BT-Drucksache 17/12895

Haltung der Bundesregieung zum Umgang mit EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern aus Rumänien und Bulgarien

Vom 18. März 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12895
17. Wahlperiode 18. 03. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Herbert Behrens, Sevim Dag˘delen, Inge Höger,
Andrej Hunko, Dr. Lukrezia Jochimsen, Niema Movassat, Thomas Nord, Petra Pau,
Frank Tempel, Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Katrin Werner und der Fraktion
DIE LINKE.

Haltung der Bundesregierung zum Umgang mit EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern
aus Rumänien und Bulgarien

Seit einiger Zeit berichten Medien verstärkt über die Zuwanderung von EU-Bür-
gerinnen und EU-Bürgern aus Rumänien und Bulgarien, für die ab dem nächsten
Jahr die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt. In den Medien wird dabei immer
wiederkehrend am Beispiel weniger Kommunen in Deutschland – namentlich
insbesondere Berlin-Neukölln, Dortmund, Duisburg und Mannheim – sugge-
riert, aus den beiden genannten Staaten der Europäischen Union (EU) finde eine
bedrohliche Armutsmigration nach Deutschland statt.

Der Bundesminister des Innern, Dr. Hans-Peter Friedrich, hat sich mehrfach
zum Thema und zu scheinbaren klaren Lösungen geäußert: Wer nur nach
Deutschland komme, um „Sozialhilfe zu kassieren, muss wieder gehen.“ Für
diese Menschen solle es eine „Wiedereinreisesperre“ geben. Diejenigen, die
„wir rausgeschmissen haben wegen Betrugs oder versuchten Betrugs“, will der
Bundesminister des Innern dauerhaft außer Landes halten und er fordert dafür
eine entsprechende europäische Rechtsgrundlage (vgl. Rheinische Post vom
20. Februar 2013, „Friedrich will Armutswanderung stoppen“).

Im vergangenen Jahr wurden 439 rumänische und 251 bulgarische Staatsange-
hörige zur Ausreise aufgefordert, 232 rumänische und 74 bulgarische Staatsan-
gehörige wurden abgeschoben (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. zu den Fragen 1 und 18 auf Bundes-
tagsdrucksache 17/12442). Auf welchen konkreten Sachverhalten diese Ausreise-
entscheidungen und Abschiebungen basierten, ist nicht bekannt. Nach dem EU-
Freizügigkeitsrecht ist eine Beendigung der Freizügigkeit und des Aufenthalts
nur in besonders schwerwiegenden Fällen zulässig: Eine strafrechtliche Verur-
teilung allein genügt nicht, es muss sich vielmehr aus dem persönlichen Verhal-
ten der Betroffenen eine gegenwärtige, schwere Gefährdung ergeben, die ein
Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Der Bezug von Sozialhilfe oder Ar-
beitslosengeld II ist nach dem EU-Recht grundsätzlich nicht zu beanstanden, es

gilt in der EU vielmehr der Grundsatz der Nicht-Diskriminierung aufgrund der
Staatsangehörigkeit. Strittig ist jedoch der Bezug von öffentlichen Leistungen
bei Arbeitsuchenden in der ersten Zeit ihres Aufenthalts. Die diesbezügliche
deutsche Rechtslage, die einen Leistungsausschluss in solchen Fällen vorsieht,
ist nach Auffassung vieler Gerichte nicht europarechtskonform.

In den Medien ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass die Migration aus
Bulgarien und Rumänien nur zu einem geringen Teil aus Menschen besteht, die

Drucksache 17/12895 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

vor elenden sozialen Verhältnissen und – als Roma – vor rassistischer Diskrimi-
nierung und Mobilmachung rechtsextremistischer Gruppierungen fliehen. Viel-
fach handelt es sich um gut qualifizierte Menschen und/oder um Arbeitskräfte
mit in Deutschland nachgefragten Qualifikationen (Pflegekräfte, Fachkräfte
usw.). Mehrheitlich gehen diese EU-Bürgerinnen und EU-Bürger im Rahmen
der EU-Freizügigkeit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach
und zahlen in die Sozialkassen ein. Die Europäische Kommission stellte anläss-
lich des EU-Innenministerrates am 7. März 2013 gegenüber der Presse klar, dass
sie keine Vorschläge zur Eindämmung von „Sozialtourismus“ machen werde,
weil es diesen ihrer Ansicht nach nicht gebe (AFP, 7. März 2013). Es handele
sich vielmehr „um ein Wahrnehmungsproblem in manchen Mitgliedstaaten, das
keine Grundlage in der Wirklichkeit hat“, so ein Sprecher der Kommission.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma warnte in einer Pressemitteilung vom
5. März 2013 davor, die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien zu einem
Wahlkampfthema zu machen: „Der neue Populismus in Deutschland, der von
Politikern betrieben werde, und der Vorwürfe von ‚Betrug bei Sozialleistungen‘
und ‚Missbrauch der Freizügigkeit‘ bis hin zu ‚Asylmissbrauch‘ und ‚Krimina-
lität‘ erhebe, werde in der Öffentlichkeit ausschließlich auf Angehörige der
Roma bezogen“.

