BT-Drucksache 17/11966

Sanktionen bei Hartz IV und Leistungsvergabe nach § 31a Absatz 3 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, Sachleistungen und geldwerte Leistungen (Nachfrage zur Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage auf Bundestagsdrucksache 17/11459)

Vom 20. Dezember 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11966
17. Wahlperiode 20. 12. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina
Bunge, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz, Kathrin
Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion
DIE LINKE.

Sanktionen bei Hartz IV und Leistungsvergabe nach § 31a Absatz 3 Satz 1 des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, Sachleistungen und geldwerte Leistungen
(Nachfrage zur Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage auf
Bundestagsdrucksache 17/11459)

In der Vergangenheit hat die Fraktion DIE LINKE. schon mehrmals die Sank-
tionspraxis kritisiert und die Abschaffung aller Sanktionen bzw. Leistungsein-
schränkungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und dem
SGB XII gefordert.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht ein unmittel-
bar verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch auf Zusicherung eines menschen-
würdigen Existenzminimums. Das Existenzminimum muss nach dem Bundes-
verfassungsgericht in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein. In seinem
Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz (Bundesverfassungsgericht – BVerfG –,
Urteil v. 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10, Absatznummer 121) hat das Bundes-
verfassungsgericht entschieden: Leistungen, die erheblich unter dem Hartz-IV-
Niveau liegen, sind zur Deckung des lebensnotwendigen Bedarfs evident unzu-
reichend und damit verfassungswidrig. Das Recht auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums sei ein Menschenrecht. Die Menschen-
würde ist nach dem Bundesverfassungsgericht „migrationspolitisch nicht zu re-
lativieren“.

Die Betroffenen von Hartz-IV-Sanktionen leben ebenfalls unter dem Hartz-IV-
Niveau. Binnen der letzten zwölf Monate verhängten die Jobcenter mit über einer
Million Sanktionen mehr als je zuvor (www.welt.de/print/welt_kompakt/print_
politik/article111343229/Neuer-Rekord-bei-Hartz-IV-Sanktionen.html, zuletzt
aufgerufen am 27. November 2012). Im Jahresdurchschnitt 2011 entfielen bei
10 405 der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die Leistungen auf Grund
einer Sanktion vollständig (Bundestagsdrucksache 17/11459, S. 11). Diesen
Menschen wird trotz ihrer Bedürftigkeit über Monate hinweg keine staatliche
Leistung ausgezahlt.

Wie aus der Antwort auf die Kleine Anfrage (Bundestagsdrucksache 17/11459)

hervorgeht, hält die Bundesregierung Leistungskürzungen nach dem SGB II
weiterhin für mit dem Grundgesetz vereinbar und sieht entsprechend keinen
Handlungsbedarf für eine Gesetzesänderung. Die Bundesregierung verweist auf
das „Prinzip des Förderns und Forderns“ und ist der Auffassung, nach diesem
Selbsthilfegrundsatz, der „gesellschaftlich anerkannt“ sei, führten wiederholte
Verstöße „gegen die Selbsthilfeobliegenheiten […] folgerichtig zu verstärkten
Sanktionen“.

Drucksache 17/11966 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Hält die Bundesregierung es für mit dem Grundrecht auf Gewährleistung ei-
nes menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar, wenn Betroffene
ohne Schonvermögen aufgrund einer 30-Prozent-Sanktion nur 70 Prozent
des nach § 20 SGB II maßgeblichen Regelbedarfs erhalten (ersatzlose Kür-
zung)?

2. Hält die Bundesregierung es für mit dem Grundrecht auf Gewährleistung
eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar, wenn Betroffene
ohne Schonvermögen aufgrund einer Sanktion eine Leistung von unter
70 Prozent des Regelsatzes oder gar keine ALG-II-Leistung (ALG = Ar-
beitslosengeld) erhalten und auch keine ersatzweisen Sachleistungen ge-
währt werden?

3. Werden durch die Bundesagentur für Arbeit (wie durch diverse Betroffenen-
vereinigungen auf Grund von Aussagen von Jobcentermitarbeitern seit län-
gerem gemutmaßt wird, vgl. www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/
hartz-iv-werden-argen-sanktionsquoten-vorgegeben-9182.php, zuletzt ab-
gerufen am 27. November 2012) den Jobcentern gegenüber in irgendeiner
Art Vorgaben zur sogenannten Sanktionsquote gemacht, d. h. pauschale
Richtwerte bezüglich einer Sanktionsprozentzahl vorgegeben?

Wenn ja, welchen Wortlaut haben diese Vorgaben (bitte u. U. nach Bundes-
ländern/Regionen aufschlüsseln)?

Was folgt aus einer Nichtberücksichtigung dieser Quote durch einzelne Mit-
arbeiter oder Jobcenter?

4. Ist es zutreffend, dass die Bundesregierung und die Bundesagentur für Ar-
beit Sanktionen für ein geeignetes Mittel der Integration von SGB-II-Leis-
tungsberechtigten in den Arbeitsmarkt halten?

5. Auf welche Art und Weise wird diese Ansicht gegenüber den ausführenden
Jobcentern kommuniziert und/oder verbindlich gemacht?

6. Werden im Rahmen der Zielsteuerung Informationen über unterschiedliche
örtliche Sanktionspraktiken erhoben und ausgetauscht – gegebenenfalls
bitte erläutern: in welcher Form, mit welcher sachlichen Berechtigung, und
mit welcher Absicht?

7. Ist es zutreffend, dass in sogenannten Zielnachhaltegesprächen die Bundes-
agentur für Arbeit oder die Regionaldirektionen gegenüber den örtlichen
Jobcentern dafür plädieren, Sanktionen rechtlich konsequent einzusetzen?

8. Ist die Bundesregierung tatsächlich der Ansicht (wie aus der Antwort zu den
Fragen 6 und 7 der Kleinen Anfrage auf Bundestagsdrucksache 17/11459
hervorgeht), dass eine Belehrung der Betroffenen und die fachlichen Hin-
weise der Bundesagentur für Arbeit ausreichend sicherstellen, dass „Versor-
gungslücken“, d. h. eine Unterschreitung des menschenwürdigen Existenz-
minimums in jedem Einzelfall vermieden werden?

9. Geht die Bundesregierung davon aus, dass allein durch die „fachlichen Hin-
weise“ der Bundesagentur für Arbeit sichergestellt wird, dass sofort nach
einer Antragstellung nicht nur eine Antragsbearbeitung, sondern auch eine
zeitnahe Bewilligung der Sachleistungen erfolgt?

10. Welche Verbindlichkeiten haben die fachlichen Hinweise der Bundesagen-
tur für Arbeit für die zugelassenen kommunalen Träger im SGB II?

11. Ist die Antwort zu den Fragen C.8 und 9 (Antwort auf die Kleine Anfrage
auf Bundestagsdrucksache 17/11459, S. 11): „Der angemessene Umfang
orientiert sich an der Höhe der Sanktion.“, dergestalt zu verstehen, dass

Sachleistungen in einem Wert erstattet werden, die dem Geldwert der je-
weils gestrichenen Leistung entspricht?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11966

Wenn ja – da es sich bei einer Sanktion nicht um die Kürzung einer be-
stimmten Teilleistung, sondern um einen prozentualen Abschlag handelt –,
wie wird in der Praxis festgestellt, ob gekürzte Leistung und beantragte
Sachleistung übereinstimmen und damit die beantragten Sachleistungen
„angemessen“ sind?

12. Was sind geldwerte Leistungen im Sinne des § 31a Absatz 3 Satz 1 SGB II?

Werden die Betroffenen im Falle einer Über-30-Prozent-Sanktion über die
möglichen zu beantragenden geldwerten Leistungen belehrt?

Nach welchen Maßstäben werden diese Leistungen bewilligt?

13. Gibt es im Falle eines vollständigen Wegfalls des ALG-II-Anspruchs gemäß
§ 31a Absatz 1 Satz 3 SGB II (Totalsanktion) die Möglichkeit, unter Um-
ständen analog zur Beantragung von Sach- und geldwerten Leistungen auch
Direktzahlungen der Miete an den Vermieter zu beantragen?

14. Findet auch bei einem solchen vollständigen Wegfall des ALG-II-An-
spruchs der § 31a Absatz 3 Satz 3 SGB II Anwendung, nach dem das Ar-
beitslosengeld II, soweit es für den Bedarf für Unterkunft und Heizung nach
§ 22 Absatz 1 erbracht wird, an den Vermieter oder andere Empfangsbe-
rechtigte gezahlt werden soll?

Wenn nein, sieht die Bundesregierung hier Handlungsbedarf, um Obdach-
losigkeit zu vermeiden?

15. Wie verhält sich diese Zahl, ausgehend von der mitgeteilten Zahl von durch-
schnittlich 10 405 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die von Total-
sanktion betroffen sind (Antwort zu Frage 11 der Kleinen Anfrage auf Bun-
destagsdrucksache 17/11459) zu der durchschnittlichen Betroffenenzahl im
Jahr 2010?

16. Wie viele Totalsanktionen wurden im Einzelnen von Januar bis Dezember
in den Jahren 2009, 2010 und 2011 verhängt (bitte nach Monaten auf-
schlüsseln)?

