BT-Drucksache 17/10224

Umsetzung der Verschlechterungsverbote des EWG-Türkei-Assoziationsrechts durch die Bundesländer

Vom 26. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10224
17. Wahlperiode 26. 06. 2012

Große Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Annette Groth, Heike Hänsel, Andrej Hunko,
Ulla Jelpke, Jens Petermann, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Katrin Werner
und der Fraktion DIE LINKE.

Umsetzung der Verschlechterungsverbote des EWG-Türkei-Assoziationsrechts
durch die Bundesländer

Die Fraktion DIE LINKE. hat in der Vergangenheit durch mehrere parlamenta-
rische Anfragen auf das Problem einer unzureichenden Umsetzung der Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum EWG-Türkei-Asso-
ziationsrecht aufmerksam gemacht (vgl. den Überblick der Bundesregierung in
ihrer Vorbemerkung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bun-
destagsdrucksache 17/9719). Das Assoziationsrecht (AssR) umfasst neben dem
Assoziationsabkommen aus dem Jahr 1963 unter anderem das Zusatzprotokoll
zum Abkommen (ZP) und den Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/
Türkei (ARB 1/80).

Eine besondere Bedeutung kommt den so genannten Stillhalteklauseln bzw. Ver-
schlechterungsverboten des AssR zu. Artikel 13 ARB 1/80 und Artikel 41 Ab-
satz 1 ZP verbieten den Vertragsstaaten vor dem Hintergrund des Ziels einer
Annäherung bzw. eines späteren Beitritts der Türkei zur Europäischen Union
(EU) die Einführung „neuer Beschränkungen“ in Bezug auf die Arbeitnehmer-
freizügigkeit, die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit, wovon nach der
Rechtsprechung des EuGH auch aufenthaltsrechtliche Regelungen umfasst sind.
Diese Verschlechterungsverbote erfordern die Kenntnis der jeweiligen Rechts-
lage und Praxis im Aufenthalts- und Beschäftigungsrecht seit 1973 bzw. 1980
(Gesetze, Verordnungen, Runderlasse), denn für türkische Staatsangehörige gilt
die seitdem jeweils günstigste Regelung, nachträgliche materielle oder verfah-
rensrechtliche Verschlechterungen sind nicht zulässig.

Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat in einer Ausar-
beitung vom 21. Juni 2011 („Anwendungsbereiche und Auswirkungen der
Stillhalteklausel im Assoziationsrecht der EU mit der Türkei“, WD 3 – 3000 –
188/11) auf die sich hieraus ergebenden umfangreichen Konsequenzen für das
deutsche Aufenthaltsrecht hingewiesen. Diese Einschätzung deckt sich weitge-
hend mit der fachspezifischen Kommentarliteratur. Sehr übersichtlich hat z. B.
Rechtsanwalt Ünal Zeran aus Hamburg die Rechtsprechung des EuGH zum
AssR und die notwendigen Schlussfolgerungen für das deutsche Aufenthalts-

recht erläutert (vgl. ASYLMAGAZIN, 10/2011 und 12/2011, „Gewitterwolken
über dem deutschen Aufenthaltsgesetz“).

Die Bundesregierung hingegen interpretiert die Rechtsprechung des EuGH
ganz anders – anders übrigens auch als z. B. die Niederlande und Österreich
(vgl. Plenarprotokoll 17/138, S. 16445 (D)) – und leugnet einen weitergehen-
den Handlungsbedarf. Nach Ansicht der Fragstellerinnen und Fragesteller

Drucksache 17/10224 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

dürfte der maßgebliche Grund hierfür sein, dass durch die Rechtsprechung des
EuGH alle wesentlichen Verschärfungen im Aufenthaltsrecht der letzten Jahre
in Frage gestellt werden (z. B. die Sprachanforderungen beim Ehegattennach-
zug), weil sich aus der Rechtsprechung ergibt, dass die Verschärfungen auf die
große Gruppe der in Deutschland lebenden türkischen Staatsangehörigen nicht
anwendbar sind.

