BT-Drucksache 17/11697

Sofortige humanitäre Hilfe für Syrien leisten - Diplomatische Verhandlungslösung für den Konflikt fördern

Vom 28. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11697
17. Wahlperiode 28. 11. 2012

Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz,
Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger,
Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord,
Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Katrin Werner
und der Fraktion DIE LINKE.

Sofortige humanitäre Hilfe für Syrien leisten – Diplomatische Verhandlungslösung
für den Konflikt fördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Auch nach dem Scheitern der vereinbarten Waffenruhe zum muslimischen
Opferfest gilt weiterhin: Nur wenn ein Waffenstillstand durchgesetzt wird, kann
das Leid der Menschen in Syrien gemindert werden. Die Bemühungen des
Sondergesandten der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga, Lakhdar
Brahimi, müssen unterstützt werden. Hilfreich könnte die Rückkehr zu den
Genfer Vereinbarungen vom 30. Juni 2012 sei.

Die humanitäre Lage in Syrien und den umliegenden Ländern ist dramatisch und
wird sich durch den bevorstehenden Winter weiter verschlechtern.

Im Laufe der vergangenen 19 Monate soll es nach Schätzungen der Vereinten
Nationen bis zu 30 000 Tote gegeben haben. UN OCHA (United Nations Office
for the Coordination of Humanitarian Affairs) spricht von derzeit ca. 360 000 re-
gistrierten Flüchtlingen. Es ist zu befürchten, dass sich diese Zahl in diesem
Winter auf 750 000 erhöht. Hinzu kommen mehr als 1,5 Millionen Binnen-
flüchtlinge, die innerhalb Syriens vor Kampfhandlungen fliehen, oft in die kur-
dischen Gebiete Syriens. Zudem leben in Syrien zahlreiche palästinensische
(225 000) und über eine Million irakische Flüchtlinge, deren Lebenssituation
besonders bedrohlich ist.

Als Folge der Kampfhandlungen aber auch der Sanktionspolitik durch die EU
und die USA hat sich die ohnehin schon angespannte Versorgungslage der
Bevölkerung noch weiter verschlechtert. Der Präsident des Internationalen
Komitees vom Roten Kreuz, Peter Maurer, der am 4. September 2012 mit
Staatspräsident Baschar al-Assad über humanitäre Hilfe für Syrien verhandelt
hat, unterstreicht die dringende Notwendigkeit, angesichts der katastrophalen

Lage der Menschen in Syrien Hilfe zu leisten.

Die medizinische Versorgung des Landes steht vor dem Zusammenbruch, von
88 Krankenhäusern sind 59 beschädigt und 17 komplett zerstört.

Die Vereinten Nationen gehen von insgesamt mehr als 3 Millionen vom Krieg
Betroffenen und von 2,5 Millionen Hilfsbedürftigen aus. Seit Anfang September
2012 wurden bereits 1,5 Millionen Menschen mit Nahrungsmitteln versorgt.

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Die Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung in Höhe von 93,3 Mio. Euro und die
Aufnahme von rund 5 000 Flüchtlingen in Deutschland reichen angesichts der
Katastrophe in Syrien nicht aus.

Dass der Kofi-Annan-Plan nicht umgesetzt werden konnte, hat den Handlungs-
spielraum für eine friedliche Konfliktlösung beträchtlich eingeengt. Was als
demokratischer und sozialer Protest gegen die absolute und autoritäre Macht in
Syrien begann, wurde unter vielfachem Einfluss in eine andere Richtung getrie-
ben. Präsident Baschar al-Assad und seine Regierung haben mit ihrem teilweise
äußerst brutalen Vorgehen gegen die demokratische Opposition eine erhebliche
Verantwortung für die Gewalt in Syrien.

Der Konflikt in Syrien wurde zudem von außen angeheizt und militarisiert. Die
Türkei und die Golfstaaten, besonders Saudi-Arabien und Katar, unterstützen
den bewaffneten Aufstand in Syrien finanziell und beliefern die Aufständischen
mit Waffen, während Russland weiterhin die syrische Regierung mit Waffen be-
liefert. Waffenlieferungen in diesen todbringenden Konflikt sind unverantwort-
lich und müssen eingestellt werden.

Die erzwungene Landung eines syrischen und eines armenischen Passagierflug-
zeugs in der Türkei unter dem Vorwand des Verdachts auf Waffentransporte ist
nicht akzeptabel. Unakzeptabel ist auch der Interventionsbeschluss des tür-
kischen Parlaments. Deutschland ist mit der Türkei durch die Mitgliedschaft bei-
der Staaten in der NATO eng verbunden und könnte in diesen Konflikt hinein-
gezogen werden. Es war richtig, dass die Bundesregierung beide Seiten zur
Zurückhaltung aufgefordert hat. Bei dieser politischen Linie sollte die Bundes-
regierung bleiben.

