BT-Drucksache 17/11687

Partizipation an forschungsrelevanten Entscheidungen verbessern

Vom 28. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11687
17. Wahlperiode 28. 11. 2012

Antrag
der Abgeordneten Krista Sager, Ekin Deligöz, Kai Gehring, Arfst Wagner
(Schleswig), Katja Dörner, Hans-Josef Fell, Ingrid Hönlinger, Agnes Krumwiede,
Monika Lazar , Dr. Konstantin von Notz, Dr. Hermann E. Ott, Tabea Rößner,
Ulrich Schneider, Markus Tressel und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Partizipation an forschungsrelevanten Entscheidungen verbessern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Im ausklingenden Wissenschaftsjahr 2012 verlangten unterschiedliche zivilge-
sellschaftliche Gruppen, wissenschaftspolitische Akteurinnen und Akteure sowie
interessierte Bürgerinnen und Bürger eine stärkere Teilhabe an wissenschafts-
und forschungspolitischen Entscheidungen. Im Kern geht es dabei um die For-
derung, Forschungs- und Wissenschaftspolitik möge sich stärker als bislang
Prinzipien von Transparenz und Information, Konsultation und Mitbestimmung
verpflichten. Konkret wurden unterschiedliche Ansprüche formuliert, die durch-
aus auch unterschiedliche Ebenen adressierten.

Interessengruppen aus dem Bereich von Nichtregierungsorganisationen mach-
ten sich z. B. dafür stark, an so genannten Agendasettingprozessen stärker betei-
ligt zu werden, um damit Einfluss auf Forschungsthemen und -schwerpunkte zu
nehmen. Andere Forderungen zielten auf mehr Bürgerdialoge und Bottom-up-
Verfahren. Und schließlich ging es auch um die Frage, wie nichtwissenschaft-
liche Akteure und nichtwissenschaftliches Wissen bei konkreten Forschungs-
projekten stärker integriert werden könnten. Als Voraussetzung dafür, dass Bür-
gerinnen und Bürger oder zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure
überhaupt an forschungspolitischen Prozessen teilhaben und an forschungspoli-
tischen Entscheidungszusammenhängen partizipieren können, wurde außerdem
mehr Transparenz über Inhalte, Ziele, Beteiligte und Höhe der Mittel von öffent-
lich geförderten Forschungsprojekten gefordert.

Veränderte Erwartungen an Wissenschaft und Forschung heute

Diese Forderungen zielen auf mehr als nur auf die Ausweitung von Öffentlich-
keitsbeteiligung. Zur Debatte steht ein im Wandel befindliches Verhältnis zwi-
schen Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Hintergrund ist
der rasante gesellschaftliche Bedeutungszuwachs, den wissenschaftliche Er-

kenntnis in den letzten Jahren erfahren hat: Forschung und Wissenschaft werden
heutzutage nicht nur als wichtige Grundlage für gesellschaftlichen Fortschritt,
Innovation und Wohlstandsentwicklung angesehen. Die Erwartung besteht zu-
nehmend auch darin, dass aus der Wissenschaft Antworten und Lösungen für
große gesellschaftliche Fragen und globale Herausforderungen entwickelt wer-
den. Ein weiterer Bedeutungsgewinn ist darauf zurückzuführen, dass Ideologien
und Weltanschauungen an Legitimations- und Begründungskraft in einer plura-

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len Gesellschaft verlieren. Positionen und politische Entscheidungen müssen
sich in der Folge zunehmend durch Verweise auf wissenschaftliche Erkenntnisse
begründen und legitimieren. Dies ist auch Ausdruck einer neuen Verantwor-
tungsrolle, die Wissenschaft in einer pluralen Gesellschaft zugeschrieben wird.

Kein Wunder, wenn vor diesem Hintergrund unterschiedliche Stakeholder ver-
mehrt Partizipationsansprüche stellen und mitreden wollen. Initiativen, Ver-
bände, Vereine, Bürgerinnen und Bürger fordern Spielräume für Mitgestaltungs-
prozesse ein, um aktiv und von Beginn an in politische Entscheidungen über
Forschungsförderprogramme und die Formulierung gesellschaftlicher Erwar-
tungen an die Wissenschaft einbezogen zu werden. Aktuelles Beispiel ist die
Gründung der zivilgesellschaftlichen Plattform „Forschungswende“, in der sich
Umweltverbände, Kirchen, Gewerkschaften, Verbraucherschutz- und entwick-
lungspolitische Verbände zusammengetan haben, mit dem Ziel, Einfluss auf
Forschungsagenden zu nehmen. Sie wollen mitwirken wenn es darum geht, neue
Governanceformen für Wissenschaft und Forschung zu erproben, um sich über
Forschungsbedarfe und Probleme gesellschaftlicher Entwicklung zu verständi-
gen.