Eine gewisse Verärgerung des EuGH über die mangelhafte Umsetzung des
AssR wird in Äußerungen der EuGH-Richterin Maria Berger erkennbar (Inter-
view mit „Die Presse“ vom 25. September 2011): „Auffällig oft landen bei uns
derzeit Fälle, bei denen es um die Einhaltung des Assoziierungsabkommens mit
der Türkei geht. In einer Zeit, als man türkische Arbeitnehmer dringend gesucht
hat, wurden ihnen die Rechte versprochen … Jetzt, wo diese Rechte fällig wer-
den, wollen einige Mitgliedstaaten nichts mehr davon wissen“. Die von den
Bundesregierungen vertretenen rigiden Rechtsauffassungen zum AssR wurden
in konkreten Verfahren vom EuGH immer wieder zurückgewiesen (vgl. z. B.
die EuGH-Urteile zu: Toprak vom 9. Dezember 2010, Rn. 48, Urteil C-92/07
vom 29. April 2010, Rn. 42, Abatay vom 21. Oktober 2003, Rn. 75, Birden vom
26. November 1998, Rn. 29 und 51, Demirel vom 30. September 1987, Rn. 6).

In ihrem Antrag auf Bundestagsdrucksache 17/7373 fordert die Fraktion DIE
LINKE. vor diesem Hintergrund eine umfassende Berücksichtigung, Umset-
zung und gesetzliche Verankerung der Rechtsprechung des EuGH zum AssR
und einen systematischen Rechtsvergleich, aus dem sich der konkrete Ände-
rungsbedarf ergibt.

Die Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern (BMI) zum
ARB 1/80 basieren auf dem Stand des Jahres 2002 und sind damit in Bezug auf
die Verschlechterungsverbote praktisch wertlos, weil der EuGH diesbezüglich
in den letzten Jahren eine Vielzahl maßgeblicher Urteile gefällt hat (vgl. z. B.
die EuGH-Urteile zu: Dereci vom 15. November 2011, Oguz vom 21. Juli
2011, Toprak vom 9. Dezember 2010, Urteil C-92/07 vom 29. April 2010,
Sahin vom 17. September 2009). Im Mai 2011 erklärte die Bundesregierung,
die Anwendungshinweise würden „derzeit überarbeitet“ (Bundestagsdruck-
sache 17/5884, zu Frage 1); ein geschlagenes Jahr später hieß es unverändert,
die Anwendungshinweise würden „derzeit überarbeitet“ – und es sei auch
„noch nicht absehbar, wann die Überarbeitung abgeschlossen sein wird“ –
(Bundestagsdrucksache 17/9718, zu Frage 3). Das kuriose Ergebnis ist, dass
eine völlige Unklarheit über die Rechte türkischer Staatsangehöriger besteht,
obwohl das AssR in seiner Bindungswirkung sogar Verordnungen und Richt-
linien der Europäischen Union vorgeht.

In ihrer Vorbemerkung auf Bundestagsdrucksache 17/5884 bekundete die Bun-
desregierung, dass sie es nicht als ihre Aufgabe ansehe, eine Beachtung des
AssR in der Auslegung durch den EuGH sicherzustellen, zumal für die Rechts-
anwendung nach ihrer Auffassung „überwiegend“ die Bundesländer zuständig
seien. Nach ihren Kenntnissen zu dieser Anwendungspraxis der Bundesländer
gefragt, erklärte die Bundesregierung wiederum, es lägen ihr hierzu „keine
Erkenntnisse“ vor (Antwort zu den Fragen 1 bis 3 und 5 bis 20 auf Bundestags-
drucksache 17/9718). Es sei auch nicht ihre Aufgabe, „eine Länderumfrage zu
der Frage zu machen, auf welche Weise die Länder von ihrer Verwaltungs-
hoheit bei der Anwendung des Assoziationsrechts Gebrauch machen“, zumal
sie im Rahmen ihrer Aufsichtspflicht „einen gewissen Spielraum [habe], ob,
wann und wie sie beaufsichtigt“ (a. a. O.).

