BT-Drucksache 17/10792

Sahel-Region stabilisieren - Humanitäre Katastrophe eindämmen

Vom 26. September 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10792
17. Wahlperiode 26. 09. 2012

Antrag
der Abgeordneten Katja Keul, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, Claudia Roth
(Augsburg), Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Agnes Brugger,
Viola von Cramon-Taubadel, Uwe Kekeritz, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln),
Omid Nouripour, Lisa Paus, Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Sahel-Region stabilisieren – Humanitäre Katastrophe eindämmen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Sahel-Region ist eines der ärmsten Gebiete der Welt. Seit Jahren kommt es
in den Ländern dieser Region durch Dürren und Misswirtschaft zu Lebensmit-
telkrisen. Ernteausfälle, politische Umbrüche in den Staaten Nordafrikas, die
Rückkehr bewaffneter Söldner aus Libyen und der Elfenbeinküste, organisierte
Kriminalität, islamistischer Terrorismus sowie Kampfhandlungen im Norden
Malis haben die Ernährungskrise und fragile Sicherheitslage in der Sahel-
Region dramatisch verschärft.

Die Staaten der Sahel-Region stehen vor Herausforderungen, die sie nicht allein
bewältigen können. Nach Angabe des Amtes für die Koordinierung humanitärer
Angelegenheiten der Vereinten Nationen (OCHA) sind 18 Millionen Menschen
von der Nahrungsmittelkrise in der Sahel-Region betroffen, 8 Millionen Men-
schen benötigen dringend Nothilfe. Das VN-Kinderhilfswerk (UNICEF) berich-
tet über mehr als 1 Million Kinder, die unter schwerer Mangelernährung leiden.
Die schlechte Sicherheitslage in einigen Gebieten der Sahel-Region, vor allem
im Norden Malis, erschwert den Zugang zu Hilfsbedürftigen. Laut dem Hohen
Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) sind allein aus dem
Norden Malis 435 000 Menschen in den Süden des Landes und die Nachbarstaa-
ten geflohen. 185 889 Malierinnen und Malier sind intern Vertriebene.

In den letzten Jahren rückte verstärkt die Sicherheitslage in dieser Region ins
Blickfeld der Weltöffentlichkeit, insbesondere die Aktivitäten der Gruppe Al-
Qaida im Maghreb (AQM). Diese Organisation hatte sich im algerischen Bür-
gerkrieg mit dem Ziel gegründet, dort ein islamistisches Staatswesen durchzu-
setzen. In den Folgejahren dehnte sie sich als lose koordiniertes Terrornetzwerk
auf die Nachbarstaaten Algeriens aus und wurde in den letzten Jahren immer
wieder für Anschläge und Entführungen verantwortlich gemacht. Der Gruppe

werden zudem enge Beziehungen zum organisierten Verbrechen, vor allem im
Bereich des Drogenschmuggels, nachgesagt.

Auch im Norden Malis hatten in den letzten Jahren islamistische Gruppen im
Umfeld der AQM verstärkt Zulauf, wie die von den Tuareg dominierte „Ansar
Dine“. Daneben existieren radikal-islamistische Splittergruppen wie das
Mouvement pour l’unicité et le jihad en Afrique de l’Ouest (MUJAO). Diese

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Gruppierungen haben sich in den vergangenen Jahren hauptsächlich durch Ent-
führungen, Drogenschmuggel, Menschenhandel sowie anderen Formen der
organisierten Kriminalität finanziert. Tuareg-Rebellen der Nationalen Bewegung
für die Befreiung des Azawad (MNLA) hatten sich mit diesen islamistischen
Kräften verbündet und Anfang des Jahres einen erneuten Aufstand gegen die
Zentralregierung begonnen, obwohl sie im Norden Malis keinesfalls die Bevöl-
kerungsmehrheit stellen. Mit dem Sturz des Regimes von Muammar al-Gaddafi
konnten diese Gruppierungen ihre Schlagkraft verstärken: Zum einen durch
Söldner, die zuvor im Dienste Muammar al-Gaddafis standen. Zum anderen
durch schwere Waffen, die seit der Endphase der Kämpfe in Libyen bis heute
über die nahezu unkontrollierten Wüstengrenzen geschmuggelt werden.