Vielfalt in der Wissenschaft wahren

Klar ist allerdings auch, dass Forschung eine eigene Erkenntnisdynamik zu-
grunde liegt. Diese beruht wesentlich auf der Offenheit von Suchprozessen. Wie
der nächste Schritt ist, um vom Bekannten zu neuer Erkenntnis zu gelangen, das
kann nur von der Wissenschaft selber beantwortet werden. Echte große Durch-
brüche gelingen gerade dort, wo sich Forschung im Ungewissen, Unkonventio-
nellen und damit im Risikoreichen bewegt. Was sich hingegen als problem-
lösungsrelevanter Ansatz einmal bewähren wird, was gesellschaftlich „nützlich“
ist, zeigt sich im Regelfall erst in der Anwendung von Forschungsergebnissen,
ist oft unvorhergesehen und kann daher auch nicht gesellschaftlich-konsensual
vorweggenommen oder „geeinigt“ werden. Gesellschaftliche Vorstellungen
über gesellschaftliche Relevanzen von Wissenschaft wiederum folgen oft
Trends und „Moden“. Forschung zu den erneuerbaren Energien oder Islamwissen-
schaften sind Beispiele für Bereiche, die lange Zeit als Nischenthemen galten.
Eine Wissenschaft, die sich nur noch in sicheren Bahnen bewegt, sich nach
politischen Opportunitäten richtet oder Gefälligkeitsforschung betreibt, können
wir nicht wollen. Forschung und Innovation sind insofern elementar darauf an-
gewiesen, dass Gesellschaft und Politik Freiheit und Spielräume für wissen-
schaftliche Vielfalt offenhält.

Bestandsaufnahme erarbeiten

Es ist also sinnvoll, zuallererst eine Bestandsaufnahme zu erarbeiten, um darauf
aufbauend ein präziseres Verständnis darüber zu entwickeln, wo partizipative
Elemente im Forschungs- und Forschungspolitikbereich Sinn machen, wie weit
sie reichen können und wo zu ihrer Durchsetzung Politik gefragt ist. Die Ansatz-
punkte für Partizipation dürften angesichts der unterschiedlichen Formen öffent-
licher Forschungsförderung – wie institutionelle Förderung, Projektförderung
oder Ressortforschung – durchaus unterschiedlich sein. Einen systematischen
Überblick darüber, wo überall in der Forschungsförderung geeignete Ansatz-
punkte für mehr Partizipation liegen, gibt es bislang nicht. Entsprechend fehlt es
auch an einer differenzierten Einschätzung über Geltungsbereiche, also die
Frage, an welchen Stellen partizipative Elemente wie weit gehen können.

Gesellschaftliche Stakeholder einbinden

Politik täte gut daran, dort, wo bislang Agendasettingprozesse im politischen

Raum stattfinden, die Basis der beteiligten Akteure breit und heterogen aufzu-
stellen. Denn Voraussetzung für innovationsfördernde Forschungsagenden,

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bzw. ihre Operationalisierung in Forschungsprogrammen, sind multiperspekti-
vische Diskurse im Vorfeld der Entscheidungsfindung. Entsprechend besteht
eine naheliegende Möglichkeit, Prozesse des Agendasettings stärker partizipativ
zu gestalten, darin, entscheidungsrelevante und beratende Foren und Gremien
aktiv für Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft zu öffnen. Allerdings
bedeutet eine größere Vielfalt in der Zusammensetzung von solchen Foren und
Gremien allein ja noch keine gelungene Partizipation. Erforderlich sind mehr
Transparenz über die Strukturierung von forschungspolitischen Agendasetting-
und Entscheidungsprozessen generell und außerdem Konzepte für ein Capacity
building, das zivilgesellschaftlichen Akteuren Handlungsspielräume eröffnet,
um an entscheidungsrelevanten Diskursen auf Augenhöhe teilnehmen zu können.
In diesem Zusammenhang könnte mehr finanzielle Unterstützung von Koopera-
tionsbeziehungen zwischen Zivilgesellschaft und Wissenschaft ein wichtiger An-
satzpunkt sein. Während es nämlich an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft
und Wirtschaft bereits vielfältige öffentlich unterstützte Kooperationsformen und
-mechanismen gibt, ist dergleichen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft
und Zivilgesellschaft schwach ausgeprägt.

