BT-Drucksache 17/11002

Keine Modernisierung Russlands ohne Rechtsstaatlichkeit

Vom 17. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11002
17. Wahlperiode 17. 10. 2012

Antrag
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Agnes Brugger,
Viola von Cramon-Taubadel, Kai Gehring, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul,
Ute Koczy, Tom Koenigs, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Lisa Paus,
Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Keine Modernisierung Russlands ohne Rechtsstaatlichkeit

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Zwischen Russland und der Europäischen Union finden vielfältige Kooperatio-
nen auf allen Feldern von Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft statt. Ein
demokratisches und rechtsstaatliches Russland wird die Möglichkeit einer stra-
tegischen Partnerschaft zwischen Russland und der Europäischen Union (EU)
eröffnen. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Modernisierung Russlands
ist Voraussetzung für die von beiden Seiten gewünschte Intensivierung der Be-
ziehungen. Die aktive Unterstützung dieser Modernisierung ist und bleibt ein
Ziel deutscher Politik. Hierzu gehört unabdingbar die Zusammenarbeit bei der
Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Russland, ebenso wie die Förderung der
russischen Zivilgesellschaft.

Der Deutsche Bundestag ist sich der Tatsache bewusst, dass die Transformation
Russlands als Teil der früheren Sowjetunion in einen Rechtsstaat mit einer offe-
nen und pluralistischen Gesellschaft eine gewaltige Herausforderung darstellt.
Mit seinem Beitritt zum Europarat hat sich Russland dieser Herausforderung ge-
stellt und sich zum Aufbau eines solchen Staatswesens verpflichtet. Doch insbe-
sondere seit 2011 häufen sich die Anzeichen dafür, dass die russische Staatsfüh-
rung eine problematische Haltung zum pluralistischen Rechtsstaat hat. Sie stellt
die Zielsetzung einer umfassenden Modernisierung des Landes zunehmend in
Frage.

Sowohl die Wahlen zur Staatsduma am 4. Dezember 2011 als auch die russi-
schen Präsidentschaftswahlen am 4. März 2012 waren durch erhebliche Unre-
gelmäßigkeiten und Manipulationen vor, während und nach dem Urnengang ge-
kennzeichnet. Dies wurde auch durch die Abschlussberichte der ODIHR-Wahl-
beobachtungsmissionen (ODIHR = Office for Democratic Institutions and
Human Rights) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

(OSZE) bestätigt. Die russische Staatsführung verweigert sich damit fortwäh-
rend einer Demokratisierung des Landes.

Des Weiteren ist zu bedauern, dass einige in den zurückliegenden Monaten be-
schlossene Gesetzesänderungen nicht nur nicht dazu geeignet sind, die Entwick-
lung der russischen Zivilgesellschaft zu unterstützen, sondern im Gegenteil
diese gefährden. Zu diesen Gesetzesänderungen zählen u. a. die drastische

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Erhöhung der Strafen für die Teilnahme an für nicht rechtmäßig erklärten De-
monstrationen und die Auflage für Nichtregierungsorganisationen, sich im Falle
der Annahme von finanziellen Zuwendungen aus dem Ausland als „auslän-
dische Agenten“ zu registrieren, öffentlich auszuweisen und einem umfangrei-
chen Kontrollregime durch die russischen Behörden zu unterwerfen. Schließlich
zeugt auch das wiederholte staatliche Vorgehen gegen kritische Stimmen, nicht
zuletzt gegen solche in den Medien, davon, dass es für eine partnerschaftliche
Zusammenarbeit Deutschlands und der Europäischen Union mit der russischen
Staatsführung derzeit an einer gemeinsamen Wertebasis mangelt.

