BT-Drucksache 17/11657

Mögliche Diskriminierung von Versicherten durch den Krankenkassen-Wettbewerb

Vom 23. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11657
17. Wahlperiode 26. 11. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana
Golze, Werner Dreibus, Klaus Ernst, Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz, Kathrin
Senger-Schäfer, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Mögliche Diskriminierung von Versicherten durch den Krankenkassen-
Wettbewerb

Die Krankenkassen stehen durch die (im Wechsel oder gemeinsam von den
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN getrage-
nen) Gesundheitsreformen der letzten Jahrzehnte in einem immer härteren
Wettbewerb zueinander. Eine Versichertenstruktur mit vielen finanziell unat-
traktiven Versicherten stellt dabei für die Krankenkassen einen Wettbewerbs-
nachteil dar. So bedienen sich zumindest einige Krankenkassen unzulässiger
oder zweifelhafter Methoden und bewegen solche Versicherte, die zu den
„schlechten Risiken“ gezählt werden, zum Wechsel in andere Krankenkassen
oder versuchen, über „Fangprämien“ ihre Versichertenstruktur lukrativer zu ge-
stalten.

Gesetzlich steht zwar allen Mitgliedern einer gesetzlichen Krankenkasse ein
freies Wahlrecht zu, wobei die Krankenkassen darauf keinen Einfluss ausüben
oder gar insbesondere schwer kranke und teure Versicherte zu einer Kündigung
auffordern dürfen. Dies hat die Bundesregierung auf die Mündliche Frage 57
der Abgeordneten Kathrin Vogler am 7. November 2012 bestätigt.

Dennoch gibt es Diskriminierung von bestimmten Versicherten durch Kranken-
kassen. So berichtete die ZDF-Sendung „Frontal21“ am 30. Oktober 2012, die
KKH-Allianz habe Hunderte von Mitgliedern, die der Kasse den Zusatzbeitrag
schuldig geblieben seien, telefonisch unter Druck gesetzt und systematisch zu-
meist schwer kranken und teuren Mitglieder den Austritt nahegelegt.

Inzwischen zahlen manche Krankenkassen „Fangprämien“ an ihre Angestellten
für die Gewinnung neuer Mitglieder, wobei zum Teil Vorgaben hinsichtlich be-
stimmter Kriterien wie Einkommenshöhe gemacht werden: Chronisch Kranke,
Alte und Menschen mit geringem Einkommen zählen für die KKH-Allianz laut
einem Bericht von „Frontal21“ vom 6. November 2012 dabei nicht zu den er-
wünschten Mitgliedern.

Ehemalige Mitglieder der mittlerweile abgewickelten City-BKK hatten teil-
weise Schwierigkeiten, Mitglied einer anderen Kasse zu werden. Viele andere

Krankenkassen waren offenbar deswegen wenig aufnahmewillig, weil sie die
Befürchtung hatten, mit den ehemaligen City-BKK-Mitgliedern auch die struk-
turellen Probleme der City-BKK zu bekommen.

Diese bekannt gewordenen Beispiele zeigen, dass eine durch den Wettbewerb
motivierte Diskriminierung von bestimmten Versichertengruppen trotz gesetz-

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lichem Verbot existiert und dass die finanziellen Ausgleichssysteme zwischen
den Krankenkassen nicht ausreichen.

Die Wahlfreiheit für die Versicherten führte vor der Einführung des Risikostruk-
turausgleichs (RSA) dazu, dass die Krankenkassen finanziell weit besser da-
standen, deren Versicherte weniger oft und weniger schwer krank waren und de-
ren Mitglieder höhere Einkommen erzielten, da so die Ausgaben für die Kran-
kenkasse niedriger und die Einnahmen höher waren.

Der 1994 eingeführte Risikostrukturausgleich sollte strukturelle Vor- und Nach-
teile von Krankenkassen vor allem hinsichtlich Einkommen, Alter und Ge-
schlecht der Mitglieder und Zahl der Mitversicherten ausgleichen. Im Jahr 2002
wurde ein Risikopool eingeführt für die Versicherung besonders kosteninten-
siver Versicherter. Dennoch mussten die Krankenkassen zur Deckung der Be-
handlungskosten ihrer Versicherten stark unterschiedliche Beitragssätze erhe-
ben, die 2008 von rund 13 Prozent bis über 17 Prozent reichten.