Konzepte für mehr partizipative Beteiligungsprozesse etablieren

Um neue Impulse bei Themenfindung und Ausrichtung zukünftiger Forschungs-
und Entwicklungsschwerpunkte zu setzen, um Forschungs- und Entwicklungs-
bedarfe besser zu identifizieren und die Spannbreite gesellschaftlich relevanter
Fragen zu erfassen, brauchen wir aber auch Grundlagen und Konzepte, nicht nur
wo, sondern auch wie in entsprechende Prozesse partizipative Verfahren besser
integriert werden können. Dabei gilt es auch, die Erfahrungen mit Verfahren und
Methoden partizipativer Beteiligung auszuwerten, wie sie in der Technikfolgen-
abschätzung oder auch international aus Bürgerbeteiligungsprozessen vorliegen.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, Mittel zur Verfügung zu stellen, damit
Konzepte partizipativer Governanceformen etabliert, weiterentwickelt und mit
Blick auf ihre Effekte und Nachhaltigkeit evaluiert werden können.

Bessere Konzepte und Qualitätsstandards sind schon allein deshalb nötig, weil
bestehende Bürgerbeteiligungsverfahren viel zu oft in Frustrationen enden. Wo
es faktisch nichts zu entscheiden gibt, macht Partizipation keinen Sinn, sondern
wird zur „Scheinpartizipation“. Beteiligungsverfahren dürfen nicht dadurch
untergraben werden, dass die Beteiligung als wirkungslos erlebt wird. Das ist
z. B. dann der Fall, wenn Beteiligungsprozesse, statt auf mehr Teilhabe zu zielen,
zur reinen Akzeptanzbeförderung bei öffentlich umstrittenen Technologien be-
trieben werden. Beteiligungsprozesse müssen transparent gestaltet werden.
Dazu gehört es, Zuständigkeiten, Entscheidungskorridore der Beteiligten oder
die Einbettung von Ergebnisse in politische Entscheidungsstrukturen vorab zu
klären. Bürgerdialoge und ähnliche Verfahren sollten ferner professionell mode-
riert, begleitet und nachbereitet werden.

Erfahrungen der transdisziplinären Nachhaltigkeitsforschung nutzen

In der Diskussion um eine stärkere Partizipation der Zivilgesellschaft am For-
schungsprozess sollten ferner die langjährigen Erfahrungen der transdisziplinä-
ren Nachhaltigkeitsforschung auf dem Gebiet partizipativer Forschungsstrate-
gien hervorgehoben werden. Die transdisziplinäre Forschungspraxis verfügt
hier über vielfältige Expertise und best practice zu Beteiligungsverfahren. Auf
ihre konzeptionellen Beiträge zur Partizipation von Praxisakteuren im For-
schungsprozess werden wir in Zukunft verstärkt angewiesen sein, genauso wie
auf transdisziplinäre Ansätze für ganzheitliche Problemlösungsstrategien. Auch
die Forschung kann durch partizipative und transdisziplinäre Prozesse profitie-
ren: Gerade im intensiven Austausch mit nichtwissenschaftlichen Akteurinnen

und Akteuren kann die Kenntnis davon wachsen, welche jeweils die Erfolgsvo-
raussetzungen für einen gelingenden Wissenstransfer sind. Vor diesem Hinter-

