BT-Drucksache 17/11589

Auf Flüchlingsproteste reagieren - Residenzpflicht abschaffen

Vom 20. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11589
17. Wahlperiode 20. 11. 2012

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Matthias W. Birkwald,
Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Dr. Lukrezia Jochimsen, Caren Lay, Petra Pau,
Jens Petermann, Raju Sharma, Alexander Süßmair, Frank Tempel, Halina
Wawzyniak, Katrin Werner, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Auf Flüchtlingsproteste reagieren – Residenzpflicht abschaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Deutsche Bundestag begrüßt die aktuellen Proteste der Flüchtlinge, die
mit vielfältigen und entschlossenen Aktionen eindringlich auf ihre oft unerträg-
lichen Lebensbedingungen in Deutschland aufmerksam machen. Sie protestie-
ren gegen das Regime der Abschreckung von Asylsuchenden durch unzumut-
bare Wohnbedingungen in häufig entlegenen Massenunterkünften, die keine
Privatsphäre, Ruhe und Selbstbestimmung zulassen. Sie wehren sich gegen
eine zermürbende und entwürdigende Untätigkeit infolge von Arbeitsverboten.
Auch die mit der Fremdversorgung im Rahmen des Asylbewerberleistungs-
gesetzes (Essenspakete usw.) verbundene alltägliche Entmündigung ist für sie
unerträglich. All dies sind Bestandteile einer Asylpolitik, die auf dem Prinzip
der Abschreckung basiert und damit die Würde des Menschen verletzt.

2. Der Deutsche Bundestag stellt fest, dass die Bundesregierung auch auf parla-
mentarische Anfragen keine nachvollziehbare sachliche Begründung für die
Residenzpflicht benennen konnte (vgl. Bundestagsdrucksache 17/2991). Sie ist
weder für eine Verteilung der Flüchtlinge erforderlich, die im Wege der
Wohnsitzzuweisung erfolgt, noch dient sie der Verfahrensbeschleunigung, da
Asylsuchende selbst für ihre Erreichbarkeit während des Verfahrens Sorge tra-
gen müssen. Der Bundestag erinnert daran, dass in keinem anderen Land der
Europäischen Union derart restriktive Beschränkungen der Bewegungsfreiheit
gelten, so dass sie offenkundig nicht mit Verfahrensanforderungen begründet
werden können.

3. Der mangelnden Begründung der Residenzpflicht stehen ihre diskriminieren-
den, ausgrenzenden und kriminalisierenden Effekte gegenüber. Menschen, die
häufig vor undemokratischen Regimes und Diktaturen geflohen sind, zu deren
Repertoire der Unterdrückungsinstrumente auch die Einschränkung der Bewe-
gungsfreiheit gehört, sehen sich in Deutschland erneut mit dieser massiven Ver-

letzung ihrer Selbstbestimmung konfrontiert. Die Durchsetzung der Residenz-
pflicht ist verbunden mit regelmäßigen Kontrollen im öffentlichen Raum, ins-
besondere in Zügen und an Bahnhöfen. Die Polizei orientiert sich bei diesen
Kontrollen am Äußeren der Reisenden, damit findet unweigerlich ein grund-
rechtswidriges „ethnic profiling“ statt. Die Betroffenen dieses Kontrollregimes
erscheinen der Öffentlichkeit – entweder im direkten Umfeld der Kontrollen

Drucksache 17/11589 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

oder anhand der Statistiken zu Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz – als
Kriminelle, was verbreitete Vorurteile und Rassismus stärkt.

