BT-Drucksache 17/10254

Zur Lage hörbeeinträchtigter Menschen in Deutschland

Vom 2. Juli 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10254
17. Wahlperiode 02. 07. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Markus Kurth, Maria Klein-Schmeink, Claudia Roth
(Augsburg), Agnes Krumwiede, Tabea Rößner, Kai Gehring, Katrin
Göring-Eckardt, Britta Haßelmann, Sven-Christian Kindler, Beate
Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe,
Beate Walter-Rosenheimer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zur Lage hörbeeinträchtigter Menschen in Deutschland

In einer inklusiven Gesellschaft teilen alle Menschen, ob mit oder ohne Behin-
derung, ganz selbstverständlich gemeinsame Lebensräume. Alle Menschen
haben überall die Möglichkeit, sich zu verständigen, dabei zu sein und mitzu-
machen. Die Voraussetzung dafür ist der konsequente Abbau aller Barrieren,
die den Zugang zur gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen verhindern.

Mit den Gleichstellungsgesetzen des Bundes sowie der Länder wurde die Deut-
sche Gebärdensprache (DGS) als eigenständige Sprache anerkannt. Mit den in
§ 17 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) verankerten Erstattungsmög-
lichkeiten für Aufwendungen für Gebärdensprachdolmetscher hat sich die Situ-
ation von Menschen mit Hörbeeinträchtigungen (schwerhörige, gehörlose/
taube und taubblinde Menschen) weiter verbessert. Allerdings bestehen noch
immer Kommunikationsbarrieren, die hörbeeinträchtigte Menschen an der voll-
ständigen Teilhabe in der Gesellschaft hindern.

Um für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen den gleichberechtigten Zugang
zu Information und die Möglichkeiten zur barrierefreien Kommunikation zu
garantieren, müssen u. a. in der Öffentlichkeit und den Medien Untertitelungen
durchgängig verfügbar sein und Inhalte konsequenter in die DGS übersetzt
werden. Darüber hinaus müssen Probleme bei der Finanzierung von Gebärden-
sprachdolmetschern oder in der Verfügbarkeit kompetenter Assistentinnen und
Assistenten gelöst werden. Dies ist insbesondere für taubblinde Menschen rele-
vant.

Viele Eltern hochgradig schwerhöriger und tauber Kinder entscheiden sich kurz
nach der Geburt ihrer Kinder für die Implantation eines Cochlea-Implantats
(CI), einer elektronischen Innenohrprothese, die auf die Wiederherstellung des
Hörvermögens abzielt. Die Entscheidung für oder gegen ein CI sollte gut infor-
miert getroffen und nicht von finanziellen Gesichtspunkten beeinflusst werden.
Doch während ein Implantat in der Regel von den Krankenkassen finanziert

wird, gibt es keine äquivalente Fördermöglichkeit zum Erlernen der Deutschen
Gebärdensprache.

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft ist eine detailliertere Auseinander-
setzung mit den spezifischen Bedürfnissen hörbehinderter Menschen dringend
notwendig.

Drucksache 17/10254 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

Zu Cochlea-Implantaten und Förderung der Gebärdensprache

1. Plant die Bundesregierung, ähnlich wie in der Schweiz, die Zahlen der
CI- Implantationen systematisch zu erfassen?

Wenn ja, wann, und wo werden die Zahlen verfügbar sein?

Wenn nein, warum nicht?

2. Ist der Bundesregierung bekannt, ob Eltern stark hörbeeinträchtigter Neuge-
borener, die über eine CI-Implantation für ihr Kind entscheiden müssen,
nicht nur ärztliche Beratung erhalten, sondern auch systematisch auf die
Möglichkeit hingewiesen werden, sich von gehörlosen Menschen und ihren
Verbänden beraten zu lassen?

3. Welche Maßnahmen trifft die Bundesregierung, um ein Beratungsangebot
zu schaffen, das nicht nur auf die medizinisch-technischen Möglichkeiten
zum Ausgleich einer Hörbeeinträchtigung, sondern auch auf Möglichkeiten,
ohne eine Implantation zu leben und über die Gebärdensprache zu kommu-
nizieren, ausgerichtet ist?

Sieht sie vor diesem Hintergrund Möglichkeiten, Ärzte zu verpflichten, be-
troffene Eltern auf unabhängige Beratungsangebote hinzuweisen?

4. Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, in denen (wie in dem Fall des All-
gemeinen Sozialen Dienstes Bühl) Jugendämter Kontakt zu Eltern aufgenom-
men haben, weil diese sich gegen die CI-Implantation bei ihrem hörbeein-
trächtigten Kind entschieden hatten, und daher aus Sicht der Jugendämter
sichergestellt werden müsse, dass keine Kindeswohlgefährdung vorliege?

Wenn ja, wie bewertet die Bundesregierung dieses Vorgehen?

5. Welche Maßnahmen trifft die Bundesregierung zur Erleichterung des Er-
lernens der Gebärdensprache und der Förderung der sprachlichen Identität
gehörloser Menschen entsprechend Artikel 24 Absatz 3 Buchstabe b der UN-
Behindertenrechtskonvention?