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grund ist es unverständlich, warum die transdisziplinäre sozial-ökologische
Forschung im Bundeshaushalt für 2013 eine Kürzung erfährt. Zur Bewältigung
hochkomplexer sozial-ökologischer Problemlagen wie Klimawandel, demo-
grafischer Wandel oder Umweltbelastungen bedarf es einer Verstetigung, Stär-
kung und Weiterentwicklung solcher Ansätze.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die Impulse im Rahmen des Wissenschaftsjahrs 2012 zu mehr Transparenz und
Partizipation aufzugreifen und auf eine nachhaltige Basis zu stellen. Ergänzend
zu Vorschlägen im Antrag „Transparenz als verbindliches Grundprinzip in der öf-
fentlich finanzierten Wissenschaft verankern“ (Bundestagsdrucksache 17/11029)
gilt es, folgende Maßnahmenschritte umzusetzen:

• die Beauftragung einer systematischen Bestandsaufnahme über bestehende
und mögliche Mitwirkungsoptionen von Bürgerinnen und Bürgern und zivil-
gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren an forschungspolitischen Ent-
scheidungszusammenhängen;

• die Auflage eines Programms zur Entwicklung und Aufbereitung konzeptio-
neller Grundlagen für partizipative und inklusive Verfahren im Rahmen von
Forschungsagendasettingprozessen. Dabei kann aufgebaut werden auf Er-
fahrungen mit Verfahren und Methoden partizipativer Beteiligung, wie sie in
der Technikfolgenabschätzung, in der transdisziplinären Nachhaltigkeits-
forschung oder auch international aus Bürgerbeteiligungsprozessen bei For-
schungsfragen vorliegen. Sie können die Grundlage bilden, um best practice,
Kriterien und Standards für erfolgreiche partizipative Verfahren zu identifi-
zieren. In diesem Zusammenhang sollte auch geprüft werden, ob ggf. eine
Anlaufstelle für Fragen zum Thema Bürgerbeteiligung und eine Informa-
tionsplattform etabliert werden sollten;

• laufende Evaluierung und Professionalisierung von bestehenden partizipati-
ven Beteiligungsverfahren. Professionalisierungsbedarf besteht insbesondere
bei Fragen der Transparenz über Zuständigkeiten, Entscheidungskorridore
der Beteiligten und Umgang mit den Ergebnissen der Verfahren. Ein zentra-
les Qualitätsmerkmal von Beteiligungsformaten ist, von vornherein zu klä-
ren, welches Ziel durch das Beteiligungsverfahren erreicht werden soll und
wie weit die eröffneten Gestaltungsspielräume reichen. Partizipationsverfah-
ren sind also daran zu messen, wie transparent sie offenlegen, in welcher Art
die im Verfahren gewonnenen Empfehlungen und Ergebnisse in Entschei-
dungsprozesse eingehen werden;

• die Erweiterung der Zusammensetzung von Beratungsgremien und anderen
Foren, die die Bundesregierung zur Vorbereitung von Forschungsagenden
einsetzt, um Vertreterinnen und Vertreter aus der Zivilgesellschaft;

• Erarbeitung eines Konzepts für ein Kooperationsprogramm, das die Zusam-
menarbeit zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft unterstützt. Darin
sollten auch geeignete Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau für zivilgesell-
schaftliche Gruppen zu Forschungsfragen entwickelt werden;

• Erarbeitung eines Konzepts, wie zukünftig auch in der Ressortforschung
systematisch Forschungsbedarfe und Forschungsfragen partizipativ identifi-
ziert werden können;

• Schaffung eines themenoffenen Programms, das Bürgerinnen und Bürgern
die Chance eröffnet, Kleinforschungsprojekte zu beantragen, um besonders
innovative, originelle und pionierhafte Projekte durchzuführen. Dadurch ent-
stehen für wissenschaftlich interessante Ideen aus der Gesellschaft konkrete

Fördermöglichkeiten. Dieses Pilotprogramm sollte nach vier Jahren evaluiert
werden;

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• eine Aufstockung der Mittel für sozial-ökologische Forschung im Einzel-
plan 30 um jährlich 5 Prozent. Damit soll die sozial-ökologische Forschung
im Sinne von Planungssicherheit nachholend im selben Maße profitieren, wie
dies für die außeruniversitären Forschungseinrichtungen Helmholtz-
Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V., Max-Planck-Gesellschaft
zur Förderung der Wissenschaften e. V., Fraunhofer-Gesellschaft zur Förde-
rung der angewandten Forschung e. V. und der Wissenschaftsgemeinschaft
Gottfried Wilhelm Leibniz e. V. im Pakt für Forschung und Innovation ge-
geben ist.

Berlin, den 27. November 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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