Doch selbst wenn man davon ausgeht, dass sich das parlamentarische Frage-
recht nur auf den Verantwortungsbereich der Bundesregierung erstreckt, wäre
er vorliegend eröffnet. Der Verantwortungsbereich der Bundesregierung ist

weit zu verstehen. Er umfasst alle Bereiche, auf die die Bundesregierung un-
mittelbar oder mittelbar Einfluss nehmen kann (Sächsischer Verfassungs-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10224

gerichtshof, Beschluss vom 5. November 2009 – Vf. 133-I-08, vgl. auch Bun-
desverfassungsgericht, Beschluss vom 1. Juli 2009 – 2 BvE 5/06). Es genügt
beispielsweise, dass die Bundesregierung kraft rechtlicher Vorschriften tätig
werden kann (BayVerfGH, NVwZ 2007, S. 204). Das ist bei der Ausführung
der Bundesgesetze in landeseigener Verwaltung der Fall. Die Bundesregierung
übt nach Artikel 84 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG) die Aufsicht darüber aus,
dass die Länder die Bundesgesetze dem geltenden Recht gemäß ausführen,
und dazu gehört auch die assoziationsrechtskonforme Anwendung der Bundes-
gesetze (Jarass/Pieroth, GG, Artikel 84 Rn. 18).

Ist der Verantwortungsbereich erst einmal eröffnet, kann sich die Bundesregie-
rung den Abgeordneten gegenüber nicht auf einen gewissen Spielraum oder ein
gewisses Ermessen berufen. Sie muss die Fragen beantworten, soweit keine
verfassungsrechtlichen Ausnahmen vorliegen. Dies trägt die Bundesregierung
jedoch nicht vor. Sie sind auch nicht ersichtlich.

Die Ausführungen der Bundesregierung zum angeblich fehlenden Handlungs-
bedarf sind ebenfalls nicht nachvollziehbar. „Systematische Rechtsverstöße“
seien ihr nicht bekannt und auch nicht vorgelegt worden, schreibt sie – dabei
hatten die Fragestellerinnen und Fragesteller in ihrer Vorbemerkung unter ande-
rem auf die Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bun-
destages hingewiesen, wonach die derzeitige Anwendung des Aufenthaltsge-
setzes in zahlreichen Punkten gegen das AssR verstößt. Wenig plausibel ist
schließlich die Behauptung der Bundesregierung, keine Erkenntnisse über die
Umsetzung des Assoziationsrechts durch die Länder zu haben angesichts der
von ihr selbst eingeräumten ständigen „informellen Kontakte auf allen Arbeits-
ebenen“ hierzu (vgl. Antwort zu den Fragen 1 bis 3 und 5 bis 20 auf Bundes-
tagsdrucksache 17/9718).

Um eine gewissenhafte Beantwortung der Fragen zur Umsetzung insbesondere
der Verschlechterungsverbote des AssR durch die Bundesländer mit Hilfe einer
Länderabfrage zu gewährleisten, werden diese Fragen erneut als Große Anfrage
an die Bundesregierung gerichtet, zumal ihr in diesem Rahmen die zur Beant-
wortung notwendige Abfrage an die Bundesländer ohne Zweifel zumutbar ist.
Dies zeigen entsprechende Länderabfragen zur Beantwortung anderer Großer
Anfragen (vgl. z. B. die Bundestagsdrucksachen 17/7446, 16/13558, 16/9018
und 16/11384), aber auch Kleiner Anfragen (vgl. entsprechende Nachweise für
die Vergangenheit in der Vorbemerkung auf Bundestagsdrucksache 16/11384,
S. 2, sowie für diese Legislaturperiode z. B. Bundestagsdrucksache 17/842).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche allgemeinen Vorgaben zu den Verschlechterungsverboten des AssR
haben die Bundesländer den ausführenden Ausländerbehörden in welcher
Form gemacht, und wie wird in den einzelnen Bundesländern der Personen-
kreis definiert, der sich hierauf berufen kann (bitte hier, wie auch bei allen
Folgefragen, differenziert nach Bundesländern und entsprechend ihrer Aus-
künfte antworten, soweit dort unterschiedliche Rechtsauffassungen, Vorga-
ben, Praktiken usw. bestehen)?

