BT-Drucksache 17/14307

Soziale Lage und Lebensqualität in ländlichen Räumen

Vom 28. Juni 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/14307
17. Wahlperiode 28. 06. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann, Karin Binder,
Katja Kipping, Katrin Kunert, Sabine Leidig, Kornelia Möller, Jens Petermann,
Ingrid Remmers, Kersten Steinke, Sabine Stüber, Johanna Voß
und der Fraktion DIE LINKE.

Soziale Lage und Lebensqualität in ländlichen Räumen

Bis vor knapp zweihundert Jahren waren ländliche Räume in Mitteleuropa den
Städten an Bevölkerung und Wirtschaftskraft deutlich überlegen. Heute hin-
gegen sind ländliche Räume meist naturnahe, von Land- und Forstwirtschaft
geprägte Siedlungs- und Landschaftsräume mit geringer Bevölkerungs- und
Bebauungsdichte sowie meist niedriger Wirtschaftskraft. Die Dichte sozialer
Netzwerke zwischenmenschlicher Beziehungen ist meist höher als in Städten.
Aufgrund dieser Strukturen werden objektive Versorgungsdefizite gar nicht als
solche wahrgenommen. Dennoch vollzieht sich der soziale Wandel auch in
ländlichen Regionen.

Der ländliche Raum im engeren Sinne (ohne „Zwischenräume“) nimmt 58 Pro-
zent des Bundesgebiets ein. Hier lebt ein Viertel der Bevölkerung.

Oft wird in der Politik und Wissenschaft auch von „strukturschwachen Regio-
nen“ gesprochen. Meist ist der Begriff der Strukturschwäche an Kriterien wie
Wanderungssaldo, Infrastrukturausstattung, Arbeitsplätze und Sozialprodukt*

gebunden.

Das Grundgesetz (GG) verpflichtet den Gesetzgeber in Artikel 72 Absatz 2 zur
Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet. Dies ist auch
erklärtermaßen die politische Leitvorstellung der Bundesregierung (siehe Fort-
schrittsbericht der Bundesregierung zur Entwicklung ländlicher Räume auf Bun-
destagsdrucksache 17/8499, im Folgenden: „Fortschrittsbericht“). Abgesehen
von Stadt-Land-Unterschieden unterscheiden sich auch die Lebensverhältnisse
in den ländlichen Räumen untereinander. Auf der einen Seite gibt es florierende
Räume im Süden und Westen Deutschlands, während ländliche Räume in an-
deren Regionen ausbluten. Schrumpfung bedeutet dabei nicht nur die sinkende
Zahl von Einwohnerinnen und Einwohnern, sondern vielmehr auch einen Rück-
gang an Infrastrukturangeboten, Kaufkraft und regionalem Entwicklungspoten-
tial.

Für viele Menschen sind das niedrige Lohnniveau und das mangelhafte

Arbeitsplatzangebot die wichtigsten Gründe, ländliche Räume zu verlassen.
Gerade in der Land- und Forstwirtschaft sind Niedriglöhne gang und gäbe.
Aber auch in anderen Bereichen sind die Löhne und Gehälter meist deutlich
niedriger als in den Ballungsräumen. In ländlichen Räumen gibt es in der Regel

* Henkel, Gerhard, 2004. Der Ländliche Raum. Gegenwart und Wandlungsprozesse seit dem 19. Jahr-
hundert in Deutschland. Berlin und Stuttgart: Gebrüder Borntraeger, 34f.

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nicht nur weniger soziale Schichten – das gesamte „Schichtniveau“ liegt tiefer.
In manchen Regionen kann lediglich der Tourismus als Alternative zur wirt-
schaftlichen Verarmung und Entsiedlung angesehen werden. Aber auch der
Mangel an „weichen Standortfaktoren“ – z. B. kulturelles Leben, Angebote des
öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) – mag schließlich für erhebliche
Teile der Bevölkerung Mitursache sein, ländliche Räume zu verlassen bzw. sich
dort nicht anzusiedeln.

Laut einer Erhebung des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-
Brandenburg e. V. von 2009 sehen 44 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in
Städten mit über 100 000 Einwohnerinnen und Einwohnern Mängel beim En-
gagement der Bundesregierung für die Gestaltung der Lebensbedingungen von
Familien. In Gemeinden mit weniger als 1 000 Einwohnerinnen und Einwoh-
nern sind dies 55 Prozent, was auch von Problemen bei Daseinsvorsorge und
Infrastruktur zeugt.

Diese Probleme sind Folge der mittlerweile chronischen Unterfinanzierung der
Kommunen. Bund und Länder wälzten in den vergangenen Jahren immer mehr
Kosten auf die kommunale Ebene ab. Hochverschuldete Gemeinden sind oft
keine Seltenheit – mit verheerenden Folgen für den ländlichen Raum. Infra-
struktur, Dienste der sozialen Vorsorge und kulturelle Güter werden zunehmend
privatisiert oder ganz abgebaut. Gemeindevertreterinnen und -vertreter sind oft
nur noch Verwalterinnen und -verwalter des Notstands. Oft hat zwischen den
Kommunen daher ein Konkurrenzkampf um Investoren und Fördermittel be-
gonnen, der für die einzelne Kommune „betriebswirtschaftlich“ sinnvoll sein
kann, für den ländlichen Raum „volkswirtschaftlich“ aber von Nachteil ist.