6. In welcher Form und von welchem Kostenträger wären aus Sicht der Bun-
desregierung Gebärdensprachkurse für hörende Eltern hörbeeinträchtigter
Kinder zu finanzieren?

7. Sind der Bundesregierung Untersuchungen in Bezug auf die psycho-soziale
Entwicklung und das Wohlbefinden von CI-implantierten Kindern bekannt?

Wenn ja, welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

Wenn nein, plant sie diesbezüglich Untersuchungen in Auftrag zu geben?

8. Setzt sich die Bundesregierung in Gesprächen mit den Ländern für die Ent-
wicklung und Durchführung geeigneter Maßnahmen ein, die Zahl gebärden-
sprachkompetenter Lehrerinnen und Lehrer an Schulen und Förderzentren,
an denen gehörlose und hörbeeinträchtigte Kinder unterrichtet und betreut
werden, zu erhöhen?

Wenn ja, wie?

Wenn nein, warum nicht?

9. Bestehen Möglichkeiten für die Kostenübernahme eines Gebärdensprach-
dolmetschers oder einer Gebärdensprachdolmetscherin, wenn dieser bzw.
diese von hörbeeinträchtigten Menschen für das Ausüben eines Ehrenamts
oder eines Freiwilligendienstes benötigt wird?
Wenn ja, welche Möglichkeiten gibt es?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10254

Wenn nein, welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, auch hörbeein-
trächtigten Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, ein Ehrenamt oder
einen Freiwilligendienst auszuüben?

10. Hält es die Bundesregierung für sachgerecht, den § 3 Absatz 2 Nummer 1
der Kommunikationshilfenverordnung (KHV) so zu verändern, damit auch
„sonstige Personen des Vertrauens“ als Kommunikationshelfer anerkannt
werden?

Zur Lebenssituation taubblinder Menschen

11. Welche Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung, um die Versor-
gungssituation taubblinder Menschen zu verbessern?

12. Wie beurteilt die Bundesregierung die Situation der Ausbildung sowie Ver-
fügbarkeit von Assistentinnen und Assistenten für taubblinde Menschen in
Deutschland, und welche Maßnahmen wird sie gegebenenfalls ergreifen,
damit mehr qualifizierte Taubblindenassistentinnen und -assistenten zur
Verfügung stehen?

13. Welche Maßnahmen hält die Bundesregierung für geeignet, das Berufsbild
von Assistentinnen und Assistenten für taubblinde Menschen in Deutsch-
land zu etablieren, und welche Maßnahmen verfolgt sie in diesem Zusam-
menhang?

14. Wurde die im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung
des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Men-
schen mit Behinderungen (NAP) genannte Studie zur Lebenssituation taub-
blinder Menschen bereits in Auftrag gegeben?

Wenn ja, wer wird die Studie durchführen, welche Bereiche soll die Studie
insbesondere untersuchen, und wann ist mit Ergebnissen zu rechnen?

Wenn nein, warum nicht?

15. Sieht die Bundesregierung in der Einführung eines eigenen Merkzeichens
TBL im Schwerbehindertenausweis für taubblinde Menschen die Möglich-
keit, die Versorgungssituation der Betroffenen zu verbessern?

Wenn ja, wann ist dessen Einführung geplant?

Wenn nein, warum nicht?

Zur gesundheitlichen Versorgung

16. Sind der Bundesregierung Probleme bei der Bereitstellung von Gebärden-
sprachdolmetschern für hörbeeinträchtigte Patientinnen und Patienten vor
medizinischen Eingriffen, für die eine persönliche Einwilligung erforder-
lich ist, bekannt?

Wenn ja, welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um die Situation
zu verbessern?

17. Welche Regelungen der Kostenübernahme von Gebärdensprachdolmet-
schern bestehen bei der stationären Versorgung sowie bei ambulanten Ope-
rationen von hörbeeinträchtigten Patientinnen und Patienten, und sind der
Bundesregierung in diesem Zusammenhang Probleme bekannt?

18. Welche nachhaltig wirkenden Regelungen zum Abbau kommunikativer
Barrieren zwischen Ärztinnen und Ärzten und ihren hörbehinderten Patien-
ten trifft die Bundesregierung im Rahmen des im NAP angekündigten Pro-
gramms barrierefreie Arztpraxen?

Drucksache 17/10254 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

19. Werden in diesem Zusammenhang an der Erarbeitung des Gesamtkonzep-
tes Menschen mit Behinderung als Vertreterinnen und Vertreter der Interes-
sen von Patientinnen und Patienten teilnehmen?

20. Wie bewertet die Bundesregierung im Hinblick auf die Hörgeräteversor-
gung schwerhöriger Menschen den durch den Spitzenverband der gesetzli-
chen Kranken- und Pflegekassen (GKV) festgelegten neuen Festbetrag für
Hörgeräte für an Taubheit grenzende Versicherte in Höhe von 786,86 Euro,
und hält sie diesen in Bezug auf das Urteil des Bundessozialgerichtes zur
Hörgeräteversorgung vom 17. Dezember 2009 für ausreichend?