Einen solchen Wahlkampf mit Blick auf die Zuwanderung von Roma und Sinti
kündigte Reinhard Grindel von der CDU/CSU-Fraktion indirekt jedoch schon
an (Plenarprotokoll 17/225, S. 28096 f.): „Wir werden in den kommenden Wo-
chen und Monaten mit den Menschen in den von ungesteuerter Zuwanderung
betroffenen Städten intensiv darüber reden müssen, ob wir, wie SPD und Grüne
hier im Deutschen Bundestag, uns weiter hilflos einer ungesteuerten Zuwande-
rung gegenübersehen, oder ob wir endlich handeln und geeignete Maßnahmen
ergreifen, um Integrationspolitik erfolgreich in Deutschland durchsetzen zu kön-
nen und ungesteuerte Zuwanderung zu verhindern. Das ist die Alternative, um
die es auch in den kommenden Monaten geht. … Gerade angesichts des unge-
steuerten Zustroms von Roma und Sinti und sonstigen Bürgern aus Rumänen,
Bulgarien und anderen EU-Ländern wäre eine solche Ballung von Problemen,
die uns integrationspolitisch vor eine nicht zu bewältigende Herausforderung
stellen, eine völlige Fehlentwicklung“.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele bulgarische bzw. rumänische Staatsangehörige sind in den Jahren
2010, 2011 und 2012 für einen nicht nur kurzfristigen Aufenthalt in die Bun-
desrepublik Deutschland ein- bzw. ausgereist (bitte nach Aufenthaltszweck
auflisten und so genau wie möglich differenzieren)?

2. Wie viele bulgarische bzw. rumänische Staatsangehörige leben derzeit in
Deutschland, auf jeweils welcher Rechtsgrundlage bzw. mit welchem Auf-
enthaltszweck (z. B. Studierende, Praktikanten, Familienangehörige, Selb-
ständige, Saisonarbeiter, sonstige Beschäftigte, Teilnehmende am Bundes-
freiwilligendienst oder am Freiwilligen Sozialen Jahr usw.; bitte nach
Bundesländern differenzieren und die Vergleichswerte zum 31. Dezember
2011 nennen), wie viele von ihnen leben bereits seit einem, drei, fünf, zehn
Jahren oder länger (bitte differenzieren) in Deutschland, und wie viele haben
als Minderjährige einen Schulabschluss erworben und benötigen deshalb für
die Beschäftigungsaufnahme keine Arbeitserlaubnis?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12895

3. Welche Bedeutung misst die Bundesregierung für die gesamtwirtschaft-
liche Entwicklung der Beschäftigung von Saisonarbeitnehmern, Hochqua-
lifizierten und Arbeitskräften mit in Deutschland besonders gesuchten Qua-
lifikationen aus Bulgarien und Rumänien in Deutschland bei?

Welchen Stellenwert haben Saisonarbeitskräfte nach Einschätzung der
Bundesregierung aus beiden Ländern, insbesondere für die deutsche Land-
wirtschaft?

4. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der Aussage von Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt und Be-
rufsforschung (tageszeitung vom 4. März 2013), die Arbeitslosigkeit bei
Migranten aus Bulgarien und Rumänien „ist deutlich geringer als im Durch-
schnitt der Ausländer in Deutschland“, und welche eigenen Erkenntnisse
liegen ihr hierzu vor?

5. Inwieweit kann die Bundesregierung die Aussage des Migrationswissen-
schaftlers Klaus Bade bestätigen, rund 80 Prozent der zwischen 2007 und
2010 zugewanderten Bulgaren und Rumänen seien sozialversicherungs-
pflichtig auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt, und welche eigenen
Kenntnisse liegen ihr hierzu vor (SPIEGEL ONLINE, 3. März 2013)?