Der Erhalt des ländlichen Raumes in seiner spezifischen Naturbeschaffenheit
und Besiedlungsweise ist ein soziokulturelles Bedürfnis der ganzen Gesell-
schaft und insbesondere der Landbevölkerung selbst.

Die Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag zur Stärkung länd-
licher Räume bekannt. Im Agrarpolitischen Bericht 2011 der Bundesregierung
(Bundestagsdrucksache 17/5810) heißt es ebenso wie im „Fortschrittsbericht“,
die ökonomischen, sozialen und ökologischen Aspekte seien mehr als bisher auf
die spezifischen regionalen Erfordernisse zu konzentrieren.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hat sich das Einkommensniveau in ländlichen Räumen in den Jahren
1990 bis 2012 im Vergleich zu urbanen Räumen entwickelt (bitte nach Bun-
desländern aufgliedern)?

2. Wie haben sich die Armutsrisiken gemäß EU-Standard (60 Prozent des
mediangemittelten Nettoäquivalenzeinkommens, neue OECD-Äquivalenz-
skala) zwischen 1990 und 2012 in ländlichen Räumen im Vergleich zu ur-
banen Räumen verändert?

3. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Entwicklung von Un-
ternehmensgründungen zwischen 1990 und 2012 in ländlichen Räumen?

4. Wie bewertet die Bundesregierung Verlauf und Ergebnisse der im „Fort-
schrittsbericht“ aufgeführten Maßnahmen zur Fachkräftesicherung?

5. In welchen ländlichen Räumen gibt es einen Mangel an nachhaltig existenz-
sichernden Arbeitsplätzen und zukunftsträchtigen Ausbildungsplätzen, und
worin liegen die Ursachen dafür?

6. Wie hat sich die Arbeitsplatzsituation (sozialversicherungspflichtige Be-
schäftigung) in ländlichen Räumen zwischen 1990 und 2012 im Vergleich

zu urbanen Räumen entwickelt (bitte nach Bundesländern und getrennt nach
Geschlecht aufgliedern)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/14307

7. Wie hat sich die Arbeitsplatzsituation (prekäre Beschäftigung: Leiharbeit
und Minijobs, befristete Arbeitsverträge) in ländlichen Räumen zwischen
1990 und 2012 im Vergleich zu urbanen Räumen entwickelt (bitte nach
Bundesländern und getrennt nach Geschlecht aufgliedern)?

8. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung vom Umfang der Tarifbindung
der sozialversicherungspflichtigen Tätigkeiten in den ländlichen Räumen,
und welche sind die zehn am meisten vertretenen Tätigkeitsbranchen?

9. Welche Veränderung hat es in der Rangfolge der Tätigkeitsbranchen (An-
teile von Land- und Forstwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen)
zwischen 1990 und 2012 bezüglich des sozioökonomischen Strukturwan-
dels gegeben (bitte mit detaillierten Informationen zur Anzahl der Betriebe,
der Beschäftigten und deren Einkommen)?

10. In welchen Berufen macht sich in den ländlichen Räumen ein Fachkräfte-
mangel bemerkbar, und wie hat der sich zwischen 1990 und 2012 zahlen-
mäßig entwickelt (nach Bundesländern)?

11. Kann man generell von einem Fachkräftemangel sprechen, oder existiert
dieser Mangel nur für bestimmte Alterskohorten?

12. Welche Kenntnisse besitzt die Bundesregierung über die Anzahl bildungs-
ferner Familien in ländlichen Räumen (im Vergleich zu städtischen Räu-
men und nach Bundesländern aufgliedern)?

13. Welche Konzepte und Strategien verfolgt die Bundesregierung, um mög-
lichst vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen im ländlichen Raum
eine Berufsausbildung zu ermöglichen?

14. Inwieweit ist es gelungen, mit Hilfe der Bund-Länder-Gemeinschaftsauf-
gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ in den ländlichen
Räumen gewerbliche Investitionen, wirtschaftsnahe Infrastrukturmaßnah-
men und Aktivitäten zur Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen zu
fördern?

15. Wie hat sich der Anteil von Arbeitslosengeld-II-Bezieherinnen und -bezie-
hern in ländlichen Räumen seit 2005 gegenüber allen Erwerbslosen und
gegenüber allen Bewohnerinnen und Bewohnern entwickelt (bitte nach
Geschlecht, Bundesländern und Landkreisen aufgliedern)?

16. Wie hoch sind die als angemessen anerkannten und die tatsächlich ausge-
zahlten Kosten der Unterkunft und Heizung pro Person bzw. „Bedarfsge-
meinschaft“ (nach jeweiligen Typen der Bedarfsgemeinschaften) in den
ländlichen Räumen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II)
(bitte nach Bundesländern und Landkreisen aufgliedern)?

