BT-Drucksache 17/10279

Kindernachzug nach Deutschland

Vom 9. Juli 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10279
17. Wahlperiode 09. 07. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Katja Dörner, Volker Beck
(Köln), Ingrid Hönlinger und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kindernachzug nach Deutschland

Über die zahlenmäßige Entwicklung und die Probleme bei der Miteinreise oder
dem Nachzug von Kindern aus dem Ausland ist wenig bekannt.

Ausweislich des Migrationsberichts 2010 der Bundesregierung sind die absolu-
ten Zahlen von Kindernachzugsvisa von 2002 (rund 21 300) bis 2010 (rund
8 600) um 60 Prozent zurückgegangen (Bundestagsdrucksache 17/8311, S. 246).

Tatsächlich sind 2010 rund 12 000 Kinder zu nichtdeutschen Eltern und weitere
1 000 Kinder zu deutschen Eltern nachgezogen. Spitzenreiter beim Kindernach-
zug zu Nichtdeutschen sind 1. Irak, 2. Türkei, 3. USA, 4. Indien und 5. Japan
(ebd. S. 251). Spitzenreiter beim Kindernachzug zu Deutschen sind 1. Russische
Föderation, 2. Türkei, 3. Kosovo, 4. Indien und Nigeria, 6 Kasachstan (ebd.
S. 250).

Nach Angaben des Migrationsberichts 2010 (S. 114) ziehen in 14 Prozent aller
Fälle Kinder zu ihren als Flüchtlinge anerkannten Eltern nach Deutschland
(nach § 32 Absatz 1 Nummer 1 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG). 47 Pro-
zent aller Kinder verlegen ihren Lebensmittelpunkt gemeinsam mit ihren Eltern
nach Deutschland (nach § 32 Absatz 1 Nummer 2 AufenthG). Unter 16-Jäh-
rige, die zu ihren inzwischen in Deutschland lebenden Eltern nachziehen,
machen 35 Prozent des gesamten Kindernachzugs aus (nach § 32 Absatz 3
AufenthG).

I. Probleme beim Anspruch auf Kindernachzug gemäß § 32 Absatz 1 bis 3
AufenthG

1. Deutschland ist innerhalb der Europäischen Union das einzige Land, das den
Anspruch auf Nachzug von 16- bis 18-Jährigen von Integrationserfolgen im
Herkunftsland abhängig macht. Nach § 32 Absatz 2 AufenthG müssen diese
Kinder nachweisen, dass sie die deutsche Sprache beherrschen oder gewähr-
leistet erscheint, dass sie sich auf Grund ihrer bisherigen Ausbildung und Le-
bensverhältnisse in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland
einfügen können. Im letzten Jahr hat die Bundesregierung in § 2 Absatz 11
AufenthG festgelegt, dass hiermit Sprachkenntnisse auf dem Niveau C1 des

Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen gemeint sind.
Diese im Ausland lebenden Kinder müssen damit also Deutschkenntnisse vor-
weisen, die für einen Hochschulzugang in Deutschland erforderlich sind und
die damit deutlich über den Anforderungen für eine Aufenthaltsverfestigung
und sogar für eine Einbürgerung liegen.

Der Migrationsbericht der Bundesregierung gibt keine Auskunft darüber, wie
viele Kinder gemäß § 32 Absatz 2 AufenthG nach Deutschland nachgezogen
sind bzw. wie viele Kinder an dieser hohen Hürde gescheitert sind.

Drucksache 17/10279 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. Darüber hinaus wird der Kindernachzug durch das Erfordernis des alleinigen
Sorgerechts des in Deutschland lebenden Elternteils verhindert. Teilen sich die
Eltern das Sorgerecht und lebt ein Elternteil im – auch europäischen – Ausland,
ist der Kindesnachzug nur zur Vermeidung einer besonderen Härte möglich.
Und selbst in diesem Falle nur dann, wenn eine positive Ermessensausübung
erfolgt. Tatsächlich ist in Deutschland der Nachzug von Kindern aus all jenen
Staaten, die kein dem deutschen Recht völlig identisches alleiniges Sorgerecht
kennen, nahezu zum Erliegen gekommen. Dies sind in erster Linie osteuropäi-
sche Staaten (vgl. die Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins (DAV) zum
Grünbuch der Europäischen Kommission zur Familienzusammenführungs-
richtlinie der Europäischen Union vom März 2012). In seiner Stellungnahme
vom Juni 2012 kritisiert der DAV erneut die Auslegung des Begriffs „alleinige
Personensorge“ durch deutsche Gerichte und Behörden als weder mit der Fami-
lienzusammenführungsrichtlinie noch mit der UN-Kinderrechtskonvention
oder der Grundrechtecharta der EU vereinbar.