Zu den drängendsten Herausforderungen im Bereich Rechtsstaatlichkeit zählt
die Sicherstellung der Unabhängigkeit der russischen Justiz. Es bestehen erheb-
liche Zweifel daran, dass russische Gerichte ihre Arbeit frei und unabhängig ver-
richten. Reformen im Justizwesen wurden wiederholt angekündigt, messbare
Verbesserungen in diesem Bereich sind jedoch nicht feststellbar. Des Weiteren
sind sowohl russische als auch in Russland investierende ausländische Unter-
nehmen nach wie vor mit einem erheblichen Mangel an Rechts- und Investi-
tionssicherheit konfrontiert. Chronischer Kapitalabfluss aus Russland und struk-
turelle Korruption in der russischen Wirtschaft sind die deutlichen Folgen der
ausbleibenden Modernisierung. Weiterhin problematisch sind die mangelnde
Gewährleistung des Grundrechtsschutzes sowie die anhaltend schlechten Haft-
bedingungen. Daher gilt es bei der Beurteilung von Reformprojekten darauf zu
achten, dass Ankündigungen der russischen Staatsführung sich in der Rechts-
wirklichkeit niederschlagen. Bestehende Gesetze müssen angewandt und Ge-
richtsurteile umgesetzt werden. Die Bundesregierung ist in diesem Zusammen-
hang aufgefordert, wesentlich stärker als bisher zwischen juristischen Vorgaben
und deren tatsächlicher Beachtung in der Praxis zu differenzieren und Miss-
stände konsequent und offen anzusprechen.

Die Missachtung von rechtsstaatlichen Grundsätzen durch staatliche Stellen
zeigt sich in absolut inakzeptablem Ausmaß im Nordkaukasus. So wird auf isla-
mistische Gewalt vor allem mit Gegengewalt reagiert. Dabei werden regelmäßig
schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen und insbesondere die Rechte
von Verdächtigen, deren Angehörigen und sich zu dem Geschehen kritisch
äußernden Personen missachtet. Die staatliche Willkür wird auch nach einschlä-
gigen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte fortgesetzt.
Es fehlt weiterhin an einem glaubwürdigen Angebot zum Dialog, das der bestän-
digen Reproduktion der Gewalt ein Ende setzen könnte. Auch die Lage der
Frauen, insbesondere in Tschetschenien, verschlechtert sich seit Jahren. So wi-
derspricht die eingeführte Vorschrift zum Tragen des Kopftuches in öffentlichen
Gebäuden der russischen Gesetzgebung. Normen des russischen Familien- und
Erbrechts werden de facto vielfach ignoriert, was zur Benachteiligung von
Frauen führt. Gewaltverbrechen gegen Frauen werden nicht oder nur unzurei-
chend polizeilich und juristisch verfolgt.

Der Deutsche Bundestag unterstreicht, dass ihm die Intensivierung der deutsch-
russischen Beziehungen ein ebenso wichtiges Anliegen ist wie die Bekräftigung
der gemeinsamen Modernisierungsbemühungen. Daher gilt es, eine wirkliche
Modernisierung unter Beteiligung der Gesellschaft zu unterstützen. Bis zur Be-
hebung der erheblichen rechtsstaatlichen Defizite und der nachhaltigen Durch-
setzung demokratischer Standards in der russischen Politik ist es noch ein weiter
Weg. Umso bedeutsamer ist aus Sicht des Deutschen Bundestages, dass dieser
beschritten und mit aller Kraft verfolgt wird. Der Deutsche Bundestag begrüßt
in diesem Sinne die neue gesellschaftliche Dynamik, welche in Russland seit
Ende 2011 trotz der festgestellten Widrigkeiten entstanden ist. Die Stärkung der
Zivilgesellschaft insbesondere durch das Ermöglichen grenzüberschreitenden
Austauschs, das Signalisieren von Kooperationsbereitschaft mit ihr und das Un-

terstützen von berechtigten Forderungen, auch im Gespräch mit der russischen
Staatsführung, muss ein Kernanliegen deutscher und europäischer Politik sein.

