BT-Drucksache 17/1272

Debatten zur Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung"

Vom 29. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1272
17. Wahlperiode 29. 03. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, Agnes Alpers,
Herbert Behrens, Steffen Bockhahn, Sevim Dag˘delen, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie
Hein, Ulla Jelpke, Wolfgang Neskovic, Petra Pau, Jens Petermann, Kathrin Senger-
Schäfer, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Debatten zur Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“

Die seit Monaten anhaltenden Diskussionen um die Stiftung „Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung“ zeigen noch einmal in aller Deutlichkeit, wie umstritten die
von der Bundesregierung vorgenommene Konstruktion ist, die eben bisher von
verschiedenen Seiten nicht als wissenschaftlich fundierte Darstellung eines
wichtigen Kapitels deutscher und weltweiter Geschichte gesehen wird, sondern
als ein Versuch der geschichtspolitischen Umwertung der deutschen Vergangen-
heit im 20. Jahrhundert. Für zahlreiche Kritiker führt die über den Ansatz der
Stiftung angelegte Einbeziehung Deutschlands auf Seiten der Opfer der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts zu nachhaltigen Irritationen im In- und Ausland.
Zwei grundlegende Fehler des von der Bundesregierung vorgesehenen Kon-
zepts der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ sind nach Ansicht der
Fragesteller entscheidende Gründe für den starken Widerstand, den das Projekt
erfährt: Einerseits die rein nationale Ausrichtung der Stiftung, die eben gerade
keinen europäischen Ansatz der Erinnerung erlaubt, und zum anderen die do-
minierende Rolle des Bundes der Vertriebenen (BdV) im Rahmen der Stiftung –
eines Verbandes, der durch seine historische Nähe zum historischen Revisionis-
mus, sein in der Gründungszeit stark NS-belastetes Führungspersonal und durch
die in der Vergangenheit festzustellende Nähe mancher Vertreter des Verbandes
zur extremen Rechten zu Recht starkes Misstrauen erregt. Die jüngsten Vor-
gänge um den BdV, die Aufarbeitung seiner Verbandsgeschichte, die Frage, für
welche vertriebenen, geflohenen und umgesiedelten Deutschen er spricht, und
das Hin und Her um die Frage, ob Erika Steinbach dem Stiftungsrat angehören
soll, haben dieses Misstrauen aufs Neue bestätigt. Mit der Person des Direktors
der Stiftung, Prof. Manfred Kittel, und seinem Agieren im Zusammenhang mit
der Aufarbeitung der BdV-Vergangenheit scheint die Stiftung an einem Punkt
angekommen zu sein, an dem das ganze Unternehmen noch einmal hinterfragt
werden sollte. Der Rücktritt eines Drittels der Mitglieder des wissenschaftlichen
Beirats der Stiftung innerhalb von nur drei Monaten zeigt in aller Deutlichkeit
das Misstrauen auch von Seiten der beteiligten Wissenschaftler an der Person
des Direktors Prof. Manfred Kittel und an der Konstruktion der Stiftung über-

haupt. Inzwischen wird sogar aus den Reihen des wissenschaftlichen Beirats der
Stiftung der Rücktritt von Prof. Manfred Kittel gefordert (vgl. epd-Meldung
vom 10. März 2010). Für die Auswahl von Prof. Manfred Kittel zum Direktor
der Stiftung wird seitens der Bundesregierung zweifellos seine wissenschaft-
liche Reputation in der Vergangenheit ausschlaggebend gewesen sein. Die nach-
folgenden Fragen zu dieser wissenschaftlichen Tätigkeit von Prof. Manfred

Drucksache 17/1272 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Kittel betreffen also im engeren Sinne auch die Auswahlkriterien seitens der
Bundesregierung. Eine bei solchen Fragen sonst übliche Antwort der Bundesre-
gierung, sie sähe es nicht als ihre Aufgabe an, die wissenschaftliche Arbeit von
Herrn/Frau XY zu beurteilen, sollte sich also erübrigen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Ist die Bundesregierung noch davon überzeugt, dass Prof. Manfred Kittel der
geeignete Direktor der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ist, ob-
wohl ihm im Zusammenhang mit der Erstellung einer Machbarkeitsstudie zur
Verbandsgeschichte des BdV schwere Fehler unterstellt werden und er auch
aus den Reihen des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung als falscher
Direktor bezeichnet wird, und wie begründet die Bundesregierung ihre Auf-
fassung?

2. Wie beurteilt die Bundesregierung das Agieren von Prof. Manfred Kittel im
Rahmen seiner Tätigkeit beim Institut für Zeitgeschichte im Zusammenhang
mit der unter seiner Verantwortung erstellten Machbarkeitsstudie zur frühen
Verbandsgeschichte des BdV insgesamt, und sieht sie durch die vehemente
Kritik an dieser Machbarkeitsstudie die Autorität des Direktors in Frage
gestellt?

3. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der Fragesteller, dass die Beauf-
tragung von Matthias Lempart – selbst Mitglied in einer Vertriebenenorgani-
sation – als Schreiber der Machbarkeitsstudie durch Prof. Manfred Kittel im
Sinne des wissenschaftlichen Neutralitätsgebots äußerst problematisch ist,
und wie begründet sie ihre Auffassung?

