BT-Drucksache 17/12825

Abhängigen helfen - Substitutionstherapie erleichtern

Vom 19. März 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12825
17. Wahlperiode 19. 03. 2013

Antrag
der Abgeordneten Frank Tempel, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Herbert
Behrens, Nicole Gohlke, Diana Golze, Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke, Petra Pau,
Jens Petermann, Kathrin Senger-Schäfer, Raju Sharma, Kathrin Vogler, Halina
Wawzyniak, Harald Weinberg und der Fraktion DIE LINKE.

Abhängigen helfen – Substitutionstherapie erleichtern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Abhängigkeit von Opiaten (z. B. Heroin) ist eine chronische Krankheit. Sie
kann tödlich verlaufen, insbesondere wenn die Substanz auf dem Schwarz-
markt beschafft werden muss und unkalkulierbare Risiken durch Verunreini-
gungen hinzukommen. Der soziale Absturz, der häufig damit verbunden ist,
geht mit weiteren gesundheitlichen und anderen Belastungen einher.

Die Substitutionstherapie wurde bis in die 90er-Jahre von konservativen Kreisen
erbittert bekämpft. Die CDU/CSU-Fraktion hat noch im Jahr 2009 gegen die
flächendeckende Einführung der Diamorphin-Substitution gestimmt. Die Mög-
lichkeit zur Substitutionsbehandlung wurde 1992 nur deshalb eingeführt, weil
der Bundesgerichtshof im Jahr 1979 den Gesetzgeber zum Handeln zwang. Die-
ses Recht wurde maßgeblich von den Gegnerinnen und Gegnern umgesetzt und
dieser Geist hängt den entsprechenden Regelungen vor allem der Betäubungs-
mittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) bis heute an. Diese will die Be-
handlung mehr beschränken als ermöglichen. Die Betäubungsmittelsicherheit
hat hier leider Vorrang vor der Hilfe für die Abhängigen.

Die Substitutionstherapie ist nachweislich die effektivste Methode, die negati-
ven gesundheitlichen und sozialen Folgen der Opiatabhängigkeit zu bekämpfen.
Sie ermöglicht vielen Betroffenen die Rückkehr ins gesellschaftliche Leben und
senkt die HIV-Infektionsrate. Mehr noch als bei anderen schweren chronischen
Erkrankungen sind ein stabiles Leben und soziale Teilhabe nach der Zeit in der
Drogenszene ein großer Erfolg. Die Abstinenz ist wünschenswert, aber dafür
weder notwendig noch ist sie ein Garant für einen langfristigen Therapieerfolg.
Trotzdem ist sie als primäres Behandlungsziel in der BtMVV vorgeschrieben.
Nur ein geringer Teil der Betroffenen schafft es, letztlich auch auf das Substitut
zu verzichten. International ist die gesellschaftliche Teilhabe bereits vielfach als
Behandlungsziel anerkannt. Das Abstinenz-Dogma in der BtMVV ist Teil des
ideologischen und veralteten Umgangs mit der Drogenproblematik. Es verhin-

dert medizinisch sinnvolle Behandlungen und treibt die behandelnden Ärztinnen
und Ärzte an den Rand der Illegalität.

Auch die Regelungen zum Beikonsum in der BtMVV sind praxisfern. Sie stehen
einem Therapieerfolg eher im Wege und verursachen ebenfalls eine erhebliche
Rechtsunsicherheit für die Behandelnden. Der parallele Konsum, etwa von
Cannabis, ist vielfach die Lebensrealität. Es gibt keinen Beleg dafür, dass das die

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Substitutionsbehandlung nutzlos macht oder der Betäubungsmittelsicherheit
schadet. Auch die in der BtMVV definierten Voraussetzungen für eine Substitu-
tionsbehandlung sind suchtmedizinisch umstritten. Das trifft besonders auf die
nochmal verschärften Regelungen für die Diamorphin-Substitution zu. Inwie-
weit die Festlegung eines Mindestalters, der parenteralen Applikation oder einer
Mindestdauer der Opiatabhängigkeit der Betäubungsmittelsicherheit dient, er-
scheint mehr als fraglich.

