BT-Drucksache 17/13230

Versorgungsqualität und Therapiefreiheit in der Substitutionsbehandlung stärken

Vom 24. April 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/13230
17. Wahlperiode 24. 04. 2013

Antrag
der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink,
Elisabeth Scharfenberg, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, Ingrid Hönlinger,
Lisa Paus, Brigitte Pothmer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Versorgungsqualität und Therapiefreiheit in der Substitutionsbehandlung stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Substitutionsbehandlung hat sich zu einer erfolgreichen Behandlungsform
opiatabhängiger Patientinnen und Patienten entwickelt. Mittlerweile sind mehr
als 76 200 Menschen in Behandlung (Stand: 2011). Drogentodeszahlen und
HIV-Infektionsraten bei Opiatabhängigen konnten durch diese Behandlungs-
form deutlich reduziert werden.

Der bestehende Rechtsrahmen der Substitutionsbehandlung, insbesondere die
Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV), erweist sich zuneh-
mend als hinderlich, um die gesundheitliche Versorgung von Opiatabhängigen
sicherzustellen. Dies führt nicht nur zu einer Beeinträchtigung der Versorgungs-
qualität, es werden überdies auch die Ärztinnen und Ärzte abgeschreckt, die
Substitutionsbehandlung anzubieten. So gibt es zwar eine hinreichende Zahl
von Ärztinnen und Ärzten mit einer entsprechenden suchtmedizinischen Zu-
satzqualifikation. Trotz einer seit Jahren ansteigenden Zahl von Patientinnen
und Patienten stagniert jedoch die Zahl tatsächlich substituierender Ärztinnen
und Ärzte.

Anders als etwa in vergleichbaren europäischen Ländern (z. B. England,
Belgien, Frankreich, Schweiz) werden Ärztinnen und Ärzten in Deutschland
unter anderem die Indikation und Kontraindikation der Behandlung, die Art der
Medikation, die Dosierung, die Applikation, die Behandlungs- und Verschrei-
bungsfrequenz, die Art der Begleitbehandlung, der Behandlungsabbruch bei
Non-Compliance und sogar das Behandlungsziel in der BtMVV vorgegeben. Es
ist ihnen überdies untersagt, das Medikament selbst langjährig stabilen Patien-
tinnen und Patienten für einen bestimmten Zeitraum mitzugeben.

Bei keiner anderen Erkrankung greift der deutsche Gesetz- bzw. Verordnungs-
geber derartig weitreichend in die ärztliche Therapiefreiheit ein. Diese Bestim-
mungen entsprechen auch nicht mehr dem Stand der medizinischen Wissen-
schaft (vgl. Entschließung des 115. Deutschen Ärztetages). Zudem ist das in

der BtMVV enthaltene Abstinenzgebot realitätsfremd – nur ein kleiner Teil der
Opiatabhängigen erreicht überhaupt jemals die Betäubungsmittelabstinenz.
Weder von den Ärztinnen und Ärzten noch von den Patientinnen und Patienten
wird es als sinnvolles Behandlungsziel angesehen (vgl. Suchtmedizin in For-
schung und Praxis, Heft 5/2011, S. 256). Vor diesem Hintergrund haben etwa
die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin e. V., die Deutsche AIDS-Hilfe e. V.
sowie akzept e. V. Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane

Drucksache 17/13230 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Drogenpolitik im September 2012 umfassende Änderungsvorschläge zur Re-
form der BtMVV vorgelegt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, nach dem die derzeit in der BtMVV ent-
haltenen Vorgaben insbesondere zum Behandlungsziel, zur Dosierung und
Art der Medikation, zur Mitgabe des Medikaments oder dessen Verschreibung
sowie zur psychosozialen Begleitbehandlung – soweit jeweils medizinisch
geboten – zukünftig durch eine dem aktuellen Stand der medizinischen und
pharmazeutischen Wissenschaft entsprechende Behandlungsrichtlinie der
Bundesärztekammer geregelt werden;

2. bei den Ländern auf ein bedarfsgerechtes Angebot der Substitutionsbehand-
lung im Strafvollzug hinzuwirken;

3. in der Substitutionsbehandlung auf bedarfsgerechte, kooperative und sich an
anderen schweren chronischen Erkrankungen orientierende Versorgungs-
strukturen hinzuwirken.