6. Welche Informationen, Daten und Erkenntnisse liegen der Bundesregierung
zum Ausmaß der Zuwanderung von rumänischen und bulgarischen Staats-
angehörigen in die anderen Mitgliedstaaten der EU vor, und welche Ein-
schätzungen und Maßnahmen werden diesbezüglich auf EU-Ebene disku-
tiert?

7. Was wurde von den Vertretern Österreichs, der Niederlande und Großbri-
tanniens bei ihrem Treffen mit dem Bundesinnenminister am Rande des
EU-Innenministerrates am 7. März 2013 zum Umfang der Armutsmigration
in ihren Staaten vorgebracht, und welche Lösungsstrategien haben die Ver-
treter der vier Staaten erörtert?

8. Hat der Bundesminister des Innern oder ein Vertreter auf die Äußerungen
der Europäischen Kommission reagiert, wonach es keinen „Sozialleistungs-
Tourismus“ gebe und es sich vielmehr um eine „Wahrnehmungsproblem in
manchen Mitgliedstaaten“ handele (siehe Vorbemerkung der Fragesteller),
und inwieweit ist die Aussage des Sprechers zutreffend, dass „kein Mit-
gliedstaat“ – also auch nicht Deutschland – der „EU-Kommission auch nur
irgendeinen Beweis gegeben [hat], dass es ein Problem mit Sozialleistungs-
Tourismus gibt“?

9. Welche Informationen, Daten und Erkenntnisse liegen der Bundesregierung
zur aktuellen Sozial- und Beschäftigungssituation von in Deutschland
lebenden Bürgerinnen und Bürgern aus Rumänien bzw. Bulgarien vor (bitte
so genau und differenziert wie möglich darstellen, auch im zeitlichen Ver-
lauf der letzten drei Jahre; beispielhaft: Beschäftigungs- und Arbeitslosen-
quote, Beschäftigungsfelder, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung,
Bezug von Sozialleistungen, Gehälter und Einkommen, Selbstständigkeits-
quote, Qualifikation usw.), wie viele haben z. B. eine unbeschränkte Ar-
beitsberechtigung, wie viele arbeiten als Fachkräfte und benötigen keine
Arbeitserlaubnis, wie viele haben eine Arbeitserlaubnis als Qualifizierte
ohne Vorrangprüfung erhalten, und wie viele sind Auszubildende, Saison-
arbeiter usw.?

10. Wie sind die Äußerungen des Bundesministers des Innern zu verstehen,
bulgarische und rumänische Bürgerinnen und Bürger seien wegen „Be-
trugs“ oder „versuchten Betrugs“ „rausgeschmissen“ worden, und sie soll-
ten „dauerhaft“ außer Landes gehalten werden?

Drucksache 17/12895 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

a) Welche Formen des „Betrugs“ hatte der Bundesinnenminister dabei im
Sinn, und ist es in seinen Augen insbesondere bereits „Betrug“, wenn ein
Antrag auf Sozialhilfe gestellt und gegebenenfalls abgelehnt wird?

b) Inwieweit hat er dabei berücksichtigt, dass kein EU-Bürger und keine
EU-Bürgerin wegen „versuchten Betrugs“ „rausgeschmissen“ werden
darf, weil ein solches Vergehen die hohen EU-rechtlichen Anforderun-
gen an eine Beendigung des Freizügigkeitsrechts (siehe Vorbemerkung
der Fragesteller) regelmäßig nicht erfüllen dürfte (bitte ausführen)?

c) Inwieweit hat er dabei berücksichtigt, dass auch in vielen Betrugsfällen
die hohen EU-rechtlichen Anforderungen an eine Beendigung des Frei-
zügigkeitsrechts häufig nicht erfüllt sein werden und zudem pauschale
aufenthaltsbeendende Maßnahmen wegen „Betrugs“ mit EU-Recht un-
vereinbar sind, da öffentliche und individuelle Belange jeweils im Ein-
zelfall miteinander abgewogen werden müssen und generalpräventive
Überlegungen unzulässig sind (bitte ausführen)?

d) Inwieweit hat er dabei berücksichtigt, dass eine „dauerhafte“ Wiederein-
reisesperre nicht nur gegen geltendes EU-Sekundärrecht, sondern auch
gegen EU-Primärrecht und die EU-Grundrechtecharta verstoßen würde
(vgl. z. B. Artikel 21 und Artikel 45 des Vertrags über die Arbeitsweise
der Europäischen Union (AEUV) und Artikel 45 EU-Grundrechtecharta,
bitte ausführen)?