Im Jahr 2009 wurde mit der Einführung des Gesundheitsfonds und damit dem
Ende der Beitragsautonomie der Kassen ein zielgenaues Instrument notwendig,
um Verwerfungen in dem seitdem bestehenden Finanzierungssystem der Kas-
sen zu vermeiden. Dies hat zur Schaffung des morbiditätsorientierten Risiko-
strukturausgleichs (Morbi-RSA) geführt.

Der Morbi-RSA ist zwar tatsächlich zielgenauer als sein Vorgänger; aber auch
er hat Mängel, die längst bekannt sind und bereits behoben sein könnten. Diese
Mängel wurden nicht zuletzt vom Wissenschaftlichen Beirat zur Weiterent-
wicklung des Risikostrukturausgleichs in seinem Gutachten von 2011 und 2012
mit dem Gebot von Änderungen festgestellt.

Alleiniger Grund für die weitere Existenz dieser Mängel ist nach Ansicht der
Fragesteller der fehlende politische Wille der Bundesregierung, das RSA-System
entsprechend auszugestalten.

Die Versicherten der ehemaligen City-BKK hatten es nach der Insolvenz sehr
schwer, eine neue Krankenversicherung zu finden. Die Versichertenstruktur war
durch ein überdurchschnittliches Alter der Versicherten und eine erhöhte
Morbidität geprägt. Das Verhalten vieler Krankenkassen gegenüber ehemaligen
City-BKK-Versicherten zeigt, dass die Krankenkassen negative Folgen durch
die Aufnahme älterer und/oder kränkerer Versicherter erwarten. Trotz Morbi-
RSA ist die Versichertenstruktur und nicht etwa die Verwaltungsstruktur zu-
mindest zu einem wesentlichen Teil verantwortlich für die wirtschaftliche Lage
der Kassen.

Denn für ältere Versicherte und solche mit bestimmten Krankheiten oder Multi-
morbide erhalten die Kassen weniger Geld als sie ausgeben müssen. So nimmt
trotz Morbi-RSA der Grad der Unterdeckung mit steigenden Ausgaben je Ver-
sicherten und mit der Anzahl der Krankheiten eines Patienten, die vom Morbi-
RSA überhaupt erfasst werden (so genannte Hierarchisierte Morbiditätsgrup-
pen, HMG) deutlich zu (vgl. Zeitschrift Gesundheits- und Sozialpolitik G+S,
Heft 1/2012). Außerdem gibt es auch viele Krankheiten, die überhaupt nicht
vom Morbi-RSA erfasst sind. Wenn eine Kasse vermehrt solche Versicherte hat,
dann muss diese den so entstehenden Fehlbetrag durch Einsparungen, z. B. bei
den Leistungen oder durch Zusatzbeiträge oder durch beides ausgleichen.
Ebenso profitieren einige andere Kassen davon, dass durch die den Morbi-RSA
Einnahmen aus dem Gesundheitsfonds die Ausgaben für ihre Versicherten
überschreiten. Diese Krankenkassen können letztlich aufgrund ihrer Versicher-
tenstruktur Prämien an ihre Mitglieder ausschütten.

Die Diskriminierung von älteren, chronisch oder mehrfach erkrankten Ver-
sicherten führt so für Krankenkassen zu wirtschaftlichen Vorteilen. Eine mög-
lichst zielgenaue Ausgestaltung des Morbi-RSA ist darum ein originäres Inte-

resse der Versicherten. Denn jede und jeder von ihnen kann jetzt oder zukünftig

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11657

zu einer Gruppe gehören, die in der derzeitigen unzureichenden Ausgestaltung
des Morbi-RSA für eine Krankenkasse unattraktiv ist, da ihre Krankheiten nicht
oder nicht ausreichend im Morbi-RSA berücksichtigt sind.