Auch der Verband binationaler Familien und Partnerschaften e.V. (iaf) und die
Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen e. V. (AGF) kritisie-
ren, dass vielen Kindern der Nachzug wegen der kaum erfüllbaren Integrations-
kriterien sowie dem eng ausgelegten Erfordernis der alleinigen Personensorge
verwehrt wird (vgl. die jeweiligen Stellungnahmen des iaf e. V. und des AGF
zum Grünbuch der Europäischen Kommission zur Familienzusammenführungs-
richtlinie).

3. Spätestens seit der Chakroun-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs
(EuGH) (Urteil vom 4. März 2010, Rs. C- 578/08) spricht vieles dafür, dass das
Recht und die Praxis des Kindesnachzugs nicht mit der Richtlinie 2003/86/EG
(Familienzusammenführungsrichtlinie) in Einklang stehen. Der EuGH hat in
dieser Entscheidung hervorgehoben, dass die wegen der Nichterfüllung einzelner
Einreisevoraussetzungen erfolgte Ablehnung eines Antrags auf Familienzusam-
menführung ohne Prüfung des Einzelfalls mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar
sei. Vielmehr müsse gemäß Artikel 17 der Familienzusammenführungsrichtlinie
in jedem Fall eine echte, individualisierte Einzelfallprüfung erfolgen. Darüber
hinaus stellte der EuGH fest, dass die Genehmigung der Familienzusammenfüh-
rung die Grundregel darstelle und nach der Richtlinie erlaubte Einschränkungen
daher eng auszulegen seien. Ferner darf der den EU-Mitgliedstaaten eröffnete
Handlungsspielraum von ihnen nicht in einer Weise genutzt werden, die das
Richtlinienziel – die Begünstigung der Familienzusammenführung – und die
praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen würde, so der EuGH wei-
ter. Im Gegensatz dazu sieht das deutsche Kindernachzugsrecht bei Nichtvorlie-
gen einer Erteilungsvoraussetzung gemäß § 5 Absatz 1 AufenthG in der Regel
eine Ablehnung des Antrags vor.

II. Probleme bei der Härtefallregelung gemäß § 32 Absatz 4 AufenthG

Wenn ein Kind keinen Rechtsanspruch auf Nachzug hat, kann es nur im Rah-
men der Härtefallregelung des § 32 Absatz 4 AufenthG seinen Eltern folgen.
Dem Migrationsbericht der Bundesregierung zufolge macht dieser Kindernach-
zug im Ermessen gerade einmal einen Bruchteil aller Nachzugsfälle aus.

Im Hinblick auf den Kindernachzug nach Ermessen hatte der damalige rot-grüne
Gesetzgeber erstmals ausdrücklich im Gesetz verankert, dass hierbei das Wohl
des Kindes und die familiäre Situation zu berücksichtigen seien. Diese Verpflich-
tung findet sich auch im aktuellen Gesetz in § 32 Absatz 4 Satz 2 AufenthG.