Die Bundesregierung hat jedoch ihre Möglichkeiten zur Vermittlung, etwa als
einflussreiches Mitglied der Vereinten Nationen, nicht genutzt und sendet wider-
sprüchliche Signale aus. Einerseits warnt sie davor, durch eine militärische
Intervention einen Flächenbrand in der Region hervorzurufen, andererseits be-
hält sie sich zusammen mit anderen NATO-Partnern diese Option weiterhin vor.
Es erweist sich heute als ein schwerwiegender Fehler, dass die Bundesregierung
und die Regierungen anderer EU-Mitgliedstaaten die diplomatischen Beziehun-
gen zu Syrien herabgesetzt und Gesprächsfäden zur syrischen Regierung ge-
kappt haben. In den vergangenen Monaten hat sich die Bundesregierung durch
Unterstützungsmaßnahmen für eine ausgewählte Gruppe von Oppositionellen,
vor allem des Syrischen Nationalrats (SNC), immer tiefer in die höchst wider-
sprüchliche Situation in Syrien verstrickt.

Diese Herangehensweise erschwert auch das Bemühen des UN-Sicherheitsrates
um eine gemeinsame Resolution unter Einschluss von Russland und China, die
gleichermaßen die Gewalt beider Konfliktparteien in Syrien verurteilt und eine
militärische Einmischung Dritter in den Konflikt ausschließt. Die Ausrichtung
von Treffen der „Freunde Syriens“ zur Neustrukturierung der syrischen Wirt-
schaft durch das Auswärtige Amt und die Unterstützung des Projekts „The Day
after“ durch die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik hat auch in
der syrischen Opposition tiefgreifende Irritationen ausgelöst.

Die Beendigung des Bürgerkrieges und die Öffnung für einen demokratischen
Wandel sind Angelegenheit der syrischen Bevölkerung und erfordern eine
Rückkehr zum Dialog. Bei solchen Aktivitäten liegt die Problematik auch in der
komplexen Situation innerhalb der syrischen Opposition. Im Laufe des Kon-
fliktes haben sich neben dem Syrischen Nationalrat zahlreiche weitere Forma-
tionen gebildet, darunter das Nationale Koordinierungskomitee für einen demo-
kratischen Wandel (NCC). Der stark unter dem Einfluss der Muslimbruderschaft
stehende SNC repräsentiert nur einen kleinen Ausschnitt der syrischen Opposi-
tion. Im Gegensatz zur Ausrichtung des SNC lehnt der NCC die Anwendung mi-

litärischer Gewalt für einen Umbruch ab. Ein Teil setzt auf Verhandlungen mit

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11697

dem Assad-Regime. Es wird deutlich, dass die einseitige Fixierung der Bundes-
regierung auf eine Oppositionsgruppierung kontraproduktiv für eine friedliche
Lösung des Konfliktes sein könnte.

In einen Dialog der Konfliktparteien über die Beendigung der Gewalt in Syrien
sollten Russland und China ebenso wie die anderen Mitgliedstaaten im UN-
Sicherheitsrat sowie der Iran einbezogen werden. Ein weiteres Übergreifen des
Bürgerkrieges auf die Nachbarstaaten muss, wie die dramatische Zuspitzung im
Libanon zeigt, unbedingt verhindert werden. Diplomatische Kontakte zur
syrischen Regierung sind wieder herzustellen. Mögliche Schritte zur Herbeifüh-
rung einer friedlichen Konfliktlösung wären entsprechend: die Verabredung für
einen Dialog aller Konfliktparteien unter Einbeziehung verschiedener oppo-
sitioneller Gruppierungen; humanitäre Hilfsmaßnahmen; ein Stopp aller Waf-
fenlieferungen; sofortige Waffenruhe und die Einleitung von Verhandlungen für
einen Waffenstillstand sowie die Freilassung von Inhaftierten und Verschleppten
auf allen Konfliktseiten. Die Einhaltung der Aufforderung des UN-Sonder-
gesandten Lakhdar Brahimi, das Selbstbestimmungsrecht Syriens nicht weiter
anzutasten, schafft die Voraussetzungen für einen demokratischen Wandel in
Syrien.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Mission des UNO-Sonderbeauftragten Lakhdar Brahimi aktiv zu unter-
stützen. Das bedeutet unter anderem, die Genfer Vereinbarung vom 30. Juni
2012 wieder zur Grundlage des Handelns der Bundesregierung zu nehmen.