2. In welcher Weise (durch welche Stellen, in welchem Verfahren) werden Ur-
teile des EuGH zum AssR von den einzelnen Bundesländern rezipiert, inter-
pretiert und deren Inhalte an die ausführenden Ausländerbehörden übermit-
telt?

3. Zu welchen letzten zehn EuGH-Urteilen mit Bezug zum AssR haben welche
Bundesländer welche Rundschreiben oder sonstigen Anweisungen oder In-
formationen an die ausführenden Ausländerbehörden übermittelt, um die

Beachtung von AssR sicherzustellen (bitte jeweils das Urteil benennen so-
wie wie dieses Urteil konkret umgesetzt werden soll)?

Drucksache 17/10224 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

4. Inwieweit wünschen sich die einzelnen Bundesländer von der Bundesregie-
rung mehr, klarere, detailliertere Vorgaben, Informationen, Anwendungshin-
weise, gesetzliche Regelungen usw. zum AssR bzw. zu den Verschlechte-
rungsverboten bzw. zu maßgeblichen Urteilen des EuGH (bitte die Positio-
nen der einzelnen Bundesländer erfragen und übermitteln; gefragt ist nicht
die Einschätzung der Bundesregierung hierzu)?

5. Inwieweit sehen die von den Behörden in den einzelnen Bundesländern be-
nutzten Antragsformulare die Beantragung des Aufenthaltstitels nach § 4
Absatz 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vor, und inwieweit gibt es An-
weisungen auf Landesebene dazu, dass potentiell Betroffene auf die (Pflicht
zur) Antragstellung nach § 4 Absatz 5 AufenthG hingewiesen und/oder ent-
sprechend beraten werden sollen?

6. Welche Bundesländer (neben Baden-Württemberg und Hamburg; vgl. Bun-
destagsdrucksache 17/1927, zu Frage 10) haben inzwischen die Standesämter
und/oder die Ausländerbehörden (bitte differenziert beantworten) darüber in-
formiert, dass in Deutschland geborene Kinder türkischer Staatsangehöriger
auch dann die deutsche Staatsangehörigkeit nach § 4 Absatz 3 des Staatsan-
gehörigkeitsgesetzes (StAG) erworben haben können, wenn deren ausländi-
sche Eltern nicht über einen im entsprechenden Formblatt eigens aufgeführ-
ten unbefristeten Aufenthaltstitel verfügen, welche Erkenntnisse, Debatten
oder Maßnahmen gibt es inzwischen auf der Länderebene zu der Problematik
einer unerkannt gebliebenen deutschen Staatsangehörigkeit von Kindern tür-
kischer Eltern (vgl. Bundestagsdrucksache 17/1927), und inwieweit wird in
diesem Zusammenhang das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts 1 C 6.11
vom 22. Mai 2012 berücksichtigt, wonach ein assoziationsrechtliches Dauer-
aufenthaltsrecht im Aufenthaltstitel eindeutig erkennbar sein muss (vgl.
auch: www.migrationsrecht.net/nachrichten-auslaenderrecht-europa-und-eu/
staatsangehoerigkeit- stag-geburt-tuerkei.html)?

7. Inwieweit haben die einzelnen Bundesländer durch Anweisungen an die
Standesämter und/oder die Ausländerbehörden sichergestellt, dass bei türki-
schen Staatsangehörigen bei der Berechnung des nach § 4 Absatz 3
Nummer 1 StAG erforderlichen achtjährigen rechtmäßigen gewöhnlichen
Aufenthalts zur Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit von Kindern
ausländischer Eltern durch Geburt in Deutschland Unterbrechungen des
rechtmäßigen Aufenthalts (bis zu welchem Zeitraum?) infolge einer verspä-
teten Antragstellung (zur Verlängerung) unschädlich sind?