Bund und Länder haben diese Absicht des Gesetzgebers indessen grundlegend
verändert. Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom
26. Oktober 2009 – AVwV-AufenthG – schreibt nämlich vor, dass eine Härte-

fallentscheidung nicht nur die o. g. „familiären Belange, insbesondere das Wohl
des Kindes“ berücksichtigen solle. Vielmehr solle die Behörde ihre Entschei-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10279

dung gleichberechtigt auch an den „einwanderungs- und integrationspolitischen
Belangen der Bundesrepublik Deutschland“ ausrichten (vgl. die Nummern
32. 4. 3. 2 und 32. 4. 4 AVwV-AufenthG). Dieser Aspekt ist aber in der spezial-
gesetzlichen Vorschrift (§ 32 Absatz 4 AufenthG) gar nicht vorgesehen. Zudem
ist unklar, was unter „einwanderungs- und integrationspolitischen Belange der
Bundesrepublik Deutschland“ zu verstehen ist. Schließlich wird hierdurch der
Fokus der Ermessenprüfung vom Kindeswohl abgelenkt.

Nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz soll die
Härtefallprüfung von den allgemeinen „Integrationschancen“ – und hierbei
„vor allem“ vom Alter des Kindes – abhängig gemacht werden. Hierfür ist der
Verwaltung folgende Regel vorgegeben: „Je jünger das Kind ist […] desto eher
wird auch seine Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse gelingen“
(Nummer 32. 4. 4 AVwV-AufenthG). Diese Vorgabe konterkariert die Absicht
des Gesetzgebers. Denn die wesentliche Zielgruppe für den Kindernachzug
nach Ermessen, also Kinder im Alter zwischen 16 und 18 Jahren, haben mit
dieser Vorgabe der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz
praktisch keinen Chance mehr auf einen Nachzug.

Insgesamt bestehen Zweifel, ob das gegenwärtige deutsche Kindernachzugs-
recht

• mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Artikel 8
der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie Artikel 7 der EU-
Grundrechtecharta vereinbar ist;

• dem Kindeswohl tatsächlich den Vorrang einräumt, wie dies die UN-Kinder-
rechtskonvention vorschreibt bzw. ob es dem Artikel 9 (Trennung von den
Eltern, persönlicher Umgang) sowie dem Artikel 10 der Kinderrechtskonven-
tion (Familienzusammenführung, grenzüberschreitende Kontakte) gerecht
wird bzw.

• nicht gegen das Diskriminierungsverbot nach dem Allgemeinen Gleichbe-
handlungsgesetz verstößt (insbesondere Regelungen über das Alter bzw. das
Herkunftsland eines nachzugswilligen Kindes).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie erklärt die Bundesregierung den signifikanten Rückgang des Kinder-
nachzugs seit 2002?

2. Wie rechtfertigt es die Bundesregierung, dass bei Nichtvorliegen der Ertei-
lungsvoraussetzungen für den Kindesnachzug der Antrag darauf in der Regel
abgelehnt wird, anstatt wie in Artikel 17 der Familienzusammenführungs-
richtlinie vorgeschrieben, in jedem Einzelfall die Art und die Stärke der
familiären Bindungen der betreffenden Personen bzw. die Dauer ihres
Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller
oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland zu berücksichtigen?

Kindernachzug von über 16-Jährigen

3. Wie viele Anträge auf Kindernachzug von über 16-jährigen Kindern wurden
gemäß § 32 Absatz 2 AufenthG in den Jahren 2005 bis 2011 gestellt und be-
willigt?

4. Wie viele dieser Anträge wurden mangels der erforderlichen Sprachkennt-
nisse bzw. mangels einer positiven Integrationsprognose abgelehnt (bitte
aufschlüsseln)?

Drucksache 17/10279 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

5. Aus welcher Notwendigkeit heraus hält die Bundesregierung an der Rege-
lung fest, wonach Kinder über 16 Jahren nur dann einen Anspruch auf
Nachzug zu ihren Eltern haben, wenn sie schon bei Antragstellung über
Deutschkenntnisse verfügen, die für einen Hochschulzugang in Deutsch-
land erforderlich sind und die damit deutlich über den Anforderungen für
eine Aufenthaltsverfestigung und selbst für eine Einbürgerung liegen?

6. Wie bewertet die Bundesregierung die Vereinbarkeit des Spracherfordernis-
ses bzw. der positiven Integrationsprognose gemäß § 32 Absatz 2 AufenthG
mit der o. g. Chakroun-Entscheidung des EuGH, nach der die Genehmigung
zum Familiennachzug die Grundregel darstellt, während die in der Richt-
linie genannten Erteilungsvoraussetzungen eng auszulegen sind, damit die
Begünstigung der Familienzusammenführung und die praktische Wirksam-
keit der Richtlinie nicht beeinträchtigt werden?

