BT-Drucksache 17/12240

Kenntnis der Bundesregierung über die Situation am privatisierten Universitätsklinikum Gießen-Marburg

Vom 29. Januar 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12240
17. Wahlperiode 29. 01. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Harald Weinberg, Diana Golze,
Christine Buchholz, Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich, Werner Dreibus,
Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Sabine Leidig, Yvonne Ploetz, Kathrin
Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Kenntnisse der Bundesregierung über die Situation am privatisierten
Universitätsklinikum Gießen-Marburg

Im Jahr 2006 verkaufte das Land Hessen die Universitätsklinikum Gießen und
Marburg GmbH (UKGM) an den privaten Betreiber RHÖN-KLINIKUM Aktien-
gesellschaft. Es handelt sich um die europaweit erste Privatisierung eines Uni-
versitätsklinikums.

Sechs Jahre nach dem Verkauf kommt das Klinikum aus den Schlagzeilen nicht
heraus. Das Bundesverfassungsgericht stellte im Januar 2011 fest, dass die im
Zuge der Privatisierung erfolgte Überleitung der Arbeitsverhältnisse rechts-
widrig war und den Beschäftigten ein Widerspruchsrecht eingeräumt werden
muss, das ihnen die Rückkehr zum Land ermöglicht. Im Juni 2011 wird bekannt,
dass das 120 Mio. Euro teure Partikeltherapiezentrum, dessen Errichtung in den
Verträgen zwischen dem Land und der RHÖN- KLINIKUM Aktiengesellschaft
vereinbart war, nicht in Betrieb genommen wird, weil es sich nicht rechnen
würde.

Im März 2012 stoßen Pläne der UKGM-Geschäftsleitung, Personal abzubauen,
auf vielfachen Widerspruch. Die Senate der Philipps-Universität Marburg und
der Justus-Liebig-Universität Gießen sprechen sich einhellig gegen Personal-
kürzungen aus. Die Klinikdirektoren der Universitätskliniken Gießen und
Marburg erklären in einem offenen Brief: „Das Privatisierungsmodell der
Universitätsklinika Marburg und Gießen scheint uns endgültig gescheitert“. Am
29. März 2012 fordert die Stadtverordnetenversammlung der Universitätsstadt
Marburg, die Privatisierung rückgängig zu machen. Über 2 500 Menschen neh-
men an einer Demonstration gegen den geplanten Stellenabbau teil. Im August
wird eine Petition für die Rückführung der Kliniken in öffentliches Eigentum
mit 1 300 Unterschriften, darunter viele Personen des öffentlichen Lebens, an
den Hessischen Landtag in Wiesbaden überreicht. Eine Unterschriftenliste ge-
gen den Stellenabbau wird von 43 000 Menschen unterzeichnet (Stand Septem-
ber 2012).
Immer mehr Menschen in der Region sind der Auffassung, dass die Privatisie-
rung der Universitätskliniken Gießen und Marburg gescheitert ist und dass diese
infolge dieser Fehlentscheidung in eine bedrohliche Situation gekommen sind,
indem sich die Bedingungen für die medizinische Versorgung der Patienten, die
Arbeit der Beschäftigten aller Bereiche und die qualitativ hochwertige Ausbil-
dung und Forschung in drastischer Weise verschlechtert haben.

Drucksache 17/12240 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

In der Zwischenzeit sind zwei Versuche einen weltweit tätigen Gesundheitskon-
zerns, die RHÖN-KLINIKUM Aktiengesellschaft zu übernehmen, gescheitert
(Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. September 2012). Auch ein weiterer an
einer Übernahme interessierter Krankenhauskonzern scheint zunächst von wei-
teren Plänen Abstand zu nehmen (FOCUS vom 24. September 2012).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Entwicklungen am
UKGM seit der Privatisierung im Jahr 2006?

2. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Entwicklung von Fall-
zahlen und Arbeitsverdichtung am UKGM?

3. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Auswirkungen der
UKGM-Privatisierung auf Forschung und Lehre?

4. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Ertragslage des UKGM
innerhalb des Rhön-Konzerns?

Ist es nach Kenntnis der Bundesregierung richtig, dass das UKGM nach den
Rhön-Geschäftsberichten innerhalb des Konzerns eine sehr geringe Profita-
bilität aufweist?