11. Inwieweit sind Forderungen aus dem politischen Raum, die Ausländerbe-
hörden der Länder müssten bei Ausstellung der Anmeldebescheinigung für
EU-Bürger die Glaubhaftmachung der aufenthaltsrechtlichen Vorausset-
zungen verlangen (Abgeordneter Hans-Peter Uhl, Pressemitteilung der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 18. Februar 2013), mit der geltenden
Rechtslage vereinbar, die seit Anfang des Jahres keine Ausstellung einer
Anmeldebescheinigung für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger durch Auslän-
derbehörden mehr vorsieht?

12. Welche Erfahrungen wurden mit dem Wegfall der Anmeldebescheinigun-
gen für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger bislang gemacht, welche statisti-
schen Informationen zu EU-Angehörigen sind aufgrund der Dateien der
Meldeämter oder aus sonstiger Quelle verfügbar, und wie vollständig und
zuverlässig sind nach Einschätzung der Bundesregierung die dem Bund und
den Kommunen vorliegenden Informationen zum Aufenthalt von Unions-
angehörigen in Deutschland?

13. Wie reagiert die Bundesregierung auf die Warnung des Zentralrats Deut-
scher Sinti und Roma vor einem Wahlkampf zum Thema Zuwanderung aus
Rumänien und Bulgarien angesichts der Gefahr einer Stärkung antiziganis-
tischer Vorurteile und Diskriminierung, inwieweit wird sie diesbezüglich
mäßigend auf alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien einwirken,
und wie ist insbesondere die Haltung der Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel,
zu diesem Thema, nachdem sie in ihrer Rede zur Einweihung des Denkmals
für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma von einem
„Auftrag zum Schutz von Minderheiten heute nicht nur im Blick auf die
Schrecken der Vergangenheit, sondern als Auftrag für heute und für mor-
gen“ gesprochen hat?

14. Inwieweit entspricht die Äußerung des Bundesinnenministers in der „Rhei-
nischen Post“ vom 24. Februar 2013: „Wenn die Menschen in Deutschland
das Gefühl bekommen, dass ihre Solidarität und ihre Offenheit missbraucht
und unsere Sozialkassen geplündert werden, dann wird es berechtigten Är-
ger geben“ in Inhalt und Ausdruck der Auffassung der Bundesregierung,

und könnten sich nicht gerade solche Äußerungen als „Sprengsatz für die
europäische Solidarität“ (Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter Friedrich im

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/12895

genannten Gespräch) erweisen, weil hierdurch nach Auffassung der Frage-
steller den Menschen in Deutschland vermittelt wird, sie dürften berechtig-
terweise ärgerlich sein auf EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die von ihrem
Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen und dabei zum geringen Teil
soziale Unterstützung beantragen, auf die sie häufig einen Rechtsanspruch
haben?

15. Wie ist die Äußerung des Bundesinnenministers, „Das Freizügigkeitsgesetz
gibt nur dem das Recht zu uns zu kommen, der hier studieren, hier arbeiten
und hier Steuern zahlen will“ (Interview mit der Rheinischen Post vom
23. Februar 2013), damit vereinbar, dass das Aufenthaltsrecht zur Arbeit-
suche primärrechtlich abgesichert ist und für „neue“ wie „alte“ Unionsbürger
gleichermaßen gilt (Artikel 45 AEUV), und dass überdies das EU-Frei-
zügigkeitsrecht in keiner Weise davon abhängig ist, dass Steuern gezahlt
werden (ansonsten bitte entsprechende Rechtsgrundlagen nennen)?

16. Welche konkreten Belege oder Informationen hat der Bundesinnenminister
dazu, dass es eine relevante Zahl von Menschen aus Rumänien und Bul-
garien gibt, „die nur hierherkommen um Sozialleistungen in Anspruch zu
nehmen“ (Interview mit der Rheinischen Post vom 23. Februar 2013), und
woher weiß er, dass diese Menschen nicht gekommen sind, um ein Einkom-
men aus selbständiger oder unselbständiger Beschäftigung zu erzielen und
Sozialhilfe nur deshalb und solange in Anspruch nehmen wollen, weil bzw.
wie sie (noch) keine solche Erwerbsmöglichkeit gefunden haben?