7. Welche integrations- oder kinderpolitischen Gründe sprechen dafür, Kin-
dern von Drittstaatsangehörigen ab ihrem 16. Lebensjahr nur unter er-
schwerten Voraussetzungen den Nachzug zu gestatten, während Kinder von
Unionsbürgerinnen und -bürgern gemäß § 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU
ein uneingeschränktes Nachzugsrecht bis zu ihrem 21. Lebensjahr haben?

8. Verfügt die Bundesregierung über wissenschaftlich belastbare Erkennt-
nisse, nach denen über 16-jährige nachziehende Kinder – im Gegensatz zu
miteinreisenden Kindern – mehr Probleme bei der Integration in Deutsch-
land haben als unter 16-Jährige (vgl. Nummer 32.2.6 der Allgemeinen Ver-
waltungsvorschrift)?

Wenn ja, welche (bitte mit Quellenangabe)?

Wenn nein, wie rechtfertigt die Bundesregierung die Vereinbarkeit mit dem
Diskriminierungsverbot des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes der
in Nummer 32.2.6 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufent-
haltsgesetz getroffenen Annahme, dass das Alter einer Person generell für
oder gegen eine Integrationsfähigkeit spricht?

9. Wie rechtfertigt die Bundesregierung die Vereinbarkeit mit dem Diskrimi-
nierungsverbot des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes der in Num-
mer 32.2.4 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz
getroffenen Annahme, dass das Aufwachsen in bestimmten Staaten einer
Person generell für oder gegen eine Integrationsfähigkeit spricht?

10. a) Ist es zutreffend, dass Deutschland der einzige Mitgliedstaat der Euro-
päischen Union ist, der die in Artikel 4 Absatz 6 der Familienzusam-
menführungsrichtlinie verankerte Stillstandklausel über die Einschrän-
kung des Anspruchs auf Nachzug für über 16-jährige Kinder in An-
spruch nimmt?

Wenn nein, welcher andere Mitgliedstaat verfährt so wie Deutschland?

b) Ist es zutreffend, dass kein anderer Mitgliedstaat im Zuge des Konsulta-
tionsprozesses der EU-Kommission über die Familienzusammenfüh-
rungsrichtlinie die Idee verneint hat, diese Stillstandklausel abzuschaf-
fen?

Wenn nein, welcher andere Mitgliedstaat teilt die ablehnende Haltung
der Bundesregierung (vgl. http://ec.europa.eu/home-affairs/news/
consulting_public/consulting_0023_en.htm)?

c) Ist es zutreffend, dass kein anderer Mitgliedstaat der deutschen Argu-
mentation folgt, dass nachziehende Kinder über 16 Jahre mehr Pro-
bleme bei der Integration im Aufnahmeland hätten als unter 16-Jährige?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/10279

11. a) Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung daraus, dass im
Zuge des Konsultationsprozesses der EU-Kommission über die Fami-
lienzusammenführungsrichtlinie die Mehrheit der Mitgliedstaaten sich
unter Berufung auf die UN-Kinderrechtskonvention für die Streichung
der Stillstandklausel ausgesprochen hat (vgl. www.eesc.europa.eu/
resources/docs/summary-of-stakeholder-responses-to-the-green-paper-
on- the-right-to-family-reunification-of-third-country-nationals.pdf)?

b) Inwiefern sind die – durch die restriktive Kindernachzugsregelung für
über 16-Jährige bedingten – Familientrennungen nach Ansicht der Bun-
desregierung vereinbar mit den Artikeln 1 und 3 der UN-Kinderrechts-
konvention, die für alle Menschen unter 18 Jahren gleichermaßen fest-
legt, dass deren Wohl bei allen staatlichen Maßnahmen vorrangig zu be-
rücksichtigen ist?

