BT-Drucksache 17/10912

Beeinträchtigung der Arzneimitteltherapie durch wirtschaftliche Interessen der Pharmaindustrie

Vom 2. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10912
17. Wahlperiode 02. 10. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Kathrin Vogler, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Ulla Lötzer, Cornelia Möhring, Michael Schlecht,
Kathrin Senger-Schäfer, Sahra Wagenknecht, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Beeinträchtigung der Arzneimitteltherapie durch wirtschaftliche Interessen
der Pharmaindustrie

Die Genzyme GmbH, eine Tochter des Pharmakonzerns Sanofi-Aventis
Deutschland GmbH, hat im August 2012 den Vertrieb des Präparats
MabCampath ® mit dem Wirkstoff Alemtuzumab in Deutschland eingestellt.
MabCampath ® war ein Mittel zur Behandlung von chronisch lymphatischer
Leukämie (CLL), der häufigsten Blutkrebsform bei älteren Menschen. Laut
Genzyme GmbH sind weder fehlende Wirksamkeit, Sicherheit oder Lieferfähig-
keit der Grund für die Einstellung der Vermarktung.

Es stellte sich stattdessen in den letzten Jahren heraus, dass der Wirkstoff auch
gegen Multiple Sklerose (MS) hilft. Nur sind dann erheblich kleinere Dosen
erforderlich und die Jahrestherapiekosten – und damit die Gewinne des Herstel-
lers – wären erheblich niedriger (vgl. Pressemitteilung der Bundesärztekammer
vom 13. September 2012).

Daher will Genzyme den Wirkstoff unter dem Namen Lemtrada zur MS-The-
rapie wieder auf den Markt bringen. Der geringere Bedarf an Wirkstoff pro
Arzneimittel und die höhere Zahl an potenziellen Patientinnen und Patienten
versprechen ein noch einträglicheres Geschäft. „Mit der freiwilligen Marktrück-
nahme und dem geplanten ‚Indikations-Hopping‘ entzieht sich der pU [pharma-
zeutische Unternehmer] seiner Verantwortung auf inakzeptable Weise“ kritisiert
Prof. Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission
der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) und Onkologe (ebenda). Offiziell heißt es je-
doch, die „Marktrücknahme von MabCampath® soll sicherstellen, dass die An-
wendung von Alemtuzumab bei Patienten mit MS ausschließlich innerhalb der
laufenden klinischen Studien erfolgt“ (Informationsschreiben von Genzyme
vom 10. August 2012).

Prof. Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig kommentiert in der „Süddeutschen Zeitung“
(www.sueddeutsche.de vom 18. August 2012):

„Der Antikörper ist bei der CLL in manchen Fällen extrem hilfreich. […] Das

Mittel jetzt einfach vom Markt zu nehmen, um ein neues Patent für die Behand-
lung der Multiplen Sklerose anzumelden und dann den Preis hochzutreiben, ist
schon ein starkes Stück. So eindeutig habe ich das noch nicht erlebt. Hier gilt das
Motto: Wir ziehen ein Mittel vom Markt und bringen es wieder heraus, um noch
mehr damit zu verdienen.“

Laut Hersteller sollen Praxen und Krankenhäuser, deren Patientinnen und
Patienten das Präparat als Krebsmittel dringend benötigen, weiter versorgt wer-

Drucksache 17/10912 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

den. Mittels eines aufwändigen Verfahrens namens Campath Access Program
sollen Packungen über eine Drittfirma (Clinigen) aus den USA oder anderen
Ländern importiert werden. Genzyme spricht in seiner Mitteilung vom 18. Au-
gust 2012 von einem „etwas höheren administrativen Aufwand“. Prof. Dr. med.
Wolf-Dieter Ludwig kritisiert dagegen, „es kann ja wohl nicht sein, dass wir uns
fast heimlich an irgendeine Klitsche wenden müssen, um das Zeug weiter zu be-
kommen. […] Das ist ein Dilemma für Ärzte wie Patienten“ (ebenda). Zudem
tragen nach Ansicht der Genzyme GmbH die verordnenden Ärztinnen und Ärzte
fortan die alleinige Verantwortung für den Einsatz von MabCampath®
(www.pharmazeutische-zeitung.de vom 21. August 2012).