Die Erfolge der Aufständischen in Nord-Mali führten am 22. März 2012 zu
einem Staatsstreich putschender Offiziere. Im darauf folgenden Machtvakuum
in der malischen Hauptstadt gelang es den Aufständischen die drei wichtigsten
Städte im Norden, Gao, Kidal und Timbuktu, einzunehmen, woraufhin sie
Anfang April 2012 den unabhängigen Staat Azawad über zwei Drittel des Lan-
des ausriefen. Nachdem das Bündnis zwischen Tuareg-Rebellen und Islamisten,
unter denen sich auch viele Tuareg befinden, Ende Juni 2012 zerbrochen ist,
befindet sich der Nordteil des Landes weitgehend unter der Kontrolle der isla-
mistischen Gruppen von Ansar Dine und MUJAO. Sie haben in ihrem Herr-
schaftsgebiet die Scharia ausgerufen und setzen sie in grausamen Schauprozes-
sen durch. Die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte,
Navanethem Pillay, berichtet über schwere Menschenrechtsverletzungen wie
außergerichtliche Hinrichtungen, Folter, Vergewaltigungen, Plünderungen und
der Rekrutierung von Kindersoldaten durch Islamisten und Tuareg aber auch
durch Einheiten der malischen Armee. Der Internationale Strafgerichtshof
(IStGH) erwägt eine Untersuchung dieser Vorfälle. Islamisten zerstörten Teile
der als Weltkulturerbe anerkannten Moscheen und Grabmäler in Timbuktu. Die
Staatsgewalt in Mali ist seit dem Staatsstreich geschwächt, auch wenn am
22. August 2012 eine Regierung der nationalen Einheit gebildet werden konnte.

Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS (Economic Commu-
nity Of West African States) hat zur Lösung der Krise in Mali ein Drei-Phasen-
Modell vorgeschlagen. Demnach sollte Mali zunächst beim Aufbau einer Regie-
rung der nationalen Einheit unterstützt werden. In einer zweiten Phase sollte die
ECOWAS-Hilfe bei der Reorganisation seiner Streitkräfte gewähren und an-
schließend eine Friedenstruppe entsenden, um die nationale Integrität des Lan-
des wiederherzustellen. Auch die Afrikanische Union (AU) hat sich für die Ent-
sendung einer Friedenstruppe nach Mali ausgesprochen. Als Vorbedingungen
werden allerdings die Zustimmung der malischen Regierung sowie ein Mandat
des VN-Sicherheitsrates angesehen. Ende August/Anfang September 2012
sprach sich Malis Übergangspräsident Dioncounda Traoré sowohl gegenüber
den VN als auch der ECOWAS für die Entsendung einer Friedensmission nach
Mali durch die ECOWAS aus. Zwischen Dioncounda Traoré und den Putschis-
ten, die großen Rückhalt in der Bevölkerung genießen, sind Art und Umfang
einer solchen Mission umstritten. Dennoch hat die ECOWAS den VN-Sicher-
heitsrat zur Erteilung eines entsprechenden Mandats angerufen. Die ECOWAS
droht ein Teil des Problems bei der Konfliktlösung zu werden, die AU bleibt in
dieser Lage viel zu passiv.

Mangelnde regionale Kooperation ist eines der größten Hemmnisse für die Ein-
dämmung der Konflikte in der Region. Dennoch wird dieser Aspekt in bisheri-
gen Ansätzen zur Problemlösung vernachlässigt. Einflussreiche regionale Ak-
teure wie Algerien und Mauretanien, die keine Mitgliedstaaten der ECOWAS
sind, werden bislang zu wenig in Bemühungen zur Konfliktlösung eingebunden.
Sie lehnen eine militärische Lösung, aber auch den aktuellen Vermittler Blaise

Compaoré ab. Die Angst ist groß, dass die Krise auch Algerien erfassen könnte.
Die humanitäre Hilfe der Bundesregierung für die Sahel-Region beträgt bislang

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55 Mio. Euro. 1,7 Mrd. US-Dollar sind nach Schätzungen des Amts für die
Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der VN (OCHA) erforderlich, um
auf die Sahel-Krise zu reagieren. Bislang sind davon nur 56 Prozent finanziert.
Um dem humanitären Bedarf in der Region gerecht zu werden, bedarf es eines
größeren Engagements Deutschlands und der internationalen Gemeinschaft.

