BT-Drucksache 17/12614

Versorgungssitutaion in der Substitutionsbehandlung

Vom 27. Februar 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12614
17. Wahlperiode 27. 02. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Frank Tempel, Dr. Martina Bunge, Jan Korte, Ulla Jelpke,
Cornelia Möhring, Jens Petermann, Yvonne Ploetz, Kathrin Senger-Schäfer,
Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg und der Fraktion DIE LINKE.

Versorgungssituation in der Substitutionsbehandlung

Die Substitutionsbehandlung bezeichnet die Therapie einer Suchterkrankung
mithilfe eines Ersatzstoffs. Sie wird unter anderem bei Abhängigkeit von
Opiaten, vor allem Heroin, angewendet. Sie stellt hier die momentan erfolg-
reichste Behandlung dar, insbesondere wenn sie durch psychotherapeutische
und psychosoziale Hilfen unterstützt wird (vergleiche PREMOS-Studie).

Die Substitutionstherapie ist seit 1993 in der Betäubungsmittel-Verschreibungs-
verordnung (BtMVV) geregelt. In der Regel wird Methadon angewendet, zu-
nehmend auch der Wirkstoff Buprenorphin und andere Mittel sowie seit dem
Jahr 2009 auch Diamorphin, ein synthetisches Heroin. Alle Substitutionsmittel
sind zugelassene Arzneimittel.

Momentan führt etwa die Hälfte der Opiatabhängigen eine Substitutionsthera-
pie durch (vgl. Drogen- und Suchtbericht 2012). Das ist international ein guter
Wert. Trotzdem heißt das auch, dass etwa die Hälfte der Betroffenen nicht sub-
stitutionsbehandelt werden.

Prekär ist die Lage insbesondere bei der Diamorphin-Substitution. Diese Thera-
pieoption wurde im Jahr 2009 mit den Stimmen aller Fraktionen außer der Frak-
tion der CDU/CSU im Deutschen Bundestag beschlossen. Ein Modellversuch
erbrachte ausgesprochen positive Ergebnisse, doch seit der Überführung in die
Regelversorgung ist bislang keine einzige Diamorphin-Ambulanz hinzugekom-
men (Stand: Februar 2013). Noch immer ist der gesamte Osten Deutschlands
unversorgt. Mit dafür verantwortlich waren unter anderem hohe Auflagen, die
der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) definiert hat (vgl. Umfrage des
G- BA zur Diamorphin-Richtlinie 2012). Diese wurden erst im Januar 2013
erheblich gelockert. Mit verantwortlich gemacht wird aber auch die Ausge-
staltung der BtMVV (vgl. „Vorschlag zur Veränderung der BtMVV“ von akzept
e. V und der Deutschen AIDS-Hilfe e. V.).

Die Substitutionsbehandlung ermöglicht in erster Linie die Teilhabe am gesell-
schaftlichen Leben (PREMOS-Studie) und erhöht die gesundheitliche Lebens-
qualität. Sie senkt auch die Infektionsraten mit Hepatitis- und HI-Viren. Wie bei

der Behandlung anderer chronischer Krankheiten, steht die Stabilisierung des
Gesundheitszustands und der sozialen Situation der Betroffenen im Mittelpunkt.
Nur einem kleineren Teil der Behandelten gelingt es, letztendlich auch auf das
Substitut zu verzichten (PREMOS-Studie). Der Nutzen, also die positive Aus-
wirkung auf Sterblichkeit, Morbidität und Lebensqualität, ist dennoch seit lan-
gem unbestritten.

Drucksache 17/12614 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Die BtMVV schreibt als vorrangiges Behandlungsziel die Abstinenz vor und
steht damit im Widerspruch zur internationalen medizinischen Wissenschaft
(vgl. PREMOS-Studie). Sie bindet untergesetzliche Normen, wie etwa die Leit-
linie der Bundesärztekammer (BÄK) und die Richtlinie des G-BA, und ver-
hindert zusehends, dass neue medizinische Erkenntnisse in die Behandlung ein-
fließen können. Auch die strikten Regelungen zum Beikonsum anderer Drogen,
wie Cannabis oder Alkohol, aber auch von Opioiden, stehen nach Auffassung
von Expertinnen und Experten im Widerspruch zur Lebens- und Behandlungs-
realität (Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg,
Projekt zur Evaluation der missbräuchlichen Verwendung von Substitutions-
mitteln in Deutschland, 2009). Sie verhindern demnach nicht nur Therapie-
erfolge, sondern zwingen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte in einen
Konflikt zwischen ärztlichen Leitlinien und Betäubungsmittelrecht. Die recht-
liche Unsicherheit hat dazu geführt, dass etliche Ärztinnen und Ärzte vor
Gericht verurteilt wurden und andere daraufhin ihre Tätigkeit als Substitutions-
ärztinnen und -ärzte aufgaben. So droht etwa in Niederbayern die Substitutions-
behandlung zusammenzubrechen (Paritätischer Wohlfahrtsverband Bayern, 3. No-
vember 2012).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Menschen befinden sich derzeit in einer Substitutionsbehandlung,
und wie viele Opiat-Abhängige gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung
in Deutschland?