8. Inwieweit stellen die einzelnen Bundesländer sicher, dass türkische Selbst-
ständige vor dem Hintergrund der Verschlechterungsverbote für ein Aufent-
halts- und Niederlassungsrecht keine Mindestinvestitionssumme, keine be-
stimmte Zahl von Beschäftigten und auch kein übergeordnetes öffentliches
Interesse vorweisen müssen, da entsprechend der Rechtslage vor 1990 ledig-
lich glaubhaft gemacht werden musste, dass eine Einfügung ins Wirtschafts-
leben erfolgen wird (vgl. Ünal Zeran, ASYLMAGAZIN, 12/2011, S. 398 f.)?

9. Inwieweit stellen die einzelnen Bundesländer sicher, dass türkischen Staats-
angehörigen mit einer vor dem 1. Januar 2005 erteilten unbefristeten Arbeits-
erlaubnis vor dem Hintergrund der Verschlechterungsverbote hieraus unter
Umständen ein unbefristetes Aufenthaltsrecht zukommt (bzw. in vergleich-
baren Fällen einer „überschießenden Arbeitserlaubnis“ ein entsprechendes
Aufenthaltsrecht, vgl. Ünal Zeran, ASYLMAGAZIN, 12/2011, S. 399 sowie
das EuGH-Vorlageverfahren „Gülbahace“ C-268/11, in dem die Europäische
Kommission mit Schriftsatz vom 12. September 2011 und in der mündlichen
Verhandlung eine entsprechende Stellungnahme abgegeben hat)?

10. Inwieweit stellen die einzelnen Bundesländer sicher, dass Anträgen auf

Aufenthaltserlaubnis bzw. verspäteten Verlängerungsanträgen von türki-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/10224

schen Staatsangehörigen vor dem Hintergrund der Verschlechterungsver-
bote eine Fiktionswirkung zukommt (entsprechend § 5 Absatz 1 und § 21
Absatz 3 des Ausländergesetzes – AuslG – 1965) und dass entsprechende
Fiktionsbescheinigungen auch keine Gebühren kosten (vgl. Ünal Zeran,
ASYLMAGAZIN, 12/2011, S. 400 und 404)?

11. Inwieweit haben die einzelnen Bundesländer durch Anweisungen an die
zuständigen Ausländerbehörden sichergestellt, dass auch nach der Ver-
schärfung des § 8 Absatz 3 AufenthG zum 1. Juli 2011 die Nichtteilnahme
an einem Integrationskurs bei türkischen Staatsangehörigen nicht zu einer
Aufenthaltsbeendigung führen darf, wie zu Nummer 44a.3.3 der Allgemei-
nen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz klargestellt wurde?

Wenn dies nicht bundesweit der Fall sein sollte, was unternimmt die Bun-
desregierung in Bezug auf eine entsprechende Klarstellung bzw. Ergän-
zung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum AufenthG?

12. Inwieweit stellen die einzelnen Bundesländer sicher, dass bei türkischen
Staatsangehörigen vor dem Hintergrund der Verschlechterungsverbote für
die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis einfache Deutschkenntnisse
genügen und keine fünfjährige Beitragszahlung zur Rentenversicherung
verlangt wird (entsprechend § 24 AuslG 1990; vgl. Ünal Zeran, ASYL-
MAGAZIN, 12/2011, S. 400)?

13. Inwieweit stellen die einzelnen Bundesländer sicher, dass der Kindernach-
zug bei türkischen Staatsangehörigen vor dem Hintergrund der Verschlech-
terungsverbote bis zum 18. Lebensjahr möglich ist – bis zum 16. Lebensjahr
ohne Visumspflicht (entsprechend § 2 Absatz 2 Nummer 1 AuslG 1965;
vgl. Ünal Zeran, ASYLMAGAZIN, 12/2011, S. 400 f. und VG Darmstadt,
Beschluss vom 3. November 2011, 3 L 1098/11.DA.A, S. 5 f.)?

14. Inwieweit stellen die einzelnen Bundesländer bei türkischen Staatsangehö-
rigen vor dem Hintergrund der Verschlechterungsverbote sicher, dass ein
eigenständiges Aufenthaltsrecht für Ehegatten entsprechend der bis Mitte
2011 geltenden Rechtslage bereits nach zwei Jahren erlangt wird (vgl. Ünal
Zeran, ASYLMAGAZIN, 12/2011, S. 401