17. Wie legt die Bundesregierung die Bestimmung von Artikel 14 Absatz 1 der
Unionsbürgerrichtlinie konkret aus, wonach das keinen weiteren Bedingun-
gen unterliegende Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger in allen EU-Ländern
von bis zu drei Monaten gilt, soweit „die Sozialhilfeleistungen des Aufnah-
memitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch“ genommen werden,
welche Sozialhilfeleistungen sind nach Auffassung der Bundesregierung
während dieser Zeit noch angemessen, und was folgt aus dem Umstand,
dass die Einschränkung nach Artikel 14 Absatz 1 der Richtlinie bei der Um-
setzung nicht ins deutsche Freizügigkeitsgesetz übernommen wurde, so
dass in Deutschland insofern günstigere Regelungen gelten, die nach Arti-
kel 37 der Richtlinie auch ausdrücklich zulässig sind?

18. Was ist Genaueres zu den Gründen der Ausreiseentscheidungen gegen ru-
mänische und bulgarische Staatsangehörige in den Jahren 2011 und 2012
bekannt, für wie viele Unionsbürgerinnen und Unionsbürger ist im Auslän-
derzentralregister der Verlust des EU-Freizügigkeitsrechts vermerkt, in
welchen Jahren erfolgte jeweils der Eintrag, und wie viele der Ausreise-
pflichtigen halten sich noch in Deutschland auf bzw. sind ausgereist oder
abgeschoben worden (bitte jeweils so differenziert wie möglich darstellen
und insbesondere nach Staatsangehörigkeiten und Jahren differenzieren)?

19. Wie erklärt sich die Bundesregierung die relativ hohe Zahl von 232 Ab-
schiebungen rumänischer und 74 Abschiebungen bulgarischer Staatsange-
höriger im Jahr 2012, obwohl diesbezüglich sehr hohe Anforderungen gel-
ten (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion
DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/12457)?

20. Welche Daten, Erkenntnisse und Einschätzungen hat die Bundesregierung
dazu, wie viele Unionsbürgerinnen und Unionsbürger (bitte nach Staatsan-
gehörigkeit differenzieren) in den Jahren 2011 bzw. 2012 in Deutschland
wegen schwerer Straftaten verurteilt wurden, und wie viele hiervon können
prinzipiell eine Aufkündigung des EU-Freizügigkeitsrechts rechtfertigen
(schwerwiegende Gefährdungen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft
berühren, was z. B. für bestimmte Betäubungsmitteldelikte angenommen

wird)?

Drucksache 17/12895 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

21. Gegen wie viele Unionsbürgerinnen und Unionsbürger (bitte nach Staatsan-
gehörigkeit differenzieren) wurde nach der Polizeilichen Kriminalstatistik
in den Jahren 2010, 2011 bzw. 2012 wegen Verstoßes gegen § 9 des Freizü-
gigkeitsgesetzes bzw. nach Angaben der Finanzkontrolle Schwarzarbeit der
Zollverwaltung wegen „illegaler Ausländererwerbstätigkeit“ ermittelt?

22. Welche rechtlichen Möglichkeiten bestehen derzeit, innerhalb der EU „Ein-
reisesperren“ bzw. „Wiedereinreisesperren“ zu verhängen, und welche
Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, auf Basis der EU-Verträge und
der EU-Grundrechtecharta bei Überarbeitung der einschlägigen Richtlinien
entsprechende Befugnisse im nationalen Recht auszuweiten (bitte darle-
gen)?

23. Welche konkreten Vorschläge wurden im Bundesministerium des Innern
bereits entwickelt, um die Forderung des Bundesinnenministers, dem so
genannten Missbrauch des Freizügigkeitsrechts durch Überarbeitung der
einschlägigen Rechtsgrundlagen wirksam zu begegnen, auf EU-Ebene ein-
bringen zu können, und wie soll insbesondere sein Vorschlag einer Wieder-
einreisesperre, „wenn jemand Sozialbetrug begangen oder den Versuch
dazu unternommen hat“ (Interview mit der Rheinischen Post vom 23. Februar
2013), mit dem EU-Primärrecht zur Freizügigkeit vereinbar sein?