Gerade ein wettbewerbliches Gesundheitssystem, wenn es schon von den
politischen Mehrheiten derzeit gewünscht ist, benötigt einen Morbi-RSA, der
Kostenunterschiede von Versichertengruppen möglichst gut ausgleicht, damit
der Wettbewerb nicht auf dem Rücken der Versicherten und Kranken ausge-
tragen wird.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Hat das Bundesversicherungsamt (BVA) inzwischen eine Antwort bzw.
Stellungnahme der KKH-Allianz zu den in der Sendung „Frontal21“ erho-
benen Vorwürfe erhalten?

Gibt es zusätzlich anderweitige neue Erkenntnisse?

2. Sind diese ausgewertet, und was hat diese Auswertung ergeben?

Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung daraus?

3. Welche „allgemeinen Aufsichtsmittel“ (vgl. Antwort der Bundesregierung
auf die Mündliche Frage 57 der Abgeordneten Kathrin Vogler, Anlage 39
des Plenarprotokolls 17/203) stehen der Aufsichtsbehörde zur Verfügung?

Handelt es sich dabei auch um finanzielle Sanktionen?

Welche Höhe können solche Sanktionen annehmen?

4. Welche andere Art von Sanktionen oder Strafen könnten von wem gegen
eine Krankenkasse, die in dieser Form gegen geltendes Recht verstößt, ver-
hängt werden?

5. Welche Konsequenzen für die aufnahmeunwilligen Krankenkassen hatte
das Verhalten vieler Krankenkassen gegenüber Mitgliedern der ehemaligen
City-BKK, denen der Kassenwechsel absichtlich erschwert wurde?

6. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse über den Deckungsgrad der Zu-
weisungen aus dem Gesundheitsfonds für die Versicherten der ehemaligen
City-BKK vor deren Schließung?

7. Sind – neben den im Zuge des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes verbes-
serten Verfahren im Falle einer Schließung einer Krankenkasse – auch
Sanktionsmöglichkeiten eingeführt worden für die Möglichkeiten, die Kas-
sen haben, um unerwünschte Versicherte fernzuhalten?

8. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über vom Sozialverband
Deutschland e. V. (SoVD) am 1. November 2012 gemeldete Vorkomm-
nisse, dass gesetzlich Versicherte, die längere Zeit im Krankengeldbezug
waren, von Kassenmitarbeitern zu einer Kündigung ihres Arbeitsverhält-
nisses gedrängt werden, damit die Krankenkasse diese Ausgaben nicht län-
ger tragen muss?

9. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus Vorgängen, die
in einem Bericht von „Frontal21“ vom 6. November 2012 bekannt wurden,
denen zufolge die KKH-Allianz Prämien für die Gewinnung neuer Mit-
glieder bezahlt und dabei Vorgaben hinsichtlich einer bestimmten Mindest-
einkommensgrenze macht?

Hält die Bundesregierung dieses Vorgehen für gesetzeskonform?

Wenn ja, gibt es gesetzlichen Änderungsbedarf?
10. Gibt es derzeit Anreize für gesetzliche Krankenkassen, Versichertengrup-
pen mit bestimmten Vorerkrankungen, bestimmten Alter und/oder be-

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stimmten Einkommen aus dem Versichertenbestand fernzuhalten, während
gleichzeitig andere Versichertengruppen erwünscht sind?

Welche Versichertengruppen betrifft dies jeweils?

11. Liegen der Bundesregierung Berechnungen vor, die die Angaben von
Dr. Dirk Göpffarth (in G+S, Heft 1/2012) widerlegen, dass sich die
Deckungsquoten nach Ausgabengruppen stark unterscheiden und für die
niedrigste Ausgabengruppe die Deckung im Jahr 2010 über 350 Prozent
lag, also die Kasse mehr als dreieinhalb mal so viel Geld bekommt, wie sie
für diese Versichertengruppe ausgeben muss, dagegen bei so genannten
Hochkostengruppen die Deckungsquote auch unter 50 Prozent oder auch
weit darunter abrutscht?

Welche Auswirkungen können die unterschiedlichen Deckungsquoten auf
das Verhalten der Krankenversicherungen gegenüber den Versicherten aus
den jeweiligen Ausgabengruppen haben?