2. Wie hat sich die Zahl der Menschen in einer Substitutionstherapie und wie
die Zahl der substituierenden Ärztinnen und Ärzte in den letzten zehn Jahren
entwickelt?

3. Welche Ursachen sieht die Bundesregierung für die Entwicklung der Zahl
der substituierenden Ärztinnen und Ärzte, und sieht sie hier Handlungs-
bedarf?

Sieht die Bundesregierung insbesondere die Ausgestaltung der BtMVV als
mitverantwortlich für die Entwicklung der Zahl der Substitutionsärztinnen
und -ärzten an?

4. Wie viele Ärztinnen und Ärzte mit Substitutionserlaubnis führen keine
Substitutionsbehandlungen durch?

Wie beurteilt die Bundesregierung diese Zahl, und welche Ursachen sieht sie
dafür?

5. Wie wird sich nach Einschätzung der Bundesregierung die Zahl der substitu-
ierenden Ärztinnen und Ärzte in der Zukunft verändern (bitte begründen)?

6. Hält die Bundesregierung eine Erhöhung der Zahl der substituierenden
Ärztinnen und Ärzte für wünschenswert, und falls ja, welche Maßnahmen
hat sie dafür eingeleitet?

7. Welche suchtmedizinischen Inhalte sind laut Approbationsordnung während
des Medizinstudiums zu vermitteln?

8. Wie viele Psychotherapeutinnen und -therapeuten gibt es nach Kenntnis der
Bundesregierung in Deutschland, die sich auf Suchttherapie spezialisiert
haben?

Wie hat sich diese Zahl in den letzten zehn Jahren entwickelt?

9. Welchen Stellenwert hat eine Psychotherapie in der Suchtbehandlung nach
Ansicht der Bundesregierung?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12614

10. Wie schätzt die Bundesregierung den Versorgungsgrad der Psychotherapie
für Substitutionsbehandelte ein?

Sieht sie hier Handlungsbedarf?

11. Ist es richtig, dass bis zum Jahr 2010 eine Psychotherapie für Substitutions-
patientinnen und -patienten nicht von der gesetzlichen Krankenversiche-
rung regelhaft erstattet wurde, und falls ja, womit wurde das begründet?

12. Wie viele Personalstellen für die psychosoziale Betreuung (PSB) von Ab-
hängigen gibt es in Deutschland?

Wie hat sich diese Zahl in den letzten zehn Jahren entwickelt?

13. Welchen Stellenwert kommt der PSB in der Suchtbehandlung nach Ansicht
der Bundesregierung zu?

14. Wie schätzt die Bundesregierung den Versorgungsgrad der PSB für Substi-
tutionsbehandelte ein?

Sieht sie hier Handlungsbedarf?

15. Ist nach Ansicht der Bundesregierung der Versorgungsgrad ausreichend,
um die Einbeziehung der Behandlung mit den erforderlichen psychia-
trischen, psychotherapeutischen oder psychosozialen Behandlungs- und
Betreuungsmaßnahmen (§ 5 Absatz 2 BtMVV) flächendeckend zu ge-
währleisten und damit gegebenenfalls die Substitutionsbehandlung erst zu
ermöglichen?

16. In wie vielen Fällen erfolgt nach Kenntnis der Bundesregierung eine
Substitutionsbehandlung ohne Einbeziehung psychiatrischer, psychothera-
peutischer oder psychosozialer Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen
(bitte relative und absolute Zahlen angeben)?

17. Wie viele Substituierte weisen nach Kenntnis der Bundesregierung eine
psychische Komorbidität auf?

18. In welchen Fällen ist nach Ansicht der Bundesregierung eine begleitende
psychiatrische, psychotherapeutische oder psychosoziale Behandlungs-
und Betreuungsmaßnahme nicht erforderlich (vgl. § 5 Absatz 2 Nummer 2
BtMVV)?

19. Wie viele Apotheken nehmen an der Versorgung mit Substitutionsmitteln
teil?

Inwiefern hält die Bundesregierung die Versorgung mit Substitutions-
mitteln durch Apotheken für gesichert?