Die Kritik ähnelt der um das Krebsmedikament Avastin® und das Augen-
medikament Lucentis® im Jahr 2007. Auch damals war der Krebswirkstoff
gegen eine andere Krankheit wirksam und wurde – leicht modifiziert und mehr
als 30-mal teurer – mit neuer Indikation auf den Markt gebracht. Bis heute ver-
suchen Ärzteschaft und Krankenkassen, der „Preistreiberei“ (www.sueddeut-
sche.de vom 18. August 2012) durch Verträge im rechtlichen Graubereich Herr
zu werden (vgl. beispielsweise SPIEGEL ONLINE vom 23. August 2012, „Al-
tersblindheit: Streit um Medikamente verunsichert Patienten“; www.kvwl.de,
„Vereinbarungen zur Vergütung der intravitrealen Injektionen“; www.aerztezei-
tung.de vom 14. August 2012, „BVA klopft Kassen auf die Finger“).

Für den Wirkstoff Pentaerithrityltetranitrat (PETN) zur Therapie mangelnder
Herzdurchblutung wird eine bessere Verträglichkeit beschrieben als für Alterna-
tivprodukte, weil es unter anderem weniger Toleranzentwicklung auslösen soll.
Das entsprechende Präparat Pentalong® ist aber nur fiktiv zugelassen, die Nach-
zulassung mit entsprechenden Wirksamkeits- und Unbedenklichkeitsnachwei-
sen nach dem Arzneimittelgesetz steht also noch aus. Diese Nachweise sind
nicht vorgelegt worden, was das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin-
produkte (BfArM) im Jahr 2005 veranlasste, die Nachzulassung zu verweigern
und die Verkehrsfähigkeit nur mit der Auflage weiterer Studien zu erhalten. Die
Studien fehlen bis heute, was wiederum die Krankenkassen im Jahr 2012 dazu
brachte, in korrekter Rechtsanwendung (Urteil des Bundessozialgerichts vom
27. September 2005, B 1 KR 6/04 R), das Präparat nicht mehr zu erstatten. Tau-
sende Patientinnen und Patienten wurden auf möglicherweise weniger verträg-
liche Arzneimittel umgestellt oder zahlten das Präparat gleich selbst – trotz
Krankenversicherung. Die Versorgungsqualität hat unter der Firmenpolitik von
Actavis gelitten. Dabei gilt die Erteilung der Nachzulassung bei Beibringung
aller geforderten Daten als sicher und die jährlichen Millionenumsätze durch
Pentalong® (27 Mio. Euro im Jahr 2011 nach www.apotheke-adhoc.de vom
19. April 2012) hätten eine rechtzeitige Beibringung der erforderlichen Unterla-
gen möglich machen sollen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Unter welchen Voraussetzungen kann die europäische Zulassungsbehörde
(European Medicines Agency – EMA) bzw. die Europäische Kommission
eine Marktrücknahme bei zentral zugelassenen Arzneimitteln verhindern?

2. Unter welchen Voraussetzungen kann das BfArM bzw. das Paul-Ehrlich-
Institut Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel
(PEI) eine Marktrücknahme bei nationalen oder dezentralen Zulassungen
verhindern?

3. Welche Position bezieht die Bundesregierung hinsichtlich der Firmenpolitik
von Sanofi/Genzyme aus ordnungspolitischer Sicht?

Sieht sie die Hersteller in der Pflicht, Verantwortung für die Behandlung von

Kranken oder die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung
zu übernehmen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10912

4. Sieht hier die Bundesregierung einen Verstoß gegen § 52b des Arzneimit-
telgesetzes (AMG)?

Falls nein, welche sonstigen Möglichkeiten haben die Bundesregierung
oder nach Kenntnis der Bundesregierung die Landesregierungen oder Bun-
des- oder Landesbehörden, einer Verschlechterung der Therapiequalität
aufgrund wirtschaftlicher Interessen von Pharmaunternehmen entgegenzu-
wirken?

5. Hält die Bundesregierung eine Gesetzesänderung für sinnvoll, der zufolge
Anträge auf Einstellen des Vertriebs oder Zurückgeben der Zulassung be-
gründet werden sollten?

6. Inwiefern verpflichtet nach Ansicht der Bundesregierung Artikel 2 Absatz 2
des Grundgesetzes (GG) (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit)
in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 GG (Sozialstaatsprinzip) den Gesetz-
geber, auf die freie Wirtschaft Einfluss zu nehmen, wenn andernfalls durch
Marktrücknahmen die Therapie einer schweren Erkrankung verschlechtert
würde?

7. Inwiefern besteht für die Bundesregierung hier grundsätzlich Regelungsbe-
darf, und plant sie eine Neuregelung?

8. Welche Position hat die Bundesregierung bezüglich der Belieferung von
Praxen und Krankenhäusern mit MabCampath® über das Campath Access
Program aus ordnungspolitischer Sicht?

Sieht die Bundesregierung einen Verstoß gegen § 72 ff. AMG?

Welche bürokratischen Hürden müssen die bestellenden Ärztinnen und
Ärzte überwinden, um ihre Patientinnen und Patienten behandeln zu kön-
nen?