17. Wie hat sich der Anteil von Beziehenden von Leistungen nach dem
SGB XI (bitte getrennt nach Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsiche-
rung im Alter und bei Erwerbsminderung, dort auch getrennt für Ältere und
Erwerbsgeminderte) in ländlichen Räumen seit 2005 entwickelt (bitte nach
Geschlecht, Bundesländern und Landkreisen aufgliedern)?

18. Wie hoch sind die als angemessen anerkannten und die tatsächlich aus-
gezahlten Kosten der Unterkunft und Heizung pro Person bzw. „Bedarfs-
gemeinschaft“ (nach jeweiligen Typen der Bedarfsgemeinschaften) in den
ländlichen Räumen nach dem SGB XII (bitte nach Bundesländern und
Landkreisen aufgliedern)?

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19. Wie hoch ist die Anzahl der Widersprüche im Bereich des SGB II und im
Bereich des SGB XII in den Jahren 2005 bis 2012 im ländlichen Raum im
Vergleich zum urbanen Raum und zur Bundesrepublik Deutschland ins-
gesamt (prozentual zur Anzahl aller Leistungsbezieherinnen und -bezieher
und aufgeschlüsselt nach Landkreisen und Städten), die für die Wider-
spruchführenden erfolgreich waren?

20. Wie hoch ist die Anzahl der Sanktionen gesamt nach § 31 und § 32 SGB II
in den Jahren 2005 bis 2012 im ländlichen Raum im Vergleich zum urba-
nen Raum und zur Bundesrepublik Deutschland insgesamt (prozentual zur
Anzahl aller Leistungsbezieherinnen und -bezieher und aufgeschlüsselt
nach Landkreisen und Städten)

21. Wie hoch ist die Anzahl der Leistungseinschränkungen gesamt nach § 26
und § 39 SGB XII sowie die Anzahl der Leistungsverwehrung nach § 41
Absatz 3 SGB XII in den Jahren 2005 bis 2012 im ländlichen Raum im
Vergleich zum urbanen Raum und zur Bundesrepublik Deutschland ins-
gesamt (prozentual zur Anzahl aller Leistungsbezieherinnen und -bezieher
und aufgeschlüsselt nach Landkreisen und Städten)?

22. Wie hoch ist die Anzahl der Widersprüche gegen Sanktionen im SGB II und
Leistungseinschränkungen bzw. Leistungsverwehrungen im SGB XII in
den Jahren 2005 bis 2012 im ländlichen Raum im Vergleich zum urbanen
Raum und zur Bundesrepublik Deutschland insgesamt (prozentual zur An-
zahl aller Leistungsbezieherinnen und -bezieher und aufgeschlüsselt nach
Landkreisen und Städten), die für die Widerspruchführenden erfolgreich
waren?

23. Welche spezifischen sozialen Risiko- bzw. Gefährdungslagen kann die
Bundesregierung für ländliche Räume benennen, und welche Expertisen
hat die Bundesregierung zu diesem Thema gefördert oder initiiert, und wel-
che sonstigen Untersuchungen zum Thema sind der Bundesregierung be-
kannt?

24. Welche Modellvorhaben der Bundesregierung zur Entwicklung der länd-
lichen Räume wurden in den Jahren 1990 bis 2012 begonnen und umge-
setzt (bitte alle Angaben nach Bundesländern und Gebietskörperschaften)?

a) Wie viele Mittel wurden dafür eingesetzt?

b) Über welche Zeiträume liefen die Modellvorhaben?

c) Konnten in den ländlichen Räumen, in denen Modellvorhaben umge-
setzt wurden, positive Entwicklungseffekte in Bezug auf die Entwick-
lung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt erzielt werden?

25. Wie bewertet die Bundesregierung das Ausmaß der Nutzung des „Mikro-
kreditfonds Deutschland“ durch Kleinunternehmen in ländlichen Räumen?

26. Vor dem Hintergrund, dass im „Fortschrittsbericht“ davon die Rede ist, dass
der Mikrokreditfonds Anfang 2012 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt
gemacht werden sollte, in welcher Form und mit welchen Ergebnissen ist
dies erfolgt?

27. Welche positiven Effekte hätte nach Ansicht der Bundesregierung die Ein-
führung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes für die Lebens-
qualität im ländlichen Raum?

28. Welche Modellversuche zur Einführung eines Bedingungslosen Grundein-
kommens sind der Bundesregierung weltweit bekannt?

a) Wie schätzt die Bundesregierung deren Ergebnisse bezüglich einer He-

bung der Lebensqualität in ländlichen Räumen ein?

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b) Wie schätzt die Bundesregierung die Übertragbarkeit deren Ergebnisse
auf Deutschland ein?

c) Beabsichtigt die Bundesregierung Modellprojekte in ländlichen Räu-
men Deutschlands zu initiieren oder zu unterstützen, und wenn nein,
warum nicht?

29. Wie bewertet die Bundesregierung so genanntes zinsfreies „Regionalgeld“,
wie zum Beispiel den Chiemgauer und zahlreiche weitere Regionalgelder?

30. Hat der Gebrauch von Regionalgeld das Potenzial, Handel und Wirtschaft
in ländlichen Räumen zu stärken?

Berlin, den 26. Juni 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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