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Ein abgestimmtes Handeln der EU in den Beziehungen zu Russland ist dabei
eine entscheidende Voraussetzung für eine wirksame Politik.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

• rechtsstaatliche Defizite Russlands, insbesondere die fehlende Unabhängig-
keit der Justiz, konkret zu thematisieren, umfassende Angebote zu deren
Überwindung im Sinne der Modernisierungspartnerschaft zu unterbreiten
und für die Durchführung letzterer transparente, überprüfbare und zeitlich
fixierte Zielvorgaben zu formulieren;

• laufende Projekte im Bereich der Modernisierungszusammenarbeit auf ihre
Wirksamkeit und Nachhaltigkeit zu überprüfen und im Falle des Nichterrei-
chens von Zielvereinbarungen die Projekte ggf. auszusetzen oder abzubre-
chen;

• in die Konzeptionierung, Durchführung und Evaluierung von Modernisie-
rungsprojekten neben staatlichen Partnern auch zivilgesellschaftliche Ak-
teure sowie Vertreterinnen und Vertreter der demokratischen Opposition
Russlands mit einzubeziehen;

• im Rahmen des Europarates und des Ministerrates der OSZE auch weiterhin
gegenüber der russischen Regierung auf die aus der Mitgliedschaft erwach-
senden Verpflichtungen hinzuweisen;

• sich bei der russischen Regierung für die Gewährleistung der Entwicklungs-
möglichkeiten der Zivilgesellschaft durch das Beenden der Verfolgung unab-
hängiger und kritischer Nichtregierungsorganisationen (NGO) unter straf-
und steuerrechtlichen Vorwänden sowie eine entsprechende Revision des
NGO-Gesetzes einzusetzen;

• sich auf europäischer Ebene für eine Lockerung der EU-Visabestimmungen
und die Aufhebung der Visumspflicht nicht nur für Russland einzusetzen, um
insbesondere den zivilgesellschaftlichen Austausch und Begegnungen mit
den demokratischen Gesellschaften Europas zu erleichten;

• in diesem Sinne auch und schon im Vorfeld einer Visaliberalsierung auf EU-
Ebene sicherzustellen, dass bei der Vergabe von Visa durch deutsche Aus-
landsvertretungen großzügig verfahren wird und vorhandene Spielräume im
Rahmen des geltenden EU-Rechts genutzt werden;

• ihre Schlüsselrolle in den europäisch-russischen Beziehungen zu nutzen, um
für ein gemeinsames Vorgehen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union
gegenüber Russland insbesondere beim Umgang mit rechtsstaatlichen Defi-
ziten, ausbleibenden Fortschritten oder Rückschritten in den Modernisie-
rungsbemühungen und der Stärkung der Zivilgesellschaft einzutreten;

• die Schaffung von Instrumenten des zivilgesellschaftlichen Dialogs zu för-
dern, die geeignet sind, offen, flexibel und effektiv die gegenwärtigen Pro-
bleme der deutschen wie der russischen Gesellschaft zu thematisieren und die
zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit zu fördern;

• von der russischen Regierung die Beendigung der Straflosigkeit gegenüber
Verbrechen der Sicherheitskräfte im Nordkaukasus und die Bereitschaft der
russischen Justizorgane zu fordern, Klagen nordkaukasischer Opfer in Er-
mittlungen und Gerichtsverfahren zu verfolgen;

• auch weiterhin darauf zu drängen, dass Urteile des Europäischen Gerichts-
hofs für Menschenrechte vollständig umgesetzt werden;

• sich gegen die Einschränkung der Grundrechte von Frauen insbesondere in

einigen Teilrepubliken des Nordkaukasus einzusetzen und gegenüber der rus-

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sischen Regierung dafür einzutreten, Verantwortliche für Gewaltverbrechen
an Frauen zur Rechenschaft zu ziehen;

• gegenüber der russischen Regierung die vollständige und transparente Auf-
klärung von Gewaltakten bis hin zu Morden an zivilgesellschaftlichen Akti-
vistinnen und Aktivisten, Journalistinnen und Journalisten sowie Personen,
die sich anderweitig um die Thematisierung und Aufklärung von Missstän-
den verdient gemacht haben, einzufordern;

• die Rücknahme der jüngst in einigen Regionen Russlands verabschiedeten
diskriminierenden homophoben Gesetze sowie die endgültige Einstellung
entsprechender Gesetzesvorhaben auf der föderalen Ebene einzufordern.

Berlin, den 17. Oktober 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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