BT-Drucksache 17/10786

Für einen wirksamen Schutz und die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in der Europäischen Union und in Deutschland

Vom 25. September 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10786
17. Wahlperiode 25. 09. 2012

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Agnes Alpers, Herbert Behrens,
Sevim Dag˘delen, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Dr. Lukrezia Jochimsen,
Thomas Nord, Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Kathrin Senger-Schäfer,
Dr. Petra Sitte, Frank Tempel, Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Für einen wirksamen Schutz und die Aufnahme syrischer Flüchtlinge
in der Europäischen Union und in Deutschland

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Deutsche Bundestag ist besorgt über die dramatische Verschlechterung
der Sicherheitslage für die Zivilbevölkerung infolge der zunehmenden ge-
walttätigen Auseinandersetzungen in Syrien. Im August 2012 gab es schät-
zungsweise 1,5 Millionen Vertriebene innerhalb Syriens; in den Nachbarlän-
dern wächst die Zahl aufgenommener Flüchtlinge schneller als erwartet.
Mehr als 80 000 Menschen hatten Anfang September 2012 in der Türkei Zu-
flucht gefunden, gut 85 000 waren es in Jordanien, mehr als 60 000 im Liba-
non – und dies sind nur die offiziell als Flüchtlinge registrierten Menschen.

2. Die Dramatik der Ereignisse erfordert nach Ansicht des Deutschen Bundes-
tages ein schnelles solidarisches Engagement der Europäischen Union und
der Bundesrepublik Deutschland zur Entlastung der Anrainerstaaten. Die fi-
nanzielle und humanitäre Unterstützung für Hilfen vor Ort muss von aktiven
Maßnahmen zur Aufnahme von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen
begleitet werden („Resettlement“). Ungleiche Aufnahmekontingente inner-
halb der EU können über finanzielle Mittel ausgeglichen werden. Ist keine
schnelle Einigung auf EU-Ebene möglich, muss die Bundesrepublik
Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen und auf nationaler Ebene han-
deln.

3. Der Deutsche Bundestag betont, dass die Grenzen der EU für Menschen in
Not offen gehalten werden müssen. Der Verweis auf die üblichen Asylverfah-
ren ist jedoch unzureichend. Weil Flüchtlingen ein Visum zur legalen Ein-
reise verweigert wird, müssen sie sich auf zum Teil lebensbedrohliche ille-
gale Fluchtwege begeben, um das Territorium der EU zu erreichen. Zudem

drohen Zurückschiebungen an den Grenzen und unmenschliche Lebens-
bedingungen für Asylsuchende in Mitgliedstaaten mit EU-Außengrenzen wie
Griechenland. Ein legales Aufnahmeverfahren erspart den Schutzbedürftigen
diese erheblichen Belastungen.

Drucksache 17/10786 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich in der Europäischen Union dafür einzusetzen, dass die Grenzen für syri-
sche Flüchtlinge offen gehalten werden und es zu keinen Zurückweisungen
syrischer Schutzsuchender an den EU-Außengrenzen kommt;

2. sich in der Europäischen Union dafür einzusetzen, dass ein bedeutendes Kon-
tingent syrischer Flüchtlinge, insbesondere aus der Gruppe besonders
Schutzbedürftiger (unbegleitete Minderjährige, Traumatisierte, Kranke,
Schwangere, Alleinerziehende usw.), aus Anrainerstaaten Syriens entspre-
chend der Größe und Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten in diese aufgenom-
men wird;

3. parallel zu politischen Initiativen auf EU-Ebene auch in nationaler Zustän-
digkeit und in Zusammenarbeit mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der
Vereinten Nationen mit der Aufnahme eines bedeutenden Kontingents von
Flüchtlingen aus Anrainerstaaten Syriens zu beginnen;

4. sich gegenüber den Bundesländern für eine humanitäre Bleiberechtsregelung
für lediglich geduldete bzw. ausreisepflichtige Personen aus Syrien einzuset-
zen, bei der nicht die Frage der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung,
sondern die Schutzbedürftigkeit entscheidend ist;

5. sich für Regelungen einzusetzen, mit denen der weitere Studienaufenthalt
hier lebender syrischer Studierender ohne Geldtransaktionen aus Syrien gesi-
chert werden kann;

6. sich dafür einzusetzen, dass Visaanträge syrischer Staatsangehöriger, insbe-
sondere von Familienangehörigen in Deutschland lebender Personen, schnell
und wohlwollend bearbeitet werden;

7. durch Anweisung an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sicherzu-
stellen, dass syrische Asylsuchende im Rahmen der Dublin-II-Verordnung
nicht an andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union überstellt werden;

8. das mit der Syrischen Arabischen Republik geschlossene Rückübernahme-
abkommen umgehend aufzukündigen.

Berlin, den 25. September 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu rief angesichts der dramatischen
Zunahme von Flüchtlingen an der türkisch-syrischen Grenze die internationale
Gemeinschaft dazu auf, sich die wachsende Verantwortung für die Versorgung
der Flüchtlinge aus Syrien zu teilen (dpa, 27. August 2012). Im Libanon kamen
Ende August 2012 an einem einzigen Tag mehr Flüchtlinge an (knapp 7 000) als
in Deutschland in einem gesamten Monat (aktuell etwa 5 000). Jordanien war
bereits ein Hauptzielland für Flüchtlinge aus dem Irak, von denen über 750 000
aufgenommen wurden.