Hält die Bundesregierung diese Hürden für notwendig und zumutbar?

9. Sind die Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, MabCampath® zu importieren,
wenn es gemäß der Zulassung und dem anerkannten Stand der Wissenschaft
angezeigt und alternativlos ist?

10. Welche haftungsrechtlichen Konsequenzen hat die Verordnung von
MabCampath® nach August 2012 für die behandelnden Ärztinnen und
Ärzte?

11. Welche Strategien aus Wirtschaft/Selbstverwaltung/Leistungserbringung
sind der Bundesregierung bekannt, die auf den extrem hohen Preis von
Lucentis® reagieren?

12. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung insbesondere hin-
sichtlich Verträgen zwischen Ärzteschaft/Krankenhäusern und Kranken-
kassen, die auf eine Verwendung von Avastin® bei altersbedingter Maku-
ladegeneration (AMD) abzielen?

13. Welche Probleme sieht die Bundesregierung insbesondere im Off-Label-
Gebrauch, und welche haftungsrechtlichen Konsequenzen folgen daraus?

Wie begegnen die Vertragspartner den haftungsrechtlichen Problemen nach
Kenntnis der Bundesregierung?

14. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des
Düsseldorfer Sozialgerichts, welches das grundsätzliche Off-Label-Verbot
gegen die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenkassen abwägt
(Urteil vom 2. Juli 2008, Az. S2 KA 181/07)?

15. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des

Aachener Sozialgerichts, welches den Anspruch auf Behandlung mit
Lucentis® bekräftigt hat (Urteil vom 11. März 2010, Az. S 2 (15) KR 115/

Drucksache 17/10912 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
08 KN), insbesondere in Bezug auf die Auswirkungen der Preispolitik eini-
ger Pharmahersteller auf die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Kranken-
kassen?

16. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Beschluss
des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt, demzufolge durch Versorgungs-
verträge, die von Krankenkassen zur Senkung der hohen Kosten durch
Lucentis® geschlossen wurden, die freie Arztwahl rechtmäßig beschnitten
wird (Beschluss vom 15. April 2010, Az. L5 KR 5/10 B ER)?

17. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des
Oberlandesgerichts Hamburg, das einer Apotheke die Auseinzelung von
Lucentis® zur Kostenreduktion untersagte, auch angesichts der Tatsache,
dass dem Urteil Grundsatzcharakter zugesprochen wird?

Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass damit auch die Aus-
einzelung von Avastin® illegal sei (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom
19. März 2002, Az. B 1 KR 37/00 R sowie Urteil vom 4. April 2006, Az.
B 1 KR 7/05 R)?

18. Sieht es die Bundesregierung als notwendig an, als Reaktion auf das Urteil
des Oberlandesgerichts Hamburg, das sich auf europäisches Zulassungs-
recht beruft, in der Europäischen Union eine Initiative anzustoßen, welche
die Stabilität der Solidarsysteme als prioritär klarstellt, solange die Sicher-
heit der Patientinnen und Patienten nicht gefährdet wird?

19. Enthält das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) Regelungen,
die vergleichbare Fälle bei therapeutischen Solisten wie Lucentis® effektiv
verhindern?

20. Welche Möglichkeiten haben nach Ansicht der Bundesregierung, Gesetzge-
ber und/oder Exekutive, Pharmakonzernen Einhalt zu gebieten, deren Preis-
oder Zulassungspolitik die Therapie der Patientinnen und Patienten oder die
finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung gefährdet?

21. Aus welchen Gründen ist nach Ansicht der Bundesregierung bis heute keine
Abrechnungsziffer (EBM-Nummer) für die Anwendung von Lucentis®
(intravitreale Injektion) festgelegt worden?

22. Welche Konsequenzen hat dies für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte,
und welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung daraus?

23. Aufgrund welcher Regelung ist Pentalong® bis heute verkehrsfähig, ob-
wohl die Frist für Nachzulassungen bereits im Jahr 2005 abgelaufen ist?

24. Wie ist der Sachstand der Nachzulassung von Pentalong®?

25. Sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf angesichts der nicht erfolgten
Nachzulassung von Pentalong® und der Feststellung von Fachleuten, dass
aus der Medikationsumstellung Patientinnen und Patienten gesundheitliche
Nachteile entstanden seien (vgl. Deutsche Apothekerzeitung Nummer 19,
2012, S. 55 ff. sowie www.apotheke-adhoc.de vom 19. April 2012, „Streit
um Pentalong“).

26. Wie ist der Zulassungsstatus von Präparaten, die ebenfalls PETN enthalten?

Berlin, den 1. Oktober 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.