BT-Drucksache 17/1434

Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf verbessern - Pflegende Bezugspersonen wirksam entlasten und unterstützen

Vom 21. April 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1434
17. Wahlperiode 21. 04. 2010

Antrag
der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, Katja Dörner,
Maria Klein-Schmeink, Tabea Rößner, Dr. Harald Terpe, Kerstin Andreae, Ekin
Deligöz, Kai Gehring, Katrin Göring-Eckardt, Ulrike Höfken, Markus Kurth, Monika
Lazar, Beate Müller-Gemmeke, Dr. Hermann Ott, Brigitte Pothmer, Christine Scheel,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf verbessern – Pflegende Bezugs-
personen wirksam entlasten und unterstützen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Im Zuge des demografischen Wandels wird die Zahl Pflegebedürftiger massiv
steigen. Die Bewältigung der pflegerischen Versorgung heute wie auch in Zu-
kunft wird daher wesentlich von der Bereitschaft und Möglichkeit von Ange-
hörigen/Bezugspersonen abhängen, sich direkt oder indirekt an der Versorgung
pflegebedürftiger Familienmitglieder oder anderer nahestehender Personen zu
beteiligen. Zugleich erlebt unsere Gesellschaft jedoch einen tiefgreifenden Wan-
del der Erwerbs- und Familienstrukturen, der die ohnehin mangelhafte Verein-
barkeit von Pflege, Familie und Beruf erschwert.

Deshalb müssen bestehende Angebote zur Unterstützung und Entlastung sowohl
von erwerbstätigen als auch nicht erwerbstätigen pflegenden Angehörigen/Be-
zugspersonen deutlich gestärkt bzw. neue geschaffen werden. Notwendig ist ein
pflegepolitisches Gesamtkonzept, das insbesondere die Bedingungen für Ange-
hörige/Bezugspersonen pflegebedürftiger Menschen verbessert und ambulante
Versorgungsstrukturen konsequent fördert. Es greift zu kurz, allein Maßnahmen
zur besseren Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu diskutieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● eine maximal dreimonatige Pflegezeit einzuführen, die vorrangig der Orga-
nisation der notwendig gewordenen Pflege oder der Übernahme einer Sterbe-
begleitung dient. Die Pflegezeit geht mit einer steuerfinanzierten Lohnersatz-
leistung in Höhe von 50 Prozent des Nettogehalts – mindestens 300 Euro,
maximal 1 000 Euro – einher. Anspruch auf die Pflegezeit haben nach einem
erweiterten und modernisierten Familienbegriff auch Personen ohne ver-
wandtschaftliche Beziehung;
● das Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) so weiterzuentwickeln, dass ein
Rückkehrrecht für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die Arbeitszeit
besteht, die für sie vor einer Arbeitszeitreduzierung, zum Beispiel bedingt
durch eine Pflegesituation, galt;

● die Pflegeberatung (§ 7a SGB XI) und die Pflegestützpunkte (§ 92c SGB XI)
weiterzuentwickeln und allen Pflegeversicherten einen Anspruch auf indivi-

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duelle Pflege- und Wohnberatung, Aufklärung, Unterstützung und Beglei-
tung durch ein neutrales und unabhängiges Case Management (Fall-, Assis-
tenzmanagement) zur gewährleisten.

Flankierend zu den gesetzgeberischen Maßnahmen

● ist das Pflegezeitgesetz hinsichtlich seiner Anwendungsregelungen, Inan-
spruchnahme und Wirksamkeit wissenschaftlich auszuwerten, um die kon-
krete Entlastungswirkung für pflegende Angehörige sowie Verbesserungs-
bedarfe festzustellen;

● sind Forschungsprojekte zur Entwicklung und Erprobung individueller, kurz-
und langfristig vereinbarter, betrieblicher Arbeitszeitmodelle zur Vereinbar-
keit von Pflege und Beruf zu fördern und bei Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern bekannt zu machen;

● sind Förder- und Anreizstrukturen für mehr bürgerschaftliches Engagement
sowie für den qualitativen und quantitativen Ausbau komplementärer und
haushaltsnaher Dienstleistungen im Bereich der Pflege zu schaffen;

● ist die Koordination und Kooperation der verschiedenen Akteure im Bereich
der Pflege deutlich zu verbessern;

● sind entlastende ambulante Leistungsangebote, wie die Tages-, Nacht- und
Kurzzeitpflege, bekannter zu machen, auszubauen und ihre Finanzierung zu
verbessern und neue Entlastungsangebote zu entwickeln;

● sind alternative Wohn- und Versorgungsformen, die stärker an den individu-
ellen Bedürfnissen der Betroffenen orientiert sind, wie Haus- und Wohnge-
meinschaften, zu fördern und auszubauen.

