strom bei Inhaftierungen durch tschetschenische Sicherheits-
kräfte und Strafverfolgungsbehörden bekannt?

5. Was ist der Bundesregierung zum Ausmaß von Traumatisierungen durch
Folter und Misshandlung unter den tschetschenischen Asylsuchenden be-
kannt?

6. Was ist der Bundesregierung zu Klagen tschetschenischer Asylsuchender,
die unter Traumatisierungen leiden, in Polen aber keine angemessenen
Aufnahmebedingungen vorfinden, bekannt (bis zu zwölf Monate Inhaftie-
rung in Aufnahmezentren, prekäre Lebensbedingungen, Familientrennung,
kein Zugang zu psychologischer Behandlung selbst nach Anerkennung als
Schutzberechtigtem bzw. Schutzberechtigter, vgl. Bericht auf www.proasyl.de)
und deshalb in die Bundesrepublik Deutschland oder andere Staaten der
Europäischen Union weiterflüchten?

7. Welche Fälle sind der Bundesregierung bekannt, in denen das BAMF zur
Durchführung eines Asylverfahrens trotz Zuständigkeit Polens nach der
Dublin-Verordnung durch Gerichtsentscheidungen verpflichtet wurde, etwa
aufgrund der oben genannten prekären Aufnahmebedingungen in Polen
oder aus anderen humanitären Gründen?

8. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zur Gefährdungslage von
Personen, die einer der von „Memorial“ (siehe Vorbemerkung der Fragestel-
ler) beschriebenen Gruppen angehören (bitte einzeln darstellen)?

9. Inwieweit wird insbesondere die Gefährdung von „Rückkehrern“ in die Ent-
scheidung über Asylanträge durch die deutschen Behörden einbezogen?

Wie stellt die Bundesregierung sicher, dass in die Russische Föderation ab-
geschobene abgelehnte Asylsuchende in Regionen oder Städten außerhalb
des Nordkaukasus verbleiben können und nicht aufgrund tschetschenischer
Fahndungsersuchen oder Haftbefehle nach Tschetschenien überstellt wer-
den?

10. Was ist der Bundesregierung zu den in der Vorbemerkung der Fragesteller
wiedergegebenen Gerüchten bekannt, in Tschetschenien sei verbreitet wor-
den, Asylsuchende erhielten in Deutschland ein „Begrüßungsgeld“ von
4 000 Euro oder Ähnliches?

Wer ist nach Kenntnissen der Bundesregierung Urheber solcher Gerüchte?

11. Kann die Bundesregierung die Aussagen des zitierten Artikels in der Tages-
zeitung „DIE WELT“ bestätigen, unter den russisch-tschetschenischen
Asylsuchenden befände sich eine Reihe von Personen, die der Führung des
„Kaukasischen Emirats“ zuzurechnen seien (bitte ausführen)?

12. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zu den deutschlandbezoge-
nen Aktivitäten des „Kaukasischen Emirats“ und weiterer Gruppierungen
aus dem Kaukasus, die dem Djihadismus oder der organisierten Kriminalität
zuzurechnen sind?

13. Welche Formen der Zusammenarbeit oder des Informationsaustauschs be-
stehen zwischen deutschen und russischen Sicherheitsbehörden und Nach-
richtendiensten in Bezug auf die oben genannten Aktivitäten?

14. Wie viele russische Staatsangehörige werden von den Sicherheitsbehörden
in der Bundesrepublik Deutschland als „Gefährder“ eingestuft, und wie
viele von ihnen sind Asylbewerber, abgelehnte Asylbewerber oder genießen
einen Schutzstatus?

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15. Hält die Bundesregierung ein generelles Misstrauen gegenüber der Gruppe
der Asylsuchenden aus Tschetschenien aufgrund von Sicherheitsbedenken
für gerechtfertigt oder für unbegründet (bitte begründen und ausführen)?

16. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zu dem in dem Artikel der
Tageszeitung „DIE WELT“ vom 8. August 2013 zitierten Fall eines russi-
schen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft, der anlässlich des Be-
suchs des US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama in Berlin in Ge-
wahrsam genommen worden sein soll?

17. Welche sonstigen sicherheitserheblichen Erkenntnisse und Einschätzungen
hat die Bundesregierung zu den in Deutschland lebenden Tschetschenen,
und erwartet sie eine Änderung der Sicherheitslage im Hinblick auf die
kommenden Olympischen Winterspiele in Sotschi (ebenfalls Kaukasus-Re-
gion)?

18. Welche konkreten Belege oder Anhaltspunkte hat die Bundesregierung für
ihre auf Bundestagsdrucksache 17/13636 zu Frage 16a geäußerte Vermu-
tung: „Die Entwicklung deutet nach Auffassung des Bundesamtes für Mi-
gration und Flüchtlinge darauf hin, dass insbesondere die in Deutschland
gewährten Sozialleistungen und eine lange Verfahrensdauer im Asylverfah-
ren wesentliche Pull-Faktoren sind“?

a) Stieg die Zahl der Asylsuchenden aus Russland/Tschetschenien in einem
zeitlichen Zusammenhang zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zur Höhe der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz im
Sommer 2012?

b) Wie lange war die Verfahrensdauer im Asylverfahren bei russischen/
tschetschenischen Asylsuchenden zu dem Zeitpunkt, als deren Zahl erst-
mals deutlich anstieg, in Bezug auf welche Herkunftsländer gab es ähn-
liche Verfahrensdauern, und warum stieg bei diesen die Zahl der Asyl-
gesuche nicht im gleichen Maße an, wenn die Verfahrensdauer ein
wesentlicher Pull-Faktor sein soll?

c) Gibt es Belege für die Annahme der Bundesregierung aufgrund von ent-
sprechenden Angaben von Asylsuchenden aus Russland/Tschetschenien,
oder weisen diese vielmehr als Grund für ihre Flucht auf die Gefahr einer
Verfolgung und von Menschenrechtsverletzungen und die allgemeine Si-
cherheitslage in Tschetschenien hin?

19. Wie bewertet es die Bundesregierung, und welche politischen und rechtli-
chen Schlussfolgerungen zieht sie hieraus, dass nach Angaben des BAMF,
Asylbewerber in Polen „ungeachtet ihres asylrechtlichen Status nach einem
Jahr keine staatliche Unterstützung mehr“ erhalten (siehe Vorbemerkung
der Fragesteller)?

Berlin, den 5. September 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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