12. Liegen der Bundesregierung Berechnungen vor, die die Angaben von
Dr. Dirk Göpffarth (in G+S, Heft 1/2012) widerlegen, dass bei jüngeren
Versicherten Überdeckungen bestehen, dagegen im Alter zunehmend Un-
terdeckungen, und dass dies in der fehlenden Annualisierung der Ausgaben
Verstorbener begründet ist?

Welche Auswirkungen können die unterschiedlichen Deckungsquoten auf
das Verhalten der Krankenversicherungen gegenüber den Versicherten aus
unterschiedlichen Altersgruppen haben?

13. Welche legalen Möglichkeiten für gesetzliche Krankenkassen, ihre Ver-
sichertenstruktur im Sinne einer Erhöhung der Deckungsquote für ihre Aus-
gaben durch den Gesundheitsfonds zu verändern, sind der Bundesregierung
bekannt?

14. Ist es für die Bundesregierung erwünscht bzw. hinnehmbar, dass gesetzliche
Krankenkassen im Sinne einer Erhöhung der Deckungsquote für ihre Aus-
gaben ihre Versichertenstruktur optimieren, und sieht sie hier gesetz-
geberischen Änderungsbedarf?

15. Welches nach geltendem Recht gegebenenfalls illegale Verhalten mit dem
Ziel der Verbesserung der Versichertenstruktur ist der Bundesregierung seit
Inkrafttreten des Morbi-RSA bekannt geworden?

16. Welche Krankenkassen sind der Bundesregierung oder dem Bundesver-
sicherungsamt bereits negativ aufgefallen, bei denen der Verdacht nahelag,
es sollten unerwünschte Versicherte ferngehalten oder Bestandsversicherte
in eine andere Kasse gedrängt werden?

17. Stimmt die Bundesregierung darin überein, dass „Fangprämien“, wie sie
nach Berichten nicht nur von der KKH-Allianz, sondern auch von anderen
Kassen, wie der AOK Niedersachsen (Hannoversche Allgemeine Zeitung,
8. November 2012), für die Gewinnung neuer Mitglieder gezahlt werden,
aus dem Gesamtbudget der Kassen bezahlt werden und somit nicht mehr
für die Versorgung von Patientinnen und Patienten Verfügung stehen?

Sind solche Zahlungen sowie weitere Ausgaben für die Versicherten-
gewinnung in der gesetzlichen Krankenversicherung gewünscht, oder sieht
die Bundesregierung hier gesetzlichen Handlungsbedarf?

18. Was nutzt die Werbung der Krankenkassen, die auf die Gewinnung er-
wünschter Mitglieder zur Verbesserung der Deckungsquote abzielt, dem
Gesundheitssystem als Ganzes, und wären die dafür aufgewendeten Geld-
mittel systemisch betrachtet in der Versorgung nutzbringender angelegt?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/11657

19. Welche Vorteile hat eine Krankenkasse mit vielen Versicherten gegenüber
einer Krankenkasse mit weniger Versicherten?

Ist es ein Ziel des Wettbewerbs, die Anzahl der Kassen weiter zu senken?

Auf welche Kassenzahl soll der Wettbewerb hinauslaufen?

Hält es die Bundesregierung für sinnvoll, Fusionen und Insolvenzen von
gesetzlichen Krankenkassen durch einen ungenauen Morbi-RSA zu be-
fördern?

20. Wie hoch ist nach Angaben des Bundesversicherungsamtes die jeweilige
Deckungsquote der Zuweisungen aller einzelnen Kassen?

21. Wie hoch ist die Deckungsquote nach Kassenarten?

22. Weshalb werden nicht möglichst viele Krankheiten im Morbi-RSA berück-
sichtigt, sondern in der Zahl begrenzt?

Was wäre der Nachteil an einem solchen Vorgehen?

23. Welche Verbesserungen des Risikostrukturausgleichs (RSA) hielt der
Wissenschaftliche Beirat und auch das Bundesversicherungsamt im Som-
mer 2012 für geboten?

Welche Veränderungen des RSA sind neben der Annualisierung der Ver-
storbenen im Stellungsnahmeverfahren von den Krankenkassen in diesem
und im letzten Jahr gefordert worden?

Welche dieser Maßnahmen hat die Bundesregierung umgesetzt?

Berlin, den 26. November 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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