5. Hat die Bundesregierung Kenntnis über die breite Kritik in Mittelhessen an
den Folgen der Privatisierung, und welche Kenntnisse hat die Bundesregie-
rung über Forderungen nach einem Rückkauf durch das Land Hessen?

6. Hat die Bundesregierung Kenntnis darüber, ob der Betreiber des UKGM,
die RHÖN-KLINIKUM Aktiengesellschaft, einen Verkauf des UKGM
prüft, z. B. wegen nicht erfüllter Renditeerwartungen?

7. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Verbands der Universitäts-
klinika Deutschlands e. V. (VUD), der im Zusammenhang mit dem UKGM
von einem „misslungenen Privatisierungsversuch zweier deutscher Univer-
sitätsklinika“ spricht (www.uniklinika.de)?

Wenn ja, warum?

Wenn nein, warum nicht?

8. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung darüber, ob die Erfahrungen
mit der UKGM-Privatisierung andere möglicherweise angedachte Privati-
sierungen von Universitätskliniken verhindert haben?

9. Hat die Nichterfüllung der Erwartungen an dieses Privatisierungsprojekt
nach Einschätzung der Bundesregierung etwas mit der Größe oder der fach-
lichen Diversifizierung, die eine Universitätsklinik haben muss, oder mit
dem Forschungs- und Lehrauftrag zu tun?

Hat es nach Einschätzung der Bundesregierung sich als sinnvoll und zweck-
gerichtet herausgestellt, diese Aufgaben zu privatisieren?

10. Sieht die Bundesregierung positive Folgen oder Ansätze in der Entwick-
lung, dass seit Jahren immer mehr Kliniken privatisiert werden?

11. Hat die Bundesregierung eine Vorstellung, wie hoch der Anteil an privaten,
freigemeinnützigen und öffentlichen Krankenhäusern und Betten sein soll,
und in welcher Situation könnte es für die Bundesregierung erforderlich
werden, in die Entwicklung durch die Schaffung anderer Rahmenbedingun-
gen einzugreifen?

12. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus Sicht der Bundesregierung
aus den Privatisierungsverfahren am UKGM für die Krankenhausland-

schaft in der Bundesrepublik Deutschland?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12240

13. Teilt die Bundesregierung den Beschluss des Medizinischen Fakultätentages
der Bundesrepublik Deutschland e. V. (MFT), der auf seiner Mitgliederver-
sammlung in Göttingen im Juni 2012 dem Land Hessen in einer Resolution
die Rücknahme des UKGM empfiehlt (www.mft-online.de)?

Wenn ja, welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, das UKGM
wieder in öffentliches Eigentum zu überführen?

Wenn nein, warum nicht?

14. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Partikeltherapie-
methode zur Krebsbehandlung?

15. Welche Kenntnisse liegen der Bundesregierung über den Betrieb der Parti-
keltherapieanlagen „Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrum (HIT)“ und
„GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt“ vor?

16. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die seitens der RHÖN-
KLINIKUM Aktiengesellschaft ursprünglich zugesagte Aufnahme des Be-
triebs der Partikeltherapieanlage am Standort Marburg zu befördern?

17. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der hessischen Ministerin für
Wissenschaft und Kunst, Eva Kühne-Hörmann, welche die mittlerweile
vorerst gescheiterte Übernahme von Rhön durch einen weltweit tätigen
Gesundheitskonzern „als große Chance auch für das Universitätsklinikum
Gießen und Marburg“ bezeichnet hatte (www.hmwk.hessen.de)?

18. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem geschei-
terten Versuch eines weltweit tätigen Gesundheitskonzerns, die RHÖN-
KLINIKUM Aktiengesellschaft zu übernehmen?

19. Erwartet die Bundesregierung weitere Übernahmeangebote für die RHÖN-
KLINIKUM Aktiengesellschaft seitens anderer Gesundheitskonzerne?

20. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus den möglichen
zunehmenden Konzentrationsprozessen im Bereich privater Krankenhaus-
träger, wie sie in den Versuchen verschiedener Konzerne, die RHÖN-
KLINIKUM Aktiengesellschaft zu übernehmen, deutlich werden?

21. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass das „Rhön-Klinikum zum
Spielball von Investoren“ geworden ist, wie es unter anderem das „THE
WALL STREET JOURNAL“ in seiner Ausgabe vom 12. Juli 2012 titelte?

Berlin, den 29. Januar 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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