Entsprechend prekär ist die Lage bei der Diamorphin-Substitution. Diese Thera-
pieoption wurde 2009 mit den Stimmen aller Fraktionen außer denen der CDU/
CSU im Deutschen Bundestag beschlossen. Ein Modellversuch erbrachte ausge-
sprochen positive Ergebnisse, doch seit der Überführung in die Regelversorgung
ist bislang keine einzige Diamorphin-Ambulanz hinzugekommen. Bis heute ist
etwa ganz Ostdeutschland unversorgt (Stand: Februar 2013). Mit dafür verant-
wortlich waren hohe Auflagen, die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA)
definiert hat (vgl. Umfrage des G-BA zur Diamorphin-Richtlinie 2012). Diese
wurden aber im Januar 2013 erheblich gelockert. Mit verantwortlich gemacht
wird aber auch die Ausgestaltung der BtMVV (vgl. Vorschlag zur Veränderung
der BtMVV von akzept e. V. Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und
humane Drogenpolitik und der Deutschen AIDS-Hilfe e. V.).

Die Regelungen zur Aushändigung von Substitutionsmitteln (Take-Home) sind
wenig praxisgerecht. Zu strenge Vorgaben stehen einer erfolgreichen Reinte-
grierung der Betroffenen häufig im Wege. Allerhöchstens ist ein Intervall von
sieben Tagen für die ärztliche Konsultation zu erreichen, was insbesondere bei
langen Wegen auf dem Land und/oder voller beruflicher Tätigkeit zu großen
Schwierigkeiten führen kann. Für Auslandsaufenthalte ist schon jetzt die Ver-
schreibung von 30 Tagesdosen möglich.

Diese Gesamtsituation führt dazu, dass die Zahl der substituierenden Ärztinnen
und Ärzte stagniert, während sich die Zahl der Patientinnen und Patienten in den
letzten zehn Jahren fast verdoppelt hat. Aufgrund der Rechtsunsicherheit haben
bereits Ärztinnen und Ärzte die Substitutionstätigkeit aufgegeben, sodass ganze
Regionen unversorgt sind. Auch aufgrund der Altersstruktur der Substitutions-
ärztinnen und -ärzte von durchschnittlich 59 Jahren wird in den kommenden
Jahren mit einem weiteren Engpass gerechnet.

Das Menschenrecht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit erfordert,
dass wirksame Therapien nicht unnötig erschwert werden. Die Bewertung von
Notwendigkeit, Ziel und Nutzen einer Therapie sollte der medizinischen Wis-
senschaft überlassen werden. Für alle Einschränkungen von therapeutischen
Optionen sollte nachgewiesen sein, dass sie notwendig, angemessen und geeig-
net sind, die Betäubungsmittelsicherheit zu gewährleisten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die fachlich-medizinischen Festlegungen aus der BtMVV zu streichen und
der Selbstverwaltung zu übergeben, soweit dies ohne erhebliche Einschrän-
kung der Betäubungsmittelsicherheit möglich ist. Das betrifft insbesondere

a) die Festlegung des Behandlungsziels,

b) die Therapievoraussetzungen für Patientinnen und Patienten,

c) die Regelungen zum Beikonsum sowie

d) die Festlegung auf bestimmte Applikationsformen oder Wirkstoffe der
Substitutionsmittel.

Stattdessen ist in diesen Fällen der allgemein anerkannte Stand der medizini-

schen Wissenschaft als maßgebend zu definieren;

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2. durch die Änderung von § 5 Absatz 8 BtMVV die Aushändigung des Substi-
tutionsmittels (Take-Home-Regelung) für bis zu 30 Tage zu ermöglichen,
falls der Zustand der Patientin bzw. des Patienten stabil ist und die Be-
täubungsmittelsicherheit dem nicht entgegensteht;

3. unter Einbeziehung bzw. Anhörung der Kassenärztlichen Vereinigungen und
des Gemeinsamen Bundesausschusses sowie der Kommunen die flächen-
deckende Versorgung der Substitutionsbehandlung auch mit Diamorphin,
einer qualifizierten suchttherapeutischen Psychotherapie und der psychoso-
zialen Betreuung sicherzustellen, um gleichwertige Lebensbedingungen in
Deutschland für die Betroffenen zu ermöglichen. Die Kopplung einer medi-
zinischen Suchtbehandlung mit anderen Maßnahmen in der BtMVV ist zu
streichen;

4. durch die Änderung der Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte und
in Kooperation mit den Bundesländern darauf hinzuwirken, dass suchtmedi-
zinische Themen allgemein, und insbesondere die Substitutionstherapie, stär-
ker während des Medizinstudiums Berücksichtigung finden.

Berlin, den 19. März 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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