Berlin, den 23. April 2013

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Zu Nummer 1

Die PREMOS-Studie (vgl. Suchtmedizin in Forschung und Praxis, Heft 5/2011,
S. 199 ff.) zeigt, dass die derzeitige Vorgabe der BtMVV zur Betäubungsmittel-
abstinenz für die meisten Patientinnen und Patienten überhaupt nicht erreichbar
ist. Durch eine forcierte Abstinenzorientierung steigt überdies das Mortalitätsri-
siko für die Patientinnen und Patienten und es kommt in erheblich stärkerem
Maße zu Behandlungsabbrüchen bzw. Behandlungsunterbrechungen. In der
PREMOS-Studie heißt es dazu: „Die Risiken einer sehr langfristigen bzw.
lebenslangen Substitution sind geringer als ständige Rückfälle mit dem Risiko
einer weiteren Progression des Krankheitsbildes“ (Wittchen et al.: Suchtmedi-
zin in Forschung und Praxis, Heft 5/2011, S. 292). Vor diesem Hintergrund ist
insbesondere § 5 Absatz 1 Nummer 1 BtMVV kritisch zu hinterfragen. Des
Weiteren sollte den Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit eingeräumt werden,
stabilisierten und sozial integrierten Patientinnen und Patienten, bei denen keine
medizinischen oder gesundheitlichen Ausschlussgründe dem entgegenstehen
und bei denen eine Kindeswohlgefährdung ausgeschlossen ist, die eigenverant-
wortliche Einnahme des Substituts für einen bestimmten Zeitraum zu erlauben.

Vorgaben insbesondere zum Behandlungsziel, zur Dosierung und Art der Medi-
kation, zur Mitgabe des Medikaments oder dessen Verschreibung sowie zur
psychosozialen Begleitbehandlung gehören nicht in eine strafrechtliche Rege-
lung.

Zu Nummer 2

Jede und jeder Gefangene hat während der Inhaftierung einen Anspruch auf
eine angemessene, den üblichen Standards entsprechende gesundheitliche Ver-
sorgung. Dennoch zeigen Untersuchungen, dass die Substitutionsbehandlung in

Haft derzeit nur eingeschränkt angeboten wird. So befanden sich im Jahr 2007

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/13230

nur 500 bis 700 der etwa 16 000 bis 22 000 inhaftierten Opioidkonsumentinnen
bzw. -konsumenten in einer Substitutionsbehandlung (Hönekopp, Stöver: Bei-
spiele guter Praxis in der Substitutionsbehandlung. Freiburg 2011). Dabei gibt
es überdies erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern.

Zu Nummer 3

Die Opiat- bzw. Opioidabhängigkeit ist eine schwere chronische Erkrankung,
die häufig lebenslang einen individuell hochspezialisierten Behandlungsbedarf
auslöst. Die PREMOS-Studie hat gezeigt, dass diesem Bedarf bei der Mehrzahl
der betroffenen Patientinnen und Patienten nicht entsprochen wird (vgl. Wittchen
et al.: Suchtmedizin in Forschung und Praxis, Heft 5/2011, S. 289). Vor diesem
Hintergrund empfiehlt die genannte Studie insbesondere die Angleichung der
Versorgungsstrukturen und Versorgungskonzepte in der Substitutionsbehand-
lung an die Prinzipien chronischer Erkrankungen sowie ein Modellprogramm
zur Erprobung von Kooperationsmodellen zwischen den Substitutionsstellen,
der psychosozialen Behandlung sowie Psychotherapeuten und Psychiatern.
Darüber hinaus ist die Entwicklung von evidenzbasierten Leitlinien für die
langfristige Substitutionsbehandlung bzw. von Qualitätsstandards für die psycho-
soziale Behandlung notwendig.

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