4. Der Deutsche Bundestag kritisiert, dass die zum 1. Juli 2011 in Kraft getrete-
nen Lockerungen der Residenzpflicht völlig unzureichend sind. Sie lassen den
diskriminierenden und kriminalisierenden Charakter der Vorschrift unberührt
und sehen lediglich Ausnahmen für bestimmte Personengruppen vor, welche
zudem im Ermessen der Behörden stehen. Die Gewährleistung eines Men-
schenrechts kann aber nicht nur ausnahmsweise auf Antrag oder im Gutdünken
staatlicher Stellen erfolgen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, um die so genannte Resi-
denzpflicht (Beschränkung der Bewegungsfreiheit) für Asylsuchende und
Geduldete aufzuheben;

2. zusammen mit Flüchtlings- und Wohlfahrtsverbänden, Ländern und Kom-
munen sowie weiteren fachkundigen Akteurinnen und Akteuren ein Kon-
zept für eine menschenwürdige Aufnahme und Unterbringung von Asyl-
suchenden zu erarbeiten und durch entsprechende Gesetzesänderungen
umzusetzen.

Berlin, den 20. November 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Der Suizid des iranischen Asylbewerbers Mohammad R. Ende Januar 2012 in
Würzburg war der Auslöser für Hungerstreiks Asylsuchender, für einen vier-
wöchigen Protestmarsch nach Berlin und für die fortgesetzten Proteste der
Flüchtlinge in Berlin (www.refugeetentaction.net). Sie protestieren gegen ein
Asyl- und Flüchtlingsrecht, das Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“
zu Recht als „menschen- und verfassungsfeindliches Abschreckungsrecht“ be-
zeichnet hat („Vorsicht, Sie betreten Deutschland!“, Süddeutsche Zeitung vom
5. November 2012).

Die Residenzpflicht ist ein zentraler Bestandteil dieser Politik, und die Fraktion
DIE LINKE. hatte bereits mit einem Antrag im Jahr 2010 auf Bundestags-
drucksache 17/2325 ihre Abschaffung gefordert. Die aktuellen Proteste der Be-
troffenen betonen erneut den dringlichen Handlungsbedarf – ungeachtet der
marginalen Änderungen der Rechtslage Mitte 2011.

Auch die derzeitige Praxis einer Zwangsverteilung von Asylsuchenden nach
dem so genannten Königsteiner Schlüssel ohne Berücksichtigung ihrer persön-
lichen Wünsche und nicht selten unter Trennung von Familienangehörigen ist
dringend korrekturbedürftig, zumal es humane und günstigere Alternativen
gibt. Statt Menschen gegen ihren Willen – und häufig gegen den Willen betrof-
fener Kommunen – einen bestimmten Wohnort zuzuweisen, der häufig in länd-
lichen Regionen liegt und die Betroffenen durch die Unterbringung in abgele-
genen Wohnheimen isoliert, sollten bestehende familiäre, persönliche und sons-
tige Beziehungen berücksichtigt und genutzt werden. Private Unterbringungs-
möglichkeiten sollten einer Gemeinschaftsunterbringung stets vorgezogen

werden, im Interesse der Menschen und aus Kostengründen. Die mit Abstand
höchsten Ausgaben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz pro Person waren

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11589

im Jahr 2011 ausgerechnet in Bayern zu verzeichnen, das am stärksten auf das
Sachleistungsprinzip und Sammelunterkünfte setzt: Sie lagen dort um über
40 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Die aus einem Verzicht auf die
Wohnortzuweisung und Residenzpflicht resultierende unterschiedliche finan-
zielle Belastung für Länder und Kommunen kann auf finanziellem Wege aus-
geglichen werden. Es ist humaner, Geld statt Menschen hin- und herzuschie-
ben.

Soweit in einer zeitlich befristeten Aufnahmephase oder in Ausnahmefällen
eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften erforderlich ist, müssen
diese Unterkünfte baulich den Bedingungen einer befristeten Unterbringung
entsprechen und zugleich ein menschenwürdiges Leben, Privatsphäre, Ruhe
und weitestmögliche Selbstbestimmung gewährleisten. Auch eine integrative
psychosoziale Betreuung, frühe Sprachlernangebote usw. müssen Teil eines
solchen Wohnkonzepts sein.

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