12. Liegen der Bundesregierung Kenntnisse darüber vor, wie viele Kinder, de-
ren Nachzugsantrag abgelehnt wurde, im Folgenden eine Aufenthaltser-
laubnis zum Zwecke des Studiums bzw. des Sprachkurses beantragt haben?

Wenn ja, wie viele Personen, denen der Kindernachzug verwehrt wurde,
wanderten prozentual in den Jahren 2005 bis 2011 später zum Zweck des
Studiums bzw. Sprachkurses nach Deutschland ein?

Kindernachzug zu einem Elternteil

13. a) Wie viele Anträge auf Kindernachzug zu einem Elternteil wurden in den
Jahren 2005 bis 2011 gemäß § 32 AufenthG gestellt?

b) Wie viele dieser Anträge wurden abgelehnt, weil der Elternteil, zu dem
das Kind nachziehen wollte, nicht allein personensorgeberechtigt war?

14. Welche Staaten kennen, nach Kenntnis der Bundesregierung, keine dem
deutschen Recht vergleichbare alleinige Personensorge, wie sie das Bun-
desverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 7. April 2009 – 1 C
17.08 – für den Kindernachzug konkretisiert hat?

15. Hält die Bundesregierung die Regelung, dass lediglich Kinder von allein
– im Gegensatz zu geteilt – personensorgeberechtigten Elternteilen einen
Anspruch auf Nachzug haben, weiterhin für sinnvoll, angesichts dessen,
dass in vielen Staaten Eltern nach der Scheidung regelmäßig gemeinsam
das Sorgerecht ausüben bzw. die alleinige Personensorge im Sinne der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in manchen Rechtsord-
nungen überhaupt nicht vorgesehen ist?

Wenn ja, warum?

16. a) Wie legen die anderen Mitgliedstaaten – nach Kenntnis der Bundesregie-
rung – das Erfordernis des Sorgerechts gemäß Artikel 4 Absatz 1c Satz 1
der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie in Abgrenzung zum geteil-
ten Sorgerecht gemäß Artikel 4 Absatz 1c Satz 2 der Richtlinie aus?

b) Ist der Bundesregierung ein weiterer Mitgliedstaat bekannt, der das al-
leinige Sorgerecht so eng ausgelegt wie die deutschen Behörden?

Wenn ja, welcher?

17. Erkennt die Bundesregierung gesetzlichen Handlungsbedarf vor dem Hin-
tergrund, dass der Rechtsanspruch auf Kindernachzug aus Artikel 4 Absatz 1c
Satz 1 der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie infolge der o. g. Recht-
sprechung des Bundesverwaltungsgerichts tatsächlich nicht mehr von Fami-
lien aus bestimmten Staaten in Anspruch genommen werden kann?
Wenn nein, warum nicht?

Drucksache 17/10279 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

18. Wie viele Anträge eines Kindes eines in Deutschland lebenden, allein sor-
geberechtigten Elternteils auf Nachzug zu seinem Stiefelternteil wurden
seit 2005 jährlich gestellt, bewilligt bzw. abgelehnt?

19. Auf welcher Rechtsgrundlage erfolgt der Nachzug eines Kindes zu seinem
Stiefelternteil nach deutschem Recht?

20. a) Ist es zutreffend, dass Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe d der Familienzu-
sammenführungsrichtlinie grundsätzlich für Kinder einen Anspruch auf
Nachzug zu ihrem Stiefelternteil konstituiert?

Wenn nein, warum nicht?

b) Wenn ja, steht dann § 32 AufenthG bzw. die Verwaltungsvorschrift zum
Aufenthaltsgesetz nicht im Widerspruch zu der Familienzusammenfüh-
rungsrichtlinie der EU, denn nach Nummer 32.0.5 der Verwaltungsvor-
schrift findet der Nachzug nach § 32 AufenthG „nicht zu dem Stief-
elternteil, sondern zu dem leiblichen Elternteil […] statt“?

Kindernachzug nach Ermessensausübung

21. Ist es zutreffend, dass nur rund 4 Prozent aller Kindernachzugsfälle gemäß
§ 32 Absatz 4 AufenthG im Ermessen erfolgen?

Wenn nein, wie lautete die Quote jeweils in den Jahren 2005 bis 2010?