Der Rat der Europäischen Union hat am 16. Juli 2012 im Rahmen der Gemein-
samen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) eine zivile Trainings- und
Ausbildungsmission für Polizei und Gendarmerie im Sahel (EUCAP Sahel
Niger) beschlossen, um Kapazitäten für die Bekämpfung von Terrorismus und
organisierter Kriminalität zu stärken. Die Mission ist eine Maßnahme der im
März 2011 von der EU beschlossenen „Strategie für Sicherheit und Entwicklung
in der Sahel-Region“. Sie zielt darauf ab, die Förderung von „Good Governance“
und wirtschaftlicher Entwicklung sowie die Bearbeitung interner Konflikte mit-
einander zu verbinden. Für laufende und geplante Initiativen sind 660,7 Mio.
Euro vorgesehen. Allerdings ist fraglich, ob der Grundansatz „Sicherheit ist
Voraussetzung für Entwicklung“ und die sich daran orientierende Mittelvergabe,
den grundlegenden Problemen der Region gerecht wird. Bisher ist auch nicht
erkennbar, ob und inwiefern die Sahel-Strategie nach den Ereignissen in Mali
angepasst wird. Auch die EU sollte einen Schwerpunkt ihrer Strategie auf die
Förderung regionaler Kooperation legen. Ohne eine enge Zusammenarbeit mit
regionalen Akteuren, vor allem mit Algerien und Mauretanien, könnte die EU-
Strategie allzu leicht ins Leere laufen.

Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass die Europäische Union eine Fact Finding
Mission nach Libyen geschickt hat, mit dem Ziel zu prüfen, ob und wie eine
Mission im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zur
Unterstützung des libyschen Grenzmanagements entsandt werden kann, falls es
eine entsprechende Anfrage der libyschen Autoritäten gibt. Die Sicherheitslage
in Libyen ist auch nach den Wahlen vom 9. Juli 2012 prekär. Der Übergangsrat
hat zwar die Macht an das Parlament übergeben und eine neue Regierung wird
gebildet, diese Zentralmacht konnte aber bisher noch nicht das Gewaltmonopol
im Lande sichern. Dies bezieht sich auch auf die Kontrolle der Grenzen. Hier be-
steht ein Machtvakuum, das auch destabilisierend auf die angrenzenden Länder
der Sahel-Region wirkt.

Humanitäre Hilfe, Übergangshilfe und vor allem langfristige Ernährungssiche-
rung sind wichtige Elemente zur Stabilisierung der Region. Sie reichen alleine
aber nicht aus, um strukturelle Probleme wie schwache staatliche Institutionen,
Rechtsstaats-, Demokratie- und Sicherheitsdefizite, Korruption und organisierte
Kriminalität wirksam anzugehen.

Der VN-Sicherheitsrat hat den VN-Generalsekretär vor diesem Hintergrund auf-
gefordert, eine umfassende Sahel-Strategie vorzulegen, die die Bereiche Sicher-
heit, humanitäre Hilfe, Entwicklung und Menschenrechte umfasst (S/Res/2056
(2012)).

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Umsetzung der umfassenden Sahel-Strategie des VN-Generalsekretärs
personell und finanziell zu unterstützen;

2. effiziente und bedarfsorientierte humanitäre Nothilfe in enger Absprache mit
internationalen Partnern und nationalen Regierungen zu leisten und dabei die
koordinierende Rolle von OCHA zu unterstützen;

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3. bereits in der Sahel-Region tätige internationalen Organisationen wie
UNHCR, OCHA, IOM (Internationale Organisation für Migration), WFP
(Welternährungsprogramm der VN) und UNICEF personell, finanziell und
materiell zu unterstützen und sich für deren sicheren und ungehinderten Zu-
gang zu Hilfsbedürftigen einzusetzen;

4. den Beirat für Zivile Krisenprävention an der Formulierung und Koordina-
tion der Hilfsangebote maßgeblich zu beteiligen;

5. die von der EU initiierte AGIR-Initiative (Alliance Globale pour l’Initiative
Resilience) zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Sahel-Zone gegen-
über künftigen Krisen angemessen zu unterstützen;