Demgegenüber ist in Deutschland die Zahl der syrischen Asylsuchenden zwar
gestiegen. Die gerade einmal 1 623 neuen Schutzsuchenden aus Syrien im ersten
Halbjahr 2012 stellen jedoch keine wirksame Entlastung der Region dar; EU-
weit wurden im ersten Quartal 2012 gerade einmal 2 680 syrische Asylsuchende

registriert. Einzelne Vertreter aller Fraktionen des Deutschen Bundestages haben

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10786

sich vor diesem Hintergrund bereits für die Aufnahme von syrischen Flücht-
lingen im Resettlement-Verfahren ausgesprochen, so z. B. der Fraktionsvorsit-
zende der CDU/CSU, Volker Kauder (dpa, 24. August 2012). Der Bundesminis-
ter des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, erklärte, dass Deutschland
„selbstverständlich“ zu einer solchen Aufnahme bereit sei, auch wenn zunächst
für die Menschen vor Ort gesorgt werden müsse (AFP, 8. September 2012). Der
Innenminister Schleswig-Holsteins, Andreas Breitner, (SPD) sprach von einem
„Gebot der Humanität“. Sein Land sei zur Aufnahme von Bürgerkriegsflücht-
lingen aus Syrien bereit, über die Aufnahme müsse jedoch auf Bundesebene ent-
schieden werden (AFP, 24. August 2012). Der nordrhein-westfälische Innen-
minister Ralf Jäger (SPD) bezeichnete es als „Gebot der Menschlichkeit“,
syrische Flüchtlinge im Wege des Resettlements aufzunehmen. Nötig sei eine
europäische Gesamtkonzeption (dpa, 29. August 2012).

Für die aktuellen Herausforderungen kann die Aufnahme irakischer Flüchtlinge
nur bedingt als Beispiel gelten. Denn von ersten Forderungen der Fraktion DIE
LINKE. im Mai 2007 (vgl. Bundestagsdrucksache 16/5248) bis zur Realisierung
einer Aufnahme von letztlich nur 2 501 irakischen Flüchtlingen in Deutschland
vergingen mehr als zwei Jahre. Andere Mitgliedstaaten der EU haben bis heute
nicht einmal ihre geringen Aufnahmezusagen eingehalten, obwohl Resettle-
ment-Verfahren auch durch EU-Mittel gefördert werden. Deutschland ist ent-
sprechend seiner Wirtschaftskraft und Größe ohne Zweifel dazu in der Lage,
eine fünfstellige Zahl schutzbedürftiger Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen.
Der neue Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes Deutschland, Pater Frido
Pflüger, kritisierte zu Recht, dass „die größte Last von Flucht und Vertreibung“
von „armen Ländern“ getragen werde. Kenia allein habe aus Somalia eine halbe
Million Flüchtlinge aufgenommen, „während wir in Deutschland über Resettle-
ment für 300 Flüchtlinge im Jahr diskutieren: Für dieses Missverhältnis habe ich
mich manches Mal geschämt“, erklärte Pater Frido Pflüger (epd, 28. August
2012).

Widersinnig wäre es, den bereits in Deutschland lebenden (abgelehnten) Flücht-
lingen aus Syrien ein Bleiberecht zu verweigern oder es von nichthumanitären
Bedingungen wie der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung abhängig zu
machen. Die bloße Aussetzung der Abschiebung (Duldung) bietet den Betroffe-
nen keinen wirksamen Schutz und keine Zukunftsperspektive. Es ist auch offen-
kundig, dass selbst in dem Fall eines (nicht absehbaren) künftigen Friedens-
schlusses die Bedingungen für eine Rückkehr in Sicherheit und Würde für eine
längere Zeit nicht gegeben sein werden.

Abschiebungen offenkundig schutzbedürftiger syrischer Asylsuchender in an-
dere EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der Dublin-II-Verordnung müssen unter-
bleiben. Das Dublin-System sorgt für eine ungerechte Verteilung von Flüchtlin-
gen gegen deren Willen innerhalb der EU und ist für die Betroffenen mit zum
Teil traumatischen Erfahrungen von Zwangsmaßnahmen bis hin zur Inhaftie-
rung verbunden.

Die Bundesregierung muss sich in der EU auch für ein Offenhalten der EU-Au-
ßengrenzen für Flüchtlinge einsetzen. Der griechische Minister für Öffentliche
Sicherheit, Nikos Dendias, hatte angekündigt, wegen eines vermeintlich drohen-
den Flüchtlingsstromes über die Türkei nach Griechenland die bislang einge-
setzten 600 Grenzschützer mit 1 800 Beamten zu verstärken und mehr Patrouil-
lenboote auf dem Grenzfluss Evros einzusetzen. Zudem soll der 3 Meter hohe
und mit Stacheldraht versehene Grenzzaun an der 10,2 Kilometer langen Lan-
desgrenze zur Türkei im Oktober 2012 fertiggestellt sein (vgl. Bundestagsdruck-
sache 17/10522). Die offenkundig schutzbedürftigen Flüchtlinge aus Syrien
dürfen jedoch – auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs

für Menschenrechte – nicht an den Außengrenzen der EU abgewiesen werden.

Drucksache 17/10786 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
Am 6. September 2012 starben vor der Westküste der Türkei mindestens
61 Flüchtlinge bei dem Versuch, mit einem überfüllten Boot von der Türkei nach
Griechenland überzusetzen. Viele von ihnen stammten aus Syrien, unter den
Toten waren zahlreiche Frauen und Kinder. Dass bei der Flucht in die EU
vermehrt solche gefährlichen Bootsüberquerungen genutzt werden müssen, ist
eine direkte Folge der verstärkten und von der europäischen Grenzagentur
FRONTEX unterstützten Absicherung der griechisch-türkischen Landesgrenze
im Evros-Gebiet.

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