4. Sieht die Bundesregierung die wissenschaftlich gebotene Distanz des Direk-
tors Prof. Manfred Kittel gegenüber den geschichtspolitischen Auffassungen
des BdV gewährleistet, obwohl Prof. Manfred Kittel für die Erstellung einer
den BdV objektiv entlastenden Machbarkeitsstudie zu den NS-Verstrickun-
gen seiner frühen Führungsriege verantwortlich ist, und wie begründet sie
ihre Auffassung?

5. Teilt die Bundesregierung die von Prof. Manfred Kittel in seinem Buch „Ver-
treibung der Vertriebenen“ aufgestellte These, die Vertriebenen seien in der
Erinnerungskultur der Deutschen Jahrzehnte lang nicht genügend vertreten
gewesen und man müsse von „einer zweiten geistigen Vertreibung der
Vertriebenen“ reden, und wie begründet sie ihre Auffassung?

6. Teilt die Bundesregierung die von Prof. Manfred Kittel in seinem Buch „Die
Legende von der ‚zweiten Schuld‘. Vergangenheitsbewältigung in der Ära
Adenauer“ vertretene These, die frühe Bundesrepublik Deutschland habe
eine vorbildliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gepflegt
und auch in Bereichen wie der Justiz oder der Bundeswehr habe es einen ver-
antwortlichen Umgang mit der Vergangenheit gegeben, und wie begründet
sie ihre Auffassung, vor allem vor dem Hintergrund, dass z. B. von Seiten der
Justiz selber dieser Umgang inzwischen keineswegs so positiv eingeschätzt
wird?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung die von Prof. Manfred Kittel in dem Buch
„Die Legende von der ‚zweiten Schuld‘“ vertretene These, mit der so
genannten Reeducation hätten die Alliierten einen „Weltanschauungskrieg“
gegen Deutschland geführt und die von Prof. Manfred Kittel hier vorgenom-
mene Verurteilung der Reeducation als Umerziehungsmaßnahme (vgl. Kittel,
Legende von der zweiten Schuld, S. 41)?

8. Teilt die Bundesregierung die von Prof. Manfred Kittel in dem Buch „Die

Legende von der ‚zweiten Schuld‘“ vertretene These, dass mit dem
geschichtspolitischen Paradigmenwechsel von 1959/1960 – womit der Be-

Berlin, den 29. März 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1272

ginn der justiziellen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der Bundesrepu-
blik Deutschland im Zusammenhang mit der Gründung der Zentralen Er-
mittlungsstelle in Ludwigsburg gemeint ist – und dem damit einhergehenden
wachsenden Schuldgefühl in Deutschland, „auch noch die letzten Residuen
des deutschen Nationalgefühls“ (vgl. ebd., S. 337) verloren gegangen seien,
und wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung?

9. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, dass die hier nur
kurz skizzierten wissenschaftlichen Positionen von Prof. Manfred Kittel
nicht geeignet sind, in ihm einen neutralen und unparteiischen Direktor zu
sehen und er somit besser von diesem Posten abgezogen würde, und wie
begründet die Bundesregierung ihre Auffassung?

10. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Kritik des
inzwischen zurückgetretenen Mitglieds des wissenschaftlichen Beirats der
Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, Tomasz Szarota, der Beirat
bestehe überwiegend aus Mitgliedern, die dem BdV und seinen geschichts-
politischen Positionen sehr nahestünden und insofern die nötige Distanz
zum BdV vermissen ließen, womit der Beirat zu einer Art Vollzugsorgan
der Positionen des BdV würde (vgl. taz, 19. Januar 2010)?

11. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem Brief des CDU-
Europaabgeordneten Daniel Caspary, der von weiteren 16 MdEPs der CDU/
CSU unterzeichnet wurde und in dem die Bundesregierung gefragt wird, ob
ihr „Erkenntnisse“ über „mögliche Taten, Aktivitäten oder Äußerungen“
der künftigen polnischen Partner der Stiftung vorlägen, und wie hat die
Bundesregierung diesen Brief beantwortet?

12. Wie bewertet die Bundesregierung die Forderung des Mitglieds des wissen-
schaftlichen Beirats, Raphael Gross, vor der Konzeptionierung einer Dau-
erausstellung müsse die Verbandsgeschichte des BdV aufgeklärt und der
Stiftungsauftrag geklärt werden (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 11. März
2010), und worin sieht die Bundesregierung den Auftrag der Stiftung und
strebt sie eine Integration der Verbandsgeschichte des BdV im Rahmen der
Dauerausstellung an?

13. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, dass die in der
Charta der Heimatvertriebenen niedergelegte und bis heute aufrechterhal-
tene historische Bewertung: „Die Völker der Welt sollen ihre Mitverant-
wortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit
am schwersten Betroffenen empfinden“ (Charta der Heimatvertriebenen)
eine Verkennung der tatsächlichen Erfahrungen der NS-Zeit in Europa
(Holocaust, Vernichtungskrieg) ist, oder sieht auch die Bundesregierung die
Heimatvertriebenen als die vom Leid der Zeit am schwersten betroffene
Gruppe an?

14. Bis wann wird eine erste Konzeption für eine Dauerausstellung der Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ erstellt sein, und bis wann rechnet die
Bundesregierung mit einer konkreten Umsetzung?

15. Gibt es bereits Vorschläge für weitere potenzielle Mitglieder des wissen-
schaftlichen Beirats der Stiftung, und um welche Personen geht es hier?

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