6. mehr nachhaltige präventive Unterstützung für die Länder der Sahel-
Region in den Bereichen humanitäre Hilfe, Katastrophenhilfe, DD&R-
Programmen (Disarmament, Demobilization and Reintegration), Sicher-
heitssektorreform und Korruptionsbekämpfung zu leisten und dazu den
Ressortkreis für Zivile Krisenprävention eng mit der Ad-hoc-Arbeitsgruppe
(Task-Force) „Sahel-Mali“ der Bundesregierung zu verzahnen;

7. die Mittel für humanitäre Hilfe und Entwicklungsfördernde und Strukturbil-
dende Übergangshilfe (ESÜH) für die Sahel-Zone umgehend auf 82,5 Mio.
Euro und damit den „fairen“ Anteil Deutschlands (gemessen an der Wirt-
schaftskraft) am von den VN ermittelten Bedarf von 1,65 Mrd. US-Dollar
zu erhöhen;

8. die Gelder der Entwicklungszusammenarbeit für langfristige Ernährungs-
sicherung und Widerstandsfähigkeit in der Sahel-Region, insbesondere der
Kleinbauern, Viehalter und Hirten, massiv zu erhöhen;

9. die Staaten der Sahel-Region langfristig beim nachhaltigen Aufbau von
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu unterstützen und dabei insbesondere
die Zivilgesellschaft zu fördern und Forderungen religiöser, ethnischer und
anderer sozialer Minderheiten nach angemessener Beteiligung zu stärken;

10. ihnen Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung von freien und
transparenten Wahlen anzubieten und dabei darauf hinzuwirken, dass keine
politischen Kräfte benachteiligt werden;

11. sich für einen international abgestimmten Umgang mit Geiselnahmen und
Lösegeldforderungen einzusetzen, um kriminellen Netzwerken Finanzie-
rungsmöglichkeiten zu entziehen;

12. die von starken Flüchtlings- und Wanderungsbewegungen betroffenen
Staaten bei der Notversorgung von Flüchtlingen und Asylsuchenden sowie
bei der Schaffung eines Asylsystems zu unterstützen und auf die Einhaltung
des Flüchtlingsschutzes insbesondere des „Non-refoulment“-Prinzips zu
drängen;

13. eine solidarische und menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen aus
den Staaten der Sahel-Region in Deutschland zu gewährleisten;

14. auf ECOWAS und die AU einzuwirken, dass Algerien und Mauretanien als
einflussreiche Akteure in der Region intensiv in die Konfliktlösung in Mali
einbezogen werden und die AU in Absprache mit ECOWAS einen neuen
Vermittler für die politische Konfliktlösung bestellt;

15. die Anrainerstaaten Malis, insbesondere Algerien, bei der Grenzsicherung
zu unterstützen;

16. unter Wahrung des Local-ownership-Prinzips der libyschen Regierung zügig
konkrete Angebote für Projekte in den Bereichen Krisenreaktionskapazi-

täten und Infrastrukturmaßnahmen zu unterbreiten und dabei auch zivil-
gesellschaftliche Akteure einzubinden;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/10792

17. sich im VN-Menschenrechtsrat für eine unabhängige internationale Unter-
suchung der Menschenrechtsverletzungen im Norden Malis einzusetzen;

18. sich dafür einzusetzen, dass Verantwortliche für Menschenrechtsverletzun-
gen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht im Norden Malis zur
Rechenschaft gezogen werden;

19. gezielt Initiativen, wie die „Coalition for Mali“, zu unterstützen, die sich für
einen Dialog zwischen dem Norden und Süden Malis einsetzen;

20. die AU und ECOWAS darin zu unterstützen

a) eine politische Lösung des Konflikts mit den Tuareg-Rebellen und Isla-
misten im Norden Malis zu erarbeiten, um die nationale Integrität und
demokratische Ordnung Malis wiederherzustellen;

b) eine von Bamako akzeptierte integrierte AU-ECOWAS-Friedensmission
zur Ausbildung und Reorganisation malischer Streitkräfte im Rahmen
eines VN-Mandates zu entsenden. Die Mission sollte von deutscher Seite
angemessen finanziell und logistisch unterstützt werden;

c) effektiver gegen Terrorismus und gegen grenzüberschreitende, organi-
sierte Kriminalität wie den Drogenhandel vorzugehen;

d) den Waffenhandel in der Region zu unterbinden;

e) zurückkehrende Kämpfer zu demobilisieren und zu integrieren.

Berlin, den 25. September 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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