Berlin, den 20. April 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Eine wesentliche Aufgabe einer Pflegereform muss die Stärkung und Entlastung
derjenigen sein, die bereit sind, Verantwortung für pflegebedürftige Menschen zu
übernehmen. Pflegende Bezugspersonen fühlen sich oft gesellschaftlich ausge-
grenzt und isoliert sowie körperlich und psychisch überfordert, was nicht selten
zu massiven Gesundheitsstörungen führt. Hierdurch kann es vermehrt zu Ver-
sorgungsfehlern kommen genauso wie zu Gewalt in der Pflegebeziehung. In der
Folge einer solchen Belastungskette zerbrechen nicht selten familiäre Hilfe- und
Beziehungssysteme. Die mangelhafte Vereinbarkeit von Pflege und Beruf führt
überdies dazu, dass – in der Regel weibliche – Erwerbstätige ihre Berufstätigkeit
reduzieren oder ganz aufgeben. Heute sind 73 Prozent der Pflegenden Frauen und
tragen damit die Hauptlast in der Pflege (BMFSFJ, 2005, Gender Datenreport).
Ein verändertes Rollenverständnis, der steigende Erwerbsanteil von Frauen, die
zunehmende Mobilität und sich wandelnde Familienstrukturen werden und müs-
sen jedoch dazu führen, dass sich diese Geschlechterrelation verändert. Es sind
daher tragfähige und moderne Konzepte nötig, um die Bereitschaft zur Über-
nahme von Pflegeaufgaben bei Männern wie Frauen gleichermaßen zu fördern.

Mit ihrem Modell einer Familienpflegezeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Dr. Kristina Schröder einen Vorschlag zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf
gemacht, der diesen Ansprüchen nicht genügt und wiederum insbesondere

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Frauen benachteiligen würde. Sofern sich das Modell überhaupt als praxistaug-
lich erweist, kann es allenfalls ein kleiner Baustein in einem Gesamtkonzept zur
Unterstützung pflegender Angehöriger/Bezugspersonen sein.

Es sollten verstärkte Anstrengungen unternommen werden, verschiedene fle-
xible Arbeitszeitmodelle zu entwickeln, die u. a. für die Organisation oder Über-
nahme von Pflege Raum bieten. Dabei sollten einerseits Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Möglichkeit erhal-
ten, individuelle Lösungen auf betrieblicher Ebene zu finden – unter Berück-
sichtigung maximaler Rechtssicherheit und -klarheit der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Dafür ist die Weiterentwicklung des Teilzeit- und Befris-
tungsgesetzes notwendig. Es eröffnet derzeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer zwar das Recht auf die Reduzierung ihrer Arbeitszeit. Die Rückkehr auf
die vor der Reduzierung geltende Arbeitszeit ist jedoch nicht möglich. Das muss
sich ändern.

Die hohe Doppelbelastung pflegender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirkt
sich auch negativ auf die Unternehmen in Form steigender Fehlzeiten, abneh-
mender Produktivität und mangelhafter Planungssicherheit aus. Studien zeigen
außerdem, dass die Mehrzahl der Betriebe bisher zu wenig über das Problem in-
formiert ist. Es liegt also auch im Eigeninteresse der Arbeitgeberseite, betroffe-
nen Beschäftigten Entlastungsangebote zu unterbreiten und sie aktiv zu unter-
stützen. Bereits existierende Vorhaben bestätigen dies. Beispielsweise hat der
Autohersteller Ford in Köln 2003 eine Mitarbeitergruppe „Arbeiten & Pflegen“
ins Leben gerufen und inzwischen ein Lotsensystem und einen Notfallplan für
plötzliche Pflegefälle entwickelt. Auch andere Unternehmen, wie BASF, bieten
ihren Beschäftigten zahlreiche Angebote zur Bewältigung der Doppelbelastung
von Pflege und Beruf. Solche Ansätze sollten daher geprüft und gegebenenfalls
auch anderen, insbesondere kleinen und mittelständischen Betrieben, bekannt
und zugänglich gemacht werden.

Während der im Antrag vorgeschlagenen Pflegezeit soll es natürlich möglich
sein, selbst Pflegeaufgaben zu übernehmen. Im Vordergrund soll jedoch vor
allem die Zeit zur Organisation der in der Regel viele Jahre andauernden Pflege-
situation und eigener Entlastungsangebote für die pflegenden Angehörigen bzw.
Bezugspersonen stehen. All dies setzt jedoch ein ausreichendes Angebot bezahl-
barer ambulanter Unterstützungs- und Entlastungsangebote voraus und eine
Politik, die die Rahmenbedingungen für eine solche Versorgungslandschaft
schafft.