Die Genfer Vereinbarung stellt unter anderem fest,

a) dass der Konflikt in Syrien nur beendet werden kann, wenn alle Beteilig-
ten die Gewissheit haben, dass es einen friedlichen Weg in eine gemein-
same Zukunft in Syrien geben wird;

b) dass das syrische Volk dafür verantwortlich ist, die Zukunft des Landes zu
bestimmen und dass dafür alle Gruppen und Segmente der syrischen
Gesellschaft zu befähigen sind, sich an einem Prozess des nationalen
Dialoges zu beteiligen;

c) dass die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität Syriens
respektiert werden muss;

d) dass die Beteiligten der Genfer Verhandlungen einem Anstieg der Mili-
tarisierung des Konfliktes entgegenwirken sollen;

e) dass das Blutvergießen aufhören muss und dass Gewalt in all ihren For-
men ein Ende finden muss durch glaubwürdige und sichtbare Elemente
und Anstrengungen;

f) dass die Freiheit der Bewegung von Journalistinnen und Journalisten im
ganzen Land gewährleistet werden muss und dass die Vereinigungsfreiheit
und das Recht auf friedlichen Protest nach den jeweiligen gesetzlichen
Bestimmungen unabdingbar sind;

g) dass in jedem Fall die Regierung Syriens sofort und vollständig Zugang
für humanitäre Hilfsorganisationen in die von Kämpfen betroffen Berei-
che ermöglichen muss. Die Evakuierung von Verwundeten muss ermög-
licht werden, ebenso die Evakuierung von Zivilisten, die Kampfgebiete
verlassen wollen;

2. humanitäre Hilfe für Syrien auszuweiten. Das heißt,

a) umgehend die Mittel und Maßnahmen für humanitäre Hilfe auch im Rah-

men der UNO, des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und des
Roten Halbmonds zu erhöhen;

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b) sich dafür einzusetzen, dass sich die humanitäre Hilfe auf das Prinzip der
Unparteilichkeit gründet und im Einklang mit dem internationalen Recht
steht. Humanitäre Hilfe ist rasch auch in die kurdischen Gebiete Syriens
zu leiten. Die Koordinierung der humanitären Hilfe könnte durch die
UN- Vertretung in Damaskus erfolgen und sollte von der Bundesregierung
aktiv unterstützt werden;

c) medizinische Hilfe zu leisten, Verletzte nach Deutschland zu bringen und
hier in Krankenhäusern zu behandeln;

3. weitere Flüchtlinge des syrischen Bürgerkrieges aufzunehmen. Das heißt,

a) die Anzahl der Einreisebewilligungen nach Deutschland deutlich zu
erhöhen und in der Europäischen Union dafür einzutreten, dass die
Grenzen für Flüchtlinge des syrischen Bürgerkriegs offengehalten werden
und es zu keiner Zurückweisung Schutzsuchender aus Syrien an den EU-
Außengrenzen kommt;

b) sich gegenüber den Bundesländern für eine humanitäre Bleiberechtsrege-
lung für lediglich geduldete bzw. ausreisepflichtige Personen aus Syrien
einzusetzen und den Studienaufenthalt hier lebender syrischer Studieren-
der ohne finanzielle Leistungen aus Syrien zu sichern;

c) sich dafür einzusetzen, dass Visaanträge syrischer Staatsangehöriger, ins-
besondere von Familienangehörigen in Deutschland lebender Personen,
schnell und positiv bearbeitet werden;

4. Verhandlungen für einen Waffenstillstand zu befördern. Das heißt,

a) die Aktivitäten zu unterstützen, die zu einem Waffenstillstand führen kön-
nen. Dazu gehört auch, intensive Kontakte zur demokratischen, gewalt-
freien Opposition in Syrien aufzubauen und zu erhalten sowie diploma-
tische Beziehungen wieder aufzunehmen;

b) sich im UN-Sicherheitsrat und in der EU dafür einzusetzen, dass keine
Maßnahmen wie militärisch abgesicherte Korridore oder Flugverbots-
zonen ergriffen werden, weiterhin eine militärische Intervention in Syrien
kategorisch abzulehnen und vermittelnd, also deeskalierend, im türkisch-
syrischen Konflikt aufzutreten;

c) sich unabhängig von Lieferanten oder Adressaten grundsätzlich gegen
Waffenlieferungen nach Syrien einzusetzen und befreundete Staaten, wie
die Türkei, Saudi Arabien oder Katar, aufzufordern, weder Waffen noch
Geld in den syrischen Bürgerkrieg zu schleusen;

d) keine Kapitel-VII-Resolution des Weltsicherheitsrates anzustreben.

Berlin, den 28. November 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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