24. Welche Vorschläge oder Initiativen einzelner EU-Mitgliedstaaten gibt es
derzeit, die bisherigen Freizügigkeitsregeln zu beschränken, und wie ver-
hält sich die Bundesregierung jeweils hierzu (sofern es nicht ihre Vor-
schläge sind)?

25. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung die jeweilige Haltung der Euro-
päischen Kommission bzw. des EU-Parlaments zu den in der vorherigen
Frage benannten Vorschlägen, und wie beurteilt die Bundesregierung vor
diesem Hintergrund und in Kenntnis der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs (EuGH) die jeweiligen Durchsetzungschancen (bitte jeweils
differenziert nach einzelnen Vorschlägen antworten)?

26. Welche konkreten Hinweise liegen der Bundesregierung auf die von Bun-
desinnenminister Dr. Hans-Peter Friedrich geäußerte Mutmaßung vor, es
bestünden „Organisationen, die sich darauf spezialisieren, Bürger aus ärme-
ren Staaten mit illegalen Mitteln den Zugang zu Sozialleistungen in
Deutschland zu eröffnen“ (FOCUS ONLINE, „Friedrich droht Armuts-
flüchtlingen mit Abschiebung“, veröffentlicht 13. Februar 2013), und was
genau sind dabei die „illegalen Mittel“?

27. Wie reagiert die Bundesregierung auf den Vorwurf des Deutschen Städte-
tages (Positionspapier des Deutschen Städtetages zu den Fragen der Zuwan-
derung aus Rumänien und Bulgarien), ihren Bericht zum „EU-Rahmen für
nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020“ ohne kommunale
Beteiligung erstellt zu haben, verbunden mit der Kritik, dieser gehe „an der
Realität in den Städten komplett vorbei“, und inwieweit ist der Bund bereit,
zusammen mit den Ländern und Kommunen, gegebenenfalls aber auch mit
Wohlfahrts- und Verbändevertretern und Betroffenenorganisationen, eine
abgestimmte Strategie zur Bewältigung der vom Städtetag angesprochenen
und ab dem 1. Januar 2014 womöglich noch zunehmenden Probleme zu ent-
werfen?

28. Inwieweit hat die Bundesregierung angesichts der aktuellen Berichterstat-
tung über tatsächliche oder vermeintliche Probleme insbesondere in Bezug
auf Roma aus Rumänien und Bulgarien ihre Auffassung gegebenenfalls ge-
ändert, es bedürfe in Deutschland keiner speziell auf Roma ausgerichteten
nationalen Integrationsstrategie – (vgl. Vorbemerkung der Bundesregierung

auf Bundestagsdrucksache 17/6230) – (bitte begründen), und ist eine mit den
maßgeblichen Akteuren abgestimmte nationale Roma-Integrationsstrategie

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/12895

nicht wenigstens für die Gruppe der Roma aus Rumänien und Bulgarien er-
forderlich, die sich im Rahmen der EU-Freizügigkeit legal in Deutschland
aufhalten und hier leben (bitte begründen)?

29. Teilt die Bundesregierung die Befürchtung des Deutschen Städtetages (Posi-
tionspapier des Deutschen Städtetages zu den Fragen der Zuwanderung aus
Rumänien und Bulgarien), es könne zu einer „Zuwanderungswelle“ nach
Deutschland innerhalb der „EU-Armutszuwanderung“ kommen und der
„soziale Friede“ könne hierbei gefährdet und „fremdenfeindliche Kräfte“
gestärkt werden, und welche Forderungen des Deutschen Städtetages (For-
derungskatalog an die Bundesebene, Punkt I) unterstützt die Bundes-
regierung auf welche Weise, insbesondere die Forderung nach

– „Unterbindung der Armutswanderungen“,

– Schaffung einer „eigenen Strategie zur EU-Armutszuwanderung in
Deutschland“,

– Verbesserung der Datenlage,

– Änderungen des Melde- und Gewerberechts,

– „Prüfung, ob auskömmliche Lohnuntergrenzen zur Unterbindung aus-
beuterischer Strukturen geschaffen werden können“

(bitte jeweils begründet auf die einzelnen Punkte eingehen)?

30. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der Forderung des Deutschen Städtetages (Positionspapier des Deut-
schen Städtetages zu den Fragen der Zuwanderung aus Rumänien und
Bulgarien) nach einer Reihe von kurzfristigen Sofort-Hilfen, insbesondere
die Erstattung von Kosten für Nothilfemaßnahmen der Kommunen, z. B. bei
der Gesundheitsversorgung und Unterbringung, aber auch Aufstockungen
der Eingliederungsmittel bei Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt und im Pro-
gramm „Soziale Stadt“ (Forderungskatalog an die Bundesebene, Punkt II),
und inwieweit ist die Bundesregierung in der Lage und willens, diesen For-
derungen zu folgen?

31. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Forderung des
Deutschen Städtetages (Forderungskatalog an die Bundesebene, Punkt III)
zur Entwicklung langfristiger Lösungsstrategien, etwa die Errichtung ent-
sprechender Integrations- und Gesundheitsfonds, einer Clearingstelle zur
Absicherung des Krankenversicherungsschutzes, „Wege ins Erwerbsein-
kommen ermöglichen“ usw.?

32. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Forderung des
Deutschen Städtetages (Forderungskatalog an die Bundesebene, Punkt IV)
zu rechtlichen Rahmenbedingungen, und welche dieser Vorschläge wird sie
aufnehmen bzw. umsetzen, etwa

– zur Klarstellung der Rechtslage zu sozialen Leistungsansprüchen,

– zu Nachweispflichten bezüglich der Lebensunterhaltssicherung und der
Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts,

– zur Eindämmung von Ausbeutungsstrukturen bei Vermietung und Un-
terbringung sowie

– zur Änderung des Kindergeldrechts?

33. Wie ist die Rechtsauffassung der Bundesregierung bzw. nach Kenntnis der
Bundesregierung die derzeitige Rechtsprechung deutscher Gerichte zur
Vereinbarkeit der pauschalen, d. h. nicht auf die näheren Umstände des Ein-

zelfalls abstellenden Ausschlussregelungen nach § 23 Absatz 3 des Zwölften

Drucksache 17/12895 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) bzw. § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1
und 2 SGB II mit

a) der vorrangig zu beachtenden Verordnung (EG) Nr. 883/2004, insbeson-
dere dem Gleichbehandlungsgebot nach Artikel 4 in Verbindung mit
Artikel 70 und Anhang X,

b) der Entscheidung des EuGH vom 4. Juni 2009 (C 22 und 23/08, vgl. ins-
besondere Rn. 43 bis 45), wonach es Hinweise dafür gibt, dass Leistun-
gen nach SGB II gar nicht als Sozialhilfe im europarechtlichen Sinne an-
gesehen werden können,

c) dem Diskriminierungsverbot nach Artikel 18 AEUV, und welche Beson-
derheiten gelten jeweils bezüglich der Länder Rumänien und Bulgarien
bis Ende 2013

(bitte differenziert antworten und zumindest Gerichtsentscheidungen der
zweiten Instanz konkret mit Aktenzeichen und Inhalt benennen, soweit sie
der Bundesregierung bekannt sind, d. h. nicht nur Entscheidungen, die ihrer
Rechtsauffassung entsprechen)?

34. Wie ist die Rechtslage und nach Kenntnis der Bundesregierung die Recht-
sprechung zu selbständigen Unionsangehörigen, auch aus Rumänien und
Bulgarien, insbesondere zum Recht auf Sozialhilfebezug nach unfreiwilli-
ger Aufgabe der selbständigen Tätigkeit, etwa bei Scheitern einer Geschäfts-
idee oder wegen Krankheit, Unfall oder Schwangerschaft, solange der Selb-
ständigenstatus weiter andauert?

35. Wie ist zu erklären, dass der Bundesinnenminister am 4. März 2013 laut
Nachrichtenmeldungen (z. B. APA) erklärte, dass Deutschland nicht nur ein
Veto gegen den Schengen-Vollbeitritt von Rumänien und Bulgarien einle-
gen werde, sondern auch eine schrittweise Schengen-Aufnahme (zunächst
nur die Luft- und Seeeinreise betreffend) „vom Tisch“ sei, obwohl in der
Vergangenheit Deutschland zusammen mit Frankreich im Rat für Justiz und
Inneres der EU für genau diese stufenweise Aufnahme von Rumänien und
Bulgarien zum Schengenraum geworben hat, was im Europäischen Rat
lediglich am Widerstand der Niederlande scheiterte, und wie begründet die
Bundesregierung ihren Meinungswandel und ihr geändertes Agieren auf
der EU-Ebene zu diesem Thema, wenn nicht mit innenpolitischen Gründen,
d. h. mit Blick auf die aktuellen Diskussionen in Deutschland?