21. Wie hoch ist die Verbreitung der Schwerhörigkeitsgrade hochgradiger
(WHO-3) und mittelgradiger Schwerhörigkeit (WHO-2), für die eine Leis-
tungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen besteht?

Wann rechnet die Bundesregierung mit weiteren neuen Festbeträgen für die
Gruppen der hochgradig und mittelgradig schwerhörigen Menschen?

Zur Barrierefreiheit der Medien und der Kommunikationsmöglichkeiten

22. Wurde der im NAP beschriebene „Runde Tisch des Bundesministeriums
für Arbeit und Soziales zum barrierefreien Fernsehen“ bereits eingesetzt?

Wenn ja, wer nimmt daran teil, und welche konkreten Maßnahmen bezüg-
lich der Bereitstellung eines ungehinderten Zugangs zu Informationsange-
boten und Medien sollen ergriffen werden?

Wenn nein, wann wird er eingesetzt, und wer wird daran teilnehmen?

23. Wurde oder wird im Rahmen des o. g. Runden Tischs diskutiert, auf
welche Weise der prozentuale Anteil barrierefreier Angebote, die derzeit
im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gesendet werden, erhöht werden kann?

Wenn ja, welche Annahmen über die Zahl barrierefreier Angebote liegen
der Diskussion zugrunde (bitte Untertitelungen und Übersetzungen in die
Deutsche Gebärdensprache gesondert aufführen)?

24. Beabsichtigt die Bundesregierung auf die Bundesländer und die öffentlich-
rechtlichen Rundfunkanstalten einzuwirken, damit die Quote von Unter-
titelungen sowie gebärdengedolmetschten Sendungen schneller steigt, und
hält sie es in diesem Zusammenhang für sinnvoll, dass konkrete zeitliche
Vorgaben für die Ausweitung des barrierefreien Angebots im Staatsvertrag
für Rundfunk und Telemedien (RStV) durch die Bundesländer festge-
schrieben werden?

25. Wie bewertet die Bundesregierung die mit Inkrafttreten des neuen Rund-
funkgebührenmodells faktisch einhergehende Kürzung des Nachteilsaus-
gleichs der betroffenen schwerbehinderten Menschen vor dem Hintergrund
nach wie vor existierender Zugangsbarrieren zur Nutzung des von ihnen
mitfinanzierten Angebots?

26. Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, private Medienunternehmer
durch angemessene Regelungen zum Ausbau des barrierefreien Angebots
zu verpflichten, damit die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit
Behinderung an medialen Angeboten auch durch private Fernsehsender er-
möglicht wird?

Wenn ja, welche?

Wenn nein, warum nicht?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/10254

27. Bis wann wird die Bundesregierung eine generelle gesetzliche Verpflich-
tung zur Erstellung von barrierefreien Fassungen (Audiodeskription und
Untertitelung) bei den mit Bundesmitteln geförderten Filmen einführen,
wann wird eine solche Regelung praktisch greifen, und welche zusätz-
lichen Maßnahmen zur Verbesserung der Barrierefreiheit sind im Bereich
Filmabspiel/Kino geplant?

28. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Abschluss-
bericht der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag ge-
gebenen „Machbarkeitsstudie zur Abschätzung der Nutzungsmöglichkei-
ten von Gebärdenavataren“, und ist die Finanzierung von Folgeprojekten
geplant?

Wenn ja, welche Projekte sind geplant?

Wenn nein, warum nicht?

29. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung ein bundesweit einheitli-
ches mobiles Notrufsystem zu schaffen, über das barriere-, vorwahl- und
kostenfreie Notrufe gesendet werden können, und wie bewertet sie tech-
nisch sowie rechtlich in diesem Zusammenhang Apps für Smartphones, die
automatisch via GPS (Global Positioning System) alle erforderlichen Da-
ten an eine zentrale Leitstelle weiterleiten?

30. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Vorschlag,
nach dem Beispiel Frankreichs eine bundesweit einheitliche Notrufnum-
mer für gehörlose und schwerhörige Menschen zu schaffen, die per Text-
eingabe (SMS, E-Mail) und über Gebärdensprache (Video-Chat) zugäng-
lich ist?

31. Warum hat die Bundesregierung im Zuge der Novellierung des Telekom-
munikationsgesetzes (TKG) auf die gesetzliche Verankerung neuer Mög-
lichkeiten für Notrufverbindungen, die durch sprach- oder hörbehinderte
Endnutzer eingeleitet werden, verzichtet?

32. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Kritik der
Deutschen Gesellschaft der Hörgeschädigten – Selbsthilfe und Fachver-
bände e. V., durch § 45 Absatz 3 TKG eine Ungleichbehandlung gegenüber
hörenden Nutzern hinsichtlich der Kostenbeteiligung an Telekommunika-
tionsvermittlungsdiensten im privaten Bereich zu erfahren?

Berlin, den 2. Juli 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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