BT-Drucksache 17/10538

Zunehmende Aushöhlung des parlamentarischen Fragerechts unter Verweis auf Geheimschutzgründe

Vom 22. August 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10538
17. Wahlperiode 22. 08. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Andrej Hunko, Herbert Behrens,
Steffen Bockhahn, Sevim Dag˘delen, Dr. Dagmar Enkelmann, Nicole Gohlke,
Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke, Jens Petermann, Kathrin Senger-Schäfer,
Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE.

Zunehmende Aushöhlung des parlamentarischen Fragerechts unter Verweis
auf Geheimschutzgründe

In den letzten Jahren werden parlamentarische Initiativen der Fraktion DIE
LINKE. bzw. ihrer Abgeordneten vielfach nicht im öffentlichen Teil der ent-
sprechenden Bundestagsdrucksachen beantwortet. Stattdessen wird mit dem
Textbaustein „Die öffentliche Beantwortung dieser Frage ist der Bundesregie-
rung aus Geheimhaltungsgründen nicht möglich.“ geantwortet. Die Antwort der
Bundesregierung sei als „Verschlusssache – Vertraulich“ oder höher eingestuft.
Die Bundesregierung beruft sich auf das Bundesverfassungsgericht, das sich
zum Bekanntwerden von Dienstgeheimnissen geäußert hatte (BVerfGE 124,
161 [193]). Gleichwohl werden der parlamentarische Informationsanspruch und
die Beantwortung gestellter Fragen in der Öffentlichkeit grundsätzlich bejaht.
Zu Recht, denn selbst in seinem jüngsten Urteil zum Organstreit in Sachen Fiskal-
pakt und Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM) betont das Bundesverfas-
sungsgericht die einzuhaltenden Unterrichtungsrechte des Parlaments und die
Öffentlichkeit solcher Unterrichtungen (BVerfG, 2 BvE 4/11 vom 19. Juni 2012,
Absätze 1 bis 172).

Unter Betonung des „schützenswerten Interesses der Bundesrepublik Deutsch-
land an einer wirksamen Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus“ wird
aber inzwischen ein vermeintliches Staatswohl höher gestellt als eine öffent-
liche Auskunft an alle Abgeordneten und nicht einzelne Ausschüsse oder ein-
zelne Abgeordnete.

Im vorliegenden Fall sind vor allem Initiativen aus den Bereichen Justiz und In-
neres sowie Verteidigung betroffen. Antworten werden häufig lediglich in der
Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages hinterlegt. Zwar haben Abge-
ordnete hierzu Zugang. Dort eingesehene Informationen dürfen anderen Perso-
nen aber nicht zugänglich gemacht werden. Die Antworten können also nicht
mit kritischen Aktivistinnen und Aktivisten, Anwältinnen und Anwälten oder
Bürgerrechtsgruppen besprochen werden. Es ist auch nicht möglich, die Ant-

worten an die Medien zu geben, um eine öffentliche Debatte einzuleiten bzw. zu
einer solchen beizutragen. Tendenziell müsste auch unverantwortliches Regie-
rungshandeln damit unter dem Teppich bleiben – weil die Bundesregierung es so
will.

Gerade angesichts der rasant fortschreitenden technischen Entwicklung im Be-
reich der Überwachungstechnologie ist eine Einschätzung von Seiten unabhän-

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giger Expertinnen und Experten unbedingt erforderlich. Es ist zudem nicht er-
sichtlich, weshalb Auskünfte zu genutzter oder in der Entwicklung und Erfor-
schung befindlicher Überwachungstechnologie oder forensischen Werkzeugen
durch Behörden des Bundes dem Geheimschutz unterliegen sollen. Auch Fragen
zu WLAN-Catchern, stillen SMS, Trojanern oder IMSI-Catchern wurden nur
teilweise beantwortet. Die Öffentlichkeit muss wissen, in welchem Maße der
Staat in Persönlichkeitsrechte seiner Bevölkerung eingreift. Dies gilt insbeson-
dere für die Überwachungstechnologie, deren Erforschung und Entwicklung;
denn Nutzerinnen und Nutzer moderner Informations- und Kommunikations-
mittel müssen über Möglichkeiten des Auslesens ihrer intimen, schützenswerten
Daten in Kenntnis gesetzt werden. Die Heimlichtuerei zu Möglichkeiten und
Grenzen digitaler Überwachung sorgt für ein wachsendes Misstrauen gegenüber
der Regierung und ihren Polizeien und Geheimdiensten. Viele Menschen fühlen
sich bespitzelt und überwacht – zum Teil wohl zu Recht.

Auch hinsichtlich der grenzüberschreitenden Polizeizusammenarbeit ist die
nichtöffentliche Beantwortung problematisch: So konnten etwa Gesetzesver-
stöße des britischen verdeckten Ermittlers Mark Kennedy nicht restlos aufge-
klärt werden, weshalb kein politischer Druck hinsichtlich einer juristischen
Verfolgung im Entsendeland erreicht werden kann. Die britische Regierung
antwortet der Fraktion DIE LINKE. nicht auf entsprechende Anfragen. Eine
politische Aufklärung solcher Vorgänge wird damit von der Bundesregierung
verhindert, obwohl zweifellos ein großes öffentliches Interesse an einer solchen
Aufklärung vorherrscht.