36. Wie begründet die Bundesregierung ihre geänderte und nunmehr ableh-
nende Haltung selbst gegenüber einem auch von ihr bis ins letzte Jahr hinein
noch verfolgten stufenweisen Voll-Beitritt Rumäniens und Bulgarien zum
Schengenraum vor dem Hintergrund, dass

a) der JI-Rat einstimmig, mit den Stimmen Deutschlands, bereits im Juni
2011 bestätigt hat, dass Rumänien und Bulgarien die technischen Vor-
aussetzungen zum Schengen-Vollbeitritt erfüllt haben,

b) auch das EU-Parlament mit Entschließung vom 13. Oktober 2011
(P7_TA-PROV(2011)0443, vgl. insbesondere die Nummern 3 bis 6) die
Mitgliedstaaten aufgefordert hat, die Schengen-Aufnahme der beiden
Länder entsprechend des EU-Rechtsrahmens zu ermöglichen, „keine
zusätzlichen Kriterien“ zu verhängen und nicht „dem nationalen Popu-
lismus Vorrang einzuräumen“,

c) nach Einschätzung des Juristischen Dienstes des JI-Rats der EU der
Schengen-Vollbeitritt Rumäniens und Bulgariens nach Erfüllung der
technischen Kriterien zwingend sei und der Rat keine Möglichkeit habe,
dies auf unbestimmte Zeit aufzuschieben (bitte ausführlich begründen,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 9 – Drucksache 17/12895

warum die Bundesregierung der Rechtsauffassung des Juristischen
Dienstes gegebenenfalls widerspricht),

d) dass in dem letzten Bericht der Europäischen Kommission über Rumä-
niens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Überprüfungs-
mechanismus (Ratsdokument 5938/13 vom 31. Januar 2013) keinerlei
Ausführungen zu einer möglichen Korruption im Bereich der Grenz-
sicherung oder Visumvergabe enthalten sind, und welche eigenen Er-
kenntnisse hat die Bundesregierung zu einer solchen Korruption?

37. Wie beantwortet die Bundesregierung die im Gespräch mit der Tageszei-
tung „DER TAGESSPIEGEL“ vom 6. März 2013 vom rumänischen Bot-
schafter in Deutschland, Lazar Comanescu, gestellte Frage, „warum diese
Negativberichte [über Korruption in Rumänien] gerade jetzt in Deutschland
erscheinen“, obwohl Rumänien in den EU-Berichten attestiert worden sei,
„schon große Fortschritte gemacht“ zu haben, wobei der Botschafter die
Frage indirekt damit beantwortet, dass „2013 ein Wahljahr ist“?

38. Inwieweit geht die Bundesregierung mit der Einschätzung der Gewerk-
schaft der Polizei (Stellungnahme vom 4. März 2013 „Für einen Beitritt
Rumäniens und Bulgariens zum Schengenraum ist es zu früh“) überein, ein
Voll-Beitritt Rumäniens und Bulgariens zum jetzigen Zeitpunkt würde ein
„totales Zusammenbrechen der Grenzkontrollen an den Schengen-Außen-
grenzen“ bedeuten, welche eigenen Einschätzungen hat sie zu der Frage der
Auswirkungen des Beitritts zum jetzigen bzw. zu einem späteren Zeitpunkt,
und welche Einschätzungen oder Risikoanalysen von der Europäischen Agen-
tur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (FRONTEX)
oder anderen Einrichtungen, Institutionen oder Sicherheitsbehörden gibt es
zu dieser Frage?

39. Wie beurteilt die Bundesregierung die Gefahr, dass das zentrale Gut der
Freizügigkeit in der EU durch die aktuelle Debatte gefährdet wird, wenn
nach einer Umfrage zwei Drittel der Bundesbürger die Zuwanderung aus
anderen EU-Ländern beschränken wollen (laut SPIEGEL ONLINE vom
3. März 2013)?

40. Wie schätzt die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Erfahrungen der
letzten Jahre die Wahrscheinlichkeit ein, dass sich die Lage der Roma in
Rumänien und Bulgarien in absehbarer Zeit merklich verbessern wird, und
welche Schlussfolgerungen zieht sie hieraus?

Berlin, den 18. März 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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