Damit eine Pflegezeit nicht nur denjenigen zugute kommt, die sich einen mehr-
monatigen Verzicht auf ein Erwerbseinkommen leisten können, wie es nach dem
geltenden Pflegezeitgesetz (Pflege-ZG) der Fall ist, muss während der Pflege-
zeit eine Lohnersatzleistung gezahlt werden. Diese sollte aus Steuermitteln
finanziert werden. Der Anspruch gilt im Gegensatz zum geltenden Pflege-ZG
unabhängig von der Betriebsgröße und ist mit vollem Kündigungsschutz und
Rückkehrrecht auf den gleichen Arbeitsplatz zu denselben Arbeitsbedingungen
und derselben wöchentlichen Arbeitszeit verbunden. Zudem muss das so refor-
mierte Pflegezeitgesetz von Beginn an wissenschaftlich begleitet und evaluiert
werden, um die konkrete Entlastungswirkung für pflegende Angehörige sowie
Verbesserungsbedarfe festzustellen. Auch dies ist beim geltenden Pflege-ZG
nicht der Fall. So musste die Bundesregierung auf Nachfrage einräumen, dass
über die Inanspruchnahme des geltenden Pflege-ZG bisher nichts bekannt ist.
Seine praktische Wirkung kann daher nicht bewertet werden (vgl. Bundestags-
drucksachen 17/584, S. 28 f.; 17/757, S. 16).

Aufgrund der demografischen Entwicklung und anderer gesellschaftlicher
Wandlungsprozesse werden zukünftig immer weniger Menschen auf langfris-

tige und verlässliche Hilfe und Unterstützung aus traditionellen Familiennetz-
werken zurückgreifen können. Dafür aber haben sich in den letzten Jahrzehnten

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immer vielfältigere, alternative Lebensformen neben den klassischen Familien-
beziehungen entwickelt. Wir setzen uns deshalb für eine erweiterte Definition
des Familienbegriffs ein, der alle selbst gewählten Familien- und Lebensformen
anerkennt, die Verantwortung für einen pflegebedürftigen Menschen überneh-
men, unabhängig vom Verwandtschaftsgrad.

Der deutsche Pflegemarkt erschwert in seiner heutigen Form den Pflegebedürf-
tigen und ihren Bezugspersonen oftmals die notwendige Orientierung, um ein
gelingendes, tragfähiges und individuell passgenaues Pflegearrangement zu-
sammenzustellen. Die Betroffenen brauchen Ansprechpartnerinnen und An-
sprechpartner, die ihnen fachlich qualifiziert zur Seite stehen und denen sie
uneingeschränkt vertrauen können. Deshalb muss diese Beratung dem Grund-
satz der Neutralität und Unabhängigkeit folgen. Das gilt nicht nur für den Be-
reich der allgemeinen Pflege- und Wohnberatung, sondern auch und vor allem
für den Bereich der Einzelfallberatung. Die mit dem Pflege-Weiterentwick-
lungsgesetz (PfWG) in der 16. Wahlperiode geschaffenen Strukturen der Pflege-
beratung (§ 7a SGB XI) und Pflegestützpunkte (§ 92c SGB XI) bieten dazu
durchaus gute Ansätze, erfüllen jedoch die zwingenden Kriterien der Neutralität
und Unabhängigkeit nicht annähernd. Sie müssen daher optimiert und weiter-
entwickelt werden. Beratung, Unterstützung und Begleitung sollten sich am
Konzept des Case Managements (Fall-, Assistenzmanagements) nach der Defi-
nition der Deutschen Gesellschaft für Case und Care Management orientieren.
Damit Fall-, Assistenzmanagerinnen und - manager Leistungsangebote ver-
netzen, bündeln und koordinieren können, benötigen sie eine regionale Versor-
gungsstruktur, in die alle an der Pflege beteiligten Akteure verpflichtend und
gleichberechtigt eingebunden sind.

Bestehende, aber unzureichend in die Breite getragene Angebote, wie beispiels-
weise Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege müssen daher ausgebaut, öffentlich
bekannter und gegebenenfalls auch finanziell gestärkt werden. Neben der Ent-
wicklung und Förderung haushaltsnaher und komplementärer Dienstleistungen
sowie der Förderung von Selbsthilfegruppen sollten zudem Konzepte für neu
organisierte, solidarische Unterstützungssysteme entwickelt werden. So muss
nicht zuletzt mit Blick auf die wachsende Zahl alleinlebender Pflegebedürftiger
verstärkt daraufhin gewirkt werden, Pflege in Form eines Pflege- und Hilfe-
Mixes zu konzipieren. Das beinhaltet die Verbreiterung des bisherigen Hilfe-
und Unterstützungsnetzes. Informelle, professionelle, ehrenamtliche und nied-
rigschwellige Hilfen müssen zusammenfließen und sich ergänzen. Dieser Mix
zielt darauf ab, die Aufgaben und die Verantwortung im Pflegefall auf mehrere
Schultern zu verteilen und damit den Einzelnen zu entlasten. Hier bedarf es deut-
licher Anstrengungen, zivilgesellschaftliche Strukturen zu fördern und rechtliche
Hemmnisse abzubauen. Zudem müssen die verschiedenen Hilfen der verschie-
denen Akteure besser koordiniert und die Kooperation zwischen ihnen optimiert
werden. Hierdurch können Synergieeffekte erreicht und Wirtschaftlichkeits-
reserven erschlossen werden.

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