22. a) Wie viele Anträge auf Erteilung eines Visums für einen Kindernachzug
gemäß § 32 Absatz 4 AufenthG wurden in den Jahren 2005 bis 2011 ge-
stellt (bitte nach Jahren und nach Herkunftsländern aufschlüsseln)?

b) Wie viele dieser Anträge wurden bewilligt (bitte nach Jahren und nach
Herkunftsländern aufschlüsseln)?

c) Wie viele dieser Anträge wurden abgelehnt (bitte nach Jahren und nach
Herkunftsländern aufschlüsseln)?

23. Wie viele Fälle der in Nummer 32. 4. 4. 2 der Verwaltungsvorschrift aufge-
führten Konstellation (Antrag auf den erneuten Nachzug eines Kindes, das
zwischenzeitlich – nachdem es sich zuvor rechtmäßig in Deutschland auf-
gehalten hatte – wieder im Herkunftsland seiner Eltern lebt) sind in
Deutschland seit dem Jahr 2005 aufgetreten (bitte nach Jahren und Her-
kunftsländern sowie dahingehend, ob das betreffende Kind jünger oder äl-
ter als 16 Jahre alt war, aufschlüsseln)?

a) Wie viele der Anträge von über 16-jährigen Kindern wurden bewilligt
(bitte nach Jahren und nach Herkunftsländern aufschlüsseln)?

b) Wie viele der Anträge von über 16-jährigen Kindern wurden abgelehnt
(bitte nach Jahren und nach Herkunftsländern aufschlüsseln)?

24. Wie begründet es die Bundesregierung, dass sie den Ausländerbehörden zur
Beurteilung der in § 32 Absatz 4 AufenthG vorgesehenen Härtefallregelung
Bewertungsmaßstäbe vorschreibt („Berücksichtigung der einwanderungs-
und integrationspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland“), die
in der genannten spezialgesetzlichen Vorschrift gar nicht enthalten sind?

25. Welche Folgen hat diese Einfügung des Verordnungsgebers für den Stel-
lenwert der familiären Belange bzw. des Kindeswohls bei der Härtefallprü-
fung?

26. Inwieweit ist das Regelbeispiel in Nummer 32. 4. 4 der Allgemeinen Ver-
waltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz („Je jünger das Kind ist […]
desto eher wird auch seine Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse

gelingen“) praxistauglich, eingedenk dessen, dass eine wesentliche Ziel-
gruppe für den Kindernachzug im Ermessen Kinder im Alter zwischen 16
und 18 Jahren sind?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/10279

27. Inwiefern sind die Einschränkungen beim Kindernachzug (insbesondere bei
über 16-Jährigen sowie bei Kindern geteilt personensorgeberechtigter
Elternteile) nach Ansicht der Bundesregierung vereinbar mit dem Recht auf
Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Artikel 8 der Europäischen
Menschenrechtskonvention und Artikel 7 der EU-Grundrechtecharta?

Kindernachzug zu subsidiär geschützten Personen

28. Wie haben sich die Fallzahlen des Kinder- und Familiennachzugs zu sub-
sidiär geschützten Personen in den Jahren 2005 bis 2011 entwickelt (bitte
nach Jahren und nach Herkunftsländern aufschlüsseln)?

29. Welche integrationspolitische Begründung liegt der gegenwärtigen nach-
zugsrechtlichen Schlechterstellung subsidiär geschützter Personen gegen-
über Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlingen zugrunde (vgl. § 32
Absatz 1 Nummer 1 AufenthG)?

30. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass nunmehr eine Ände-
rung des Aufenthaltsgesetzes dahingehend notwendig ist, subsidiär ge-
schützten Personen einen gleichwertigen Rechtsanspruch auf Familiennach-
zug wie Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlingen zu ermöglichen –
eingedenk dessen, dass Artikel 23 der neugefassten Qualifikationsrichtlinie
(2011/95/EU) diesen Flüchtlingen einen solchen Anspruch auf Wahrung der
Familieneinheit einräumt und damit die in § 23 Absatz 2 Satz 3 a. F. ent-
haltene Öffnungsklausel weggefallen ist, wonach die Mitgliedstaaten eigen-
ständig festlegen können, unter welchen (restriktiven) Bedingungen sie
Familienangehörigen subsidiär geschützter Personen den Kinder- und Fami-
liennachzug gewähren möchten?