20. Was ist nach Ansicht der Bundesregierung das primäre Ziel einer Substitu-
tionsbehandlung?

Was schreibt die BtMVV diesbezüglich vor?

21. Wie viele Patientinnen und Patienten erreichen nach Kenntnis der Bundes-
regierung mittels der Substitutionsbehandlung langfristig eine Opiat-Absti-
nenz?

22. Verhält sich eine Ärztin oder ein Arzt rechtswidrig, wenn sie oder er die
Substitutionsbehandlung nicht mit dem primären Ziel der Abstinenz durch-
führt?

23. Stimmt die Bundesregierung der Aussage zu, dass das Abstinenzziel in der
BtMVV einer Substitutionsbehandlung zur Steigerung der Lebensqualität
und zur Wiederherstellung gesellschaftlicher Teilhabe im Wege steht?

24. Welche Behandlungsziele werden nach Kenntnis der Bundesregierung in

der (internationalen) medizinischen Wissenschaft genannt?

Drucksache 17/12614 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

25. Sieht die Bundesregierung in den rechtlichen Vorgaben einerseits und den
fachlichen Vorgaben andererseits einen Widerspruch?

26. Mit welchem Ziel wurde im Januar 2013 ein Verbandsgespräch zur Substi-
tutionsbehandlung im Bundesministerium für Gesundheit durchgeführt
(vgl. Newsletter Nr. 71 der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin e. V.,
Februar 2013)?

Welcher rechtliche Änderungsbedarf wurde vorgetragen?

27. Welchen Regelungszweck soll die BtMVV erfüllen?

Sind nach Ansicht der Bundesregierung alle Regelungen in der BtMVV für
diesen Zweck notwendig und geeignet?

28. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass insbesondere die gesetzliche
Festlegung des Therapieziels diesem Regelungszweck dient (bitte begrün-
den)?

29. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass insbesondere die gesetzliche
Festlegung der Voraussetzungen für eine Substitutionstherapie nach § 5
Absatz 2 BtMVV diesem Regelungszweck dient (bitte begründen)?

Inwiefern berücksichtigt die Regelung den aktuellen Stand der medizini-
schen Wissenschaft?

30. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass insbesondere die gesetzliche
Festlegung der Voraussetzungen für eine Substitutionstherapie mit Diamor-
phin nach § 5 Absatz 9a BtMVV diesem Regelungszweck dient (bitte be-
gründen)?

Inwiefern berücksichtigt die Regelung den aktuellen Stand der medizini-
schen Wissenschaft?

31. Sieht die Bundesregierung die Ausgestaltung der BtMVV als mitverant-
wortlich für die stagnierende Entwicklung bei der Diamorphin-Behandlung
an (bitte begründen)?

32. Was ist Beikonsum im Sinne des § 5 Absatz 8 BtMVV?

Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil der Substituier-
ten mit Beikonsum?

33. Welchen Vergehens macht sich eine Ärztin oder ein Arzt schuldig, wenn er
oder sie ein Substitutionsmittel verschreibt, obwohl ein Beikonsum gemäß
§ 5 Absatz 8 BtMVV stattfindet?

34. Welche Tests müssen nach Kenntnis der Bundesregierung durchgeführt
werden, um Beikonsum zu untersuchen, und wie zuverlässig sind diese bei
den unterschiedlichen Stoffgruppen?

35. Inwiefern sind der Bundesregierung unterschiedliche Vorgaben aus ärzt-
lichen Leitlinien und der BtMVV zum Umgang mit Beikonsum bekannt?

36. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus diesen Unter-
schieden, und sieht sie hier einen Änderungsbedarf in der BtMVV?

37. Welche Mengen von (Levo-)Methadon, Buprenorphin oder anderen Substi-
tutionsmitteln wurden in den letzten zehn Jahren für die Substitutions-
behandlung verordnet?

38. Wie viel von diesen Substanzen wurden in den letzten zehn Jahren auf dem
Schwarzmarkt beschlagnahmt (bitte nach Substanz und Jahren aufschlüs-
seln)?

Wie viel davon stammt nach Einschätzung der Bundesregierung mit Si-

cherheit oder hoher Wahrscheinlichkeit aus der Substitutionsbehandlung
(insbesondere bei dem auch als Schmerzmittel verwandten Buprenorphin)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/12614

39. Wie bewertet die Bundesregierung insgesamt die negativen Effekte auf-
grund der illegalen Weitergabe von Substitutionsmitteln qualitativ und
quantitativ, und welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

Berlin, den 27. Februar 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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