Beispielhaft hinsichtlich der ausschweifenden Nichtbeantwortung im öffent-
lichen Teil seien die folgenden parlamentarischen Initiativen erwähnt:

• „International im Verborgenen agierende Netzwerke von Polizeien“ (Ant-
wort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE.
auf Bundestagsdrucksache 17/9844)

• „Internationale Polizeizusammenarbeit zur Kontrolle politischer Gruppen
am Beispiel Umwelt- und Tierrechtsaktivismus“ (Antwort der Bundesregie-
rung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestags-
drucksache 17/8677)

• „,Strategische Fernmeldeaufklärung‘ durch Geheimdienste des Bundes“
(Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE
LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/9305)

• „Computergestützte Kriminaltechnik bei Polizeibehörden“ (Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bun-
destagsdrucksache 17/8544 (neu))

• Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage 22 des Abgeordneten
Andrej Hunko zu Beiträgen privater Firmen und Forschungseinrichtungen im
Rahmen der „International Working Group on Police Undercover Activities“
(Bundestagsdrucksache 17/8637)

• Antwort der Bundesregierung auf die Mündliche Frage 64 des Abgeordne-
ten Andrej Hunko zum Austausch deutscher und US-Behörden über den
gewaltsamen Tod des Samir H. durch eine US-Drohne in Pakistan (Plenar-
protokoll 17/177)

• Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage 23 des Abgeordne-
ten Andrej Hunko zur Technik zum Auslesen von Daten von Mobiltelefonen
bei Bundesbehörden (Bundestagsdrucksache 17/9887)

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10538

• „Abteilungen, Gremien und Dateien deutscher Sicherheitsbehörden für den
Kampf gegen Rechtsextremismus“ (Antwort der Bundesregierung auf die
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/
8535)

• „Getöteter deutscher Staatsbürger bei einem US-Drohnenangriff in Pakistan
im Oktober 2010“ (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der
Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/9533)

• „Auftragsvergabe an private Dienstleister im Bereich des Bundesministeri-
ums des Innern“ (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der
Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/10077).

Die Bundesregierung hat zudem nicht immer deutlich gemacht, welches kon-
kret zu schützende Gut eine öffentliche Beantwortung verletzen würde. Es
drängt sich der Verdacht auf, dass unliebsame Fragen zunehmend durch den ge-
nannten Textbaustein blockiert werden sollen. Eine substantiierte Begründung
fehlt häufig. Die Fragesteller vermuten, dass gerade jene Abgeordneten, die
häufig von ihrem Fragerecht Gebrauch machen, durch eine Nichtbeantwortung
im öffentlichen Teil entmutigt werden sollen.

Bei der Auslegung und Anwendung des Begriffs der Gefährdung des Staats-
wohls ist die Bedeutung des parlamentarischen Fragerechts im Verfassungsge-
füge zu berücksichtigen. Der Begriff ist angesichts der Bedeutung des parla-
mentarischen Fragerechts restriktiv auszulegen (vgl. Glauben/Brocker, Das
Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, § 17, Rn. 24). Die
bloße Möglichkeit eines Nachteils reicht nicht aus, es muss eine bestimmte
Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt bestehen (vgl. BVerwG, Beschluss v.
19. April 2010 – 20 F 13/09).

Ein umfassendes öffentliches Geheimhaltungsinteresse ist nicht mit Erwägungen
begründbar, die im Ergebnis nur auf den Hinweis hinauslaufen, dass in dem zu
beurteilenden Fall Sicherheitsbehörden tätig geworden seien. Auch ein Hinweis
auf von den Sicherheitsbehörden wahrzunehmende Aufgaben – mögen diese
auch noch so bedeutsame Anliegen betreffen – vermag eine Geheimhaltung nicht
zu rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschluss v. 26. Mai 1981 – 2 BvR 215/81,
Rn. 77). Der Schutz nachrichtendienstlicher Belange besteht nicht um seiner
selbst willen, sondern wird nur mit Blick auf die künftige Arbeit der Sicherheits-
behörden gewährt. Bei seit langem abgeschlossenen Vorgängen muss daher er-
kennbar sein, dass ihre vollständige Offenlegung auch heute noch Rückschlüsse
auf die gegenwärtige Arbeitsweise oder die gegenwärtige Aufklärungsarbeit des
Bundesnachrichtendienstes zulässt (BVerwG, Beschluss vom 10. Januar 2012 –
20 F 1.11). Diesen Anforderungen werden die Antworten der Bundesregierung
immer weniger gerecht. So erschließt sich beispielsweise nicht, warum die Infor-
mation, auf wessen Initiative die Gründung der International Working Group on
Police Undercover Activities (IWG) vor über 20 Jahren erfolgte, geeignet sein
soll, die heutige Kriminalitätsbekämpfung erheblich zu beeinträchtigen. Das
Fragerecht von Abgeordneten wird somit in Frage gestellt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Teilantworten auf Kleine Anfragen wurden in der 16. und 17. Le-
gislaturperiode lediglich in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundes-
tages hinterlegt (bitte unter Angabe der jeweiligen Initiative und der nicht
oder nicht öffentlich beantworteten Einzelfragen tabellarisch darstellen)?

2. Wie viele Teilantworten auf Kleine Anfragen wurden in der 16. und 17. Le-
gislaturperiode unter Verweis auf Geheimschutzgründe nicht beantwortet
(bitte unter Angabe der jeweiligen Initiative und der nicht beantworteten

Einzelfragen tabellarisch darstellen)?

Drucksache 17/10538 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
3. Welche Interessen sollen mit den zu den Fragen 1 und 2 nicht oder nicht
öffentlich gegebenen Antworten jeweils konkret geschützt werden (bitte die
jeweilige Begründung für die nicht oder nicht öffentlich erfolgten Antwor-
ten aufführen)?

4. Wie verteilen sich nicht beantwortete Fragen auf die im Deutschen Bundes-
tag vertretenen Fraktionen (bitte für jedes Jahr nummerisch und prozentual
darstellen)?

5. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass eine Öffentlich-
keit stets wissen muss, in welchem Maße der Staat in Persönlichkeitsrechte
seiner Bevölkerung eingreift?

Berlin, den 22. August 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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