Wenn nein, warum nicht?

DNS-Tests beim Kindernachzug

31. Wie viele Anträge auf Kindernachzug wurden seit 2009 gestellt?

32. In wie vielen dieser Fälle wurde ein DNS-Test (DNS = Desoxyribonuk-
leinsäure) gemäß Nummer 27.0.5 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift
zum Aufenthaltsgesetz durchgeführt (bitte nach den Absätzen des § 32
AufenthG sowie den jeweiligen Herkunftsländern aufschlüsseln)?

33. In wie vielen Fällen wurde ein mit einem DNS-Test gestützter Kindernach-
zugsantrag abgelehnt (bitte nach den Absätzen des § 32 AufenthG sowie
den jeweiligen Herkunftsländern aufschlüsseln)?

34. Hat das Auswärtige Amt den Auslandsvertretungen durch Leitlinien oder
Anwendungshinweise Anweisungen zum Verfahren bzw. der Erforderlich-
keit von DNS-Tests erteilt?

Wenn ja, welchen Inhalt haben diese Anweisungen?

35. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass das Auswärtige Amt familien-
rechtliche Urkunden aus bestimmten Herkunftsländern in der Regel für
nicht glaubhaft hält?

Wenn ja, bezogen auf welche Länder und warum?

36. Sind deutsche Auslandsvertretungen den Antragstellern bei der Durchfüh-
rung solcher DNS-Tests in irgendeiner Weise behilflich?

Wenn ja, wie?

Wenn nein, warum nicht?

Drucksache 17/10279 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
37. Werden grundsätzlich im Herkunftsland durchgeführte DNS-Tests aner-
kannt?

Wenn nein, wann bzw. warum nicht?

38. Können diese DNS-Tests auch über die deutsche Auslandsvertretung
durchgeführt werden?

39. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Kosten, die Antrag-
stellern bei einem solchen DNS-Test entstehen?

40. a) Wurden seit 2009 die mithilfe eines DNS-Tests im Rahmen eines Kin-
dernachzugsverfahrens gewonnen Daten an deutsche Strafverfolgungs-
behörden gemäß § 17 Absatz 8 Satz 4 des Gendiagnostikgesetzes über-
mittelt?

b) Wenn ja, in wie vielen Fällen?

c) Wenn nein, ist diese gesetzliche Datenübermittlungsmöglichkeit nicht
entbehrlich?

Sonstiges

41. In wie vielen Fällen erfolgte in den Jahren 2005 bis 2011 ein Kindernach-
zug zu Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern (bitte nach Jahren und nach
Mitgliedstaaten aufschlüsseln)?

In welchen amtlichen Dateien/Statistiken sind diese Informationen enthal-
ten?

42. In wie vielen Fällen erfolgte in den Jahren 2009 bis 2011 ein Nachzug von
Kindern zu Eltern mit einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (bitte nach
Jahren und nach Herkunftsländern aufschlüsseln)?

43. a) Wie viele Gerichtsverfahren haben Familien in den Jahren 2005 bis
2011 pro Jahr mit dem Ziel des Kindesnachzugs angestrengt, und wie
wurden diese Verfahren beendet (bitte die Gerichte nennen und nach
Vergleich, stattgebendem und abweisendem Urteil aufschlüsseln)?

b) In wie vielen der unter Frage 43a genannten Fälle wurde im Anschluss
an das Gerichtsverfahren eine Genehmigung zum Kindesnachzug er-
teilt?

44. Im Falle, dass die in den Fragen 3, 4, 13, 16, 20, 26 abgefragten Daten
nicht erhoben werden, auf welcher objektiven Grundlage soll nach Ansicht
der Bundesregierung der Gesetzgeber dann die Anwendung der Bestim-
mungen über den Kindernachzug bewerten?

Berlin, den 9. Juli 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.