BT-Drucksache 17/11850

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 13./14. Dezember 2012 in Brüssel

Vom 11. Dezember 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11850
17. Wahlperiode 11. 12. 2012

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Alexander Ulrich, Dr. Diether Dehm, Andrej Hunko,
Thomas Nord, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Matthias W. Birkwald,
Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen, Werner Dreibus, Annette Groth,
Heike Hänsel, Inge Höger, Harald Koch, Jutta Krellmann, Stefan Liebich,
Niema Movassat, Paul Schäfer (Köln), Michael Schlecht, Sahra Wagenknecht,
Katrin Werner, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 13./14. Dezember 2012 in Brüssel

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der 14. November 2012 wurde vom Europäischen Gewerkschaftsbund als
ein „historischer Moment in der europäischen Gewerkschaftsbewegung“ be-
zeichnet. Europaweit sind Millionen Menschen gegen die sozialfeindliche
Kürzungspolitik auf die Straße gegangen oder haben sich an Streiks betei-
ligt. In Portugal, Spanien, Malta und Zypern haben die Gewerkschaften mit
Generalstreiks ihren Protest landesweit eindrucksvoll demonstriert, in Grie-
chenland, Italien und Belgien legten Beschäftigte für mehrere Stunden die
Arbeit nieder. Unter dem Motto „Für Arbeit und Solidarität: Nein zur sozia-
len Spaltung!“ rief auch der Deutsche Gewerkschaftsbund zu Kundgebun-
gen und Solidaritätsaktionen auf.

2. Die große Beteiligung am europäischen Aktionstag zeigt, dass die Men-
schen in Europa immer weniger bereit sind, unsoziale Kürzungsdiktate,
Rekordarbeitslosigkeit und Demokratieabbau hinzunehmen. Die sozialen
Proteste und Streikaktionen sind die Antwort der breiten Bevölkerung in den
EU-Mitgliedstaaten auf das von der Bundesregierung dominierte Krisen-
management, dessen Scheitern offenkundig geworden ist.

3. Im Zuge des europäischen Krisenmanagements sind gewerkschaftliche
Rechte in einer Reihe von Staaten massiv eingeschränkt worden. Die Grie-
chenland und Portugal verordneten Strukturanpassungsprogramme der
Troika (aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationa-
lem Währungsfonds) enthalten zahlreiche Forderungen, die auf die Zerstö-
rung des Tarifsystems und Entmachtung der Gewerkschaften abzielen. Um
noch drastischere Lohnkürzungen durchzusetzen, sollen die Beschäftigten

und ihre Organisationen geschwächt und entrechtet werden. Ein solches Kri-
senmanagement ist inakzeptabel.

4. Während die Rechte von Unternehmen und ihre grenzüberschreitenden Ak-
tivitäten im Rahmen des gemeinsamen Binnenmarktes europarechtlich ab-
gesichert sind, gilt dies nicht für grenzüberschreitende Arbeitskämpfe von
Beschäftigten und Gewerkschaften. Dieser Diskrepanz muss ein Ende ge-

Drucksache 17/11850 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

setzt werden, indem sichergestellt wird, dass die Beschäftigten ihre Rechte
und Interessen auch grenzüberschreitend und EU-weit wahren können. Die
Einschränkungen des Streikrechts durch die EU-Verträge und insbesondere
durch die Grundrechtecharta und ihre Erläuterungen, welche die arbeitneh-
merfeindliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kodifizieren
und als Leitfaden für die Auslegung des Streikrechts dienen sollen, müssen
aufgehoben werden. Stattdessen ist ein umfassendes, grenzüberschreitendes
und EU-weites Streikrecht europarechtlich zu garantieren, welches auch das
Recht auf politischen Streik und Generalstreik mit einschließt.

5. Eine zusätzliche Relativierung des Streikrechts in der EU wurde durch die
neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs forciert. In verschie-
denen Urteilen (z. B. „Viking“, „Laval“ und „Rüffert“) hat der Gerichtshof
den Schutz der Grundfreiheiten des Binnenmarktes über den Schutz der Ar-
beitnehmerrechte gestellt. Damit wurde ein Generalangriff auf die Möglich-
keit von Gewerkschaften, mit Streiks oder Tarifverträgen gegen Sozialdum-
ping vorzugehen, vollzogen, der auch im Widerspruch zu internationalen
Verpflichtungen der EU-Mitgliedstaaten steht wie der Europäischen Men-
schenrechtskonvention und der Europäischen Sozialcharta. Tarifautonomie
und Streikrecht sind Grundbestandteile sozialer Demokratie, die nicht den
marktliberalen Grundfreiheiten geopfert werden dürfen. Daher ist es not-
wendig, eine soziale Fortschrittsklausel, wie sie seit Jahren vom Europä-
ischen Gewerkschaftsbund gefordert wird und die den Vorrang der Grund-
rechte und Grundwerte vor den Grundfreiheiten des Kapitals primärrechtlich
gewährleistet, in die EU-Verträge aufzunehmen.

6. Im internationalen Vergleich weist Deutschland weniger Streiktage auf als
alle anderen EU-Staaten. Dies ist auch eine Folge der restriktiven Regelun-
gen des deutschen Streik- und Tarifrechts. So gelten beispielsweise General-
streiks und politische Streiks in der Bundesrepublik Deutschland nach vor-
herrschender Rechtsprechung als unzulässig. Die Begrenzung des Streik-
rechts auf tariflich regelbare Ziele sowie das gewerkschaftliche Streikmono-
pol wurden vom Sachverständigenausschuss (seit 1998 Europäischer
Ausschuss für soziale Rechte), dem für die Kontrolle der Einhaltung der
Europäischen Sozialcharta zuständigen Organ, als Verstoß des deutschen
Arbeitskampfrechts gegen die Europäische Sozialcharta aufgezeigt. Die
Europäische Sozialcharta, die durch den Deutschen Bundestag ratifiziert
worden ist, stellt eine von der Bundesrepublik Deutschland eingegangene
völkerrechtliche Verpflichtung dar und bindet sowohl die Rechtsprechung
als auch den Gesetzgeber hinsichtlich ihrer Umsetzung. Die „Empfehlung“
des Ministerkomitees des Europarates aus dem Jahr 1998, die Ergebnisse
des Sachverständigenausschusses zu berücksichtigen, hat die Bundesregie-
rung bisher nicht befolgt. Der Verstoß gegen die Europäische Sozialcharta
wurde 2010 vom Europäischen Ausschuss für soziale Rechte erneut bekräf-
tigt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich beim Europäischen Rat dafür einzusetzen, dass Anpassungsprogramme
mit den Krisenstaaten keinerlei Auflagen enthalten, welche die Rechte von
Gewerkschaften beschneiden;

2. sich beim Europäischen Rat dafür einzusetzen, dass durch eine entspre-
chende Änderung der EU-Verträge ein umfassendes, EU-weites, grenzüber-
schreitendes Streikrecht auf EU-Ebene gewährleistet wird;

3. auf Ebene des Europäischen Rates Initiativen zur Einführung der vom Euro-
päischen Gewerkschaftsbund geforderten Sozialen Fortschrittsklausel in die

EU-Verträge zu ergreifen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11850

4. in Deutschland das Streikrecht gemäß der Europäischen Menschenrechts-
konvention und der Europäischen Sozialcharta dahingehend auszubauen,
dass auch das Recht auf politischen Streik und Generalstreik gewährleistet
wird.

Berlin, den 11. Dezember 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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