17. Ist die Bundesregierung der Auffassung, es sei aus verfassungsrechtlicher
Sicht und vor dem Hintergrund der „Unverfügbarkeit“ des Grundrechts auf
ein menschenwürdiges Existenzminimum zulässig, solchen Betroffenen,
die ihren „Pflichten“ wiederholt nicht nachkommen und keine Sachleistun-
gen beantragen – sei es versehentlich oder aus Gründen bewusster Verwei-
gerung – bei festgestellter Bedürftigkeit und ohne Schonvermögen die
(über)lebensnotwendigen Bedarfe zu verweigern?

18. Hält die Bundesregierung es für möglich oder für ausgeschlossen, dass nach
der derzeitigen Gesetzeslage Betroffene, die – sei es versehentlich oder be-
wusst – ihren „Selbsthilfeobliegenheiten“ wiederholt nicht nachkommen,
infolge einer „Totalsanktion“ in Einzelfällen ihre Wohnung verlieren?

19. Hält die Bundesregierung es für möglich oder für ausgeschlossen, dass nach
der derzeitigen Gesetzeslage Betroffene, die – sei es versehentlich oder be-
wusst – ihren „Selbsthilfeobliegenheiten“ wiederholt nicht nachkommen
und keinen Antrag auf Ersatzleistungen stellen, infolge einer „Totalsank-
tion“ in Einzelfällen hungern müssen?

20. Hält es die Bundesregierung für möglich oder für ausgeschlossen, dass von
einer Totalsanktion Betroffene (z. B. durch Zahlungsrückstand bei ihrer
Krankenkasse) in Einzelfällen Nachteile in der Krankenversorgung erlei-
den?

Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, in denen solche Nachteile trotz
einer Nachrangversicherung nach § 5 Absatz 1 Nummer 13a SGB V ent-

standen sind?

Drucksache 17/11966 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

21. Hält die Bundesregierung die in den Fragen 18 bis 20 angeführten Folgen

für vertretbar oder gar für „folgerichtig“?

Wie vereinbart die Bundesregierung diese möglichen Folgen mit der Vor-
gabe des Bundesverfassungsgerichts, nach denen „das Existenzminimum in
jedem Einzelfall sichergestellt“ (BVerfG v. 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09,
Rn. 205) sein muss?

22. Sofern die Bundesregierung die in den Fragen 18 bis 20 angeführten Folgen
für ausgeschlossen hält, welche Schlussfolgerungen zieht sie aus den Er-
gebnissen der „Explorationsstudie zu Auswirkungen von Totalsanktionen
bei Arbeitslosengeld-II-Empfängern“ von Nicolas Grießmeier (www.
socialnet.de/materialien/123.php) und den Forschungsergebnissen zu Total-
sanktionen in seinem Buch „Der disziplinierende Staat“ (Grünwald 2012,
S. 45 bis 58)?

23. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der Schlussfolgerung
der Explorationssstudie von Nicolas Grießmeier, nach der eine Totalsank-
tion „nach Selbsteinschätzung in 7 von 8 Fällen weder zu einer Verbesse-
rung der Zusammenarbeit mit der ARGE noch zu einer Annäherung an den
Arbeitsmarkt“ (www.socialnet.de/materialien/123.php) führte?

24. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Mitglieds des Vorstands der
Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, der am 4. Dezember 2012 in der
ARD-Talkshow „Menschen bei Maischberger“ sagte: „Es gibt keinen
Hartz-IV-Empfänger, der auch sanktioniert ist, der hungern muss, auch bei
Totalsanktion“ (ab Minute 29:50)?

25. Teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung des Mitglieds des Vor-
stands der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, zur Auslegung der
„Kann-Bestimmung“ in § 31a Absatz 3 Satz 1 SGB II als zwingende Rege-
lung (Heinrich Alt sagte am 4. Dezember 2012 in der ARD-Talkshow
„Menschen bei Maischberger“: „Lebensmittelgutscheine sind zwingend,
weil es ums Existenzminimum geht“ – ab Minute 32:58)?

26. Teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung des Mitglieds des Vor-
stands der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, der am 4. Dezember
2012 in der ARD-Talkshow „Menschen bei Maischberger“ zu der Häufig-
keit der Verhängung von Sanktionen äußerte: „Wir können aber nur eine
Sanktion in einem Quartal einmal verhängen“ (ab Minute 31:42)?

Wenn ja, aus welcher Rechtsnorm ergibt sich diese Rechtsansicht?

Entspricht sie der gegenwärtigen Praxis in den Jobcentern?

27. In welcher Form und innerhalb welches Zeitraums strebt die Bundesregie-
rung eine „differenziertere Erfassung und Darstellung der Streitgegen-
stände“ zur Thematik Sachleistungsvergabe (Antwort zu den Fragen 12 bis
15 der Kleinen Anfrage auf Bundestagsdrucksache 17/11459) an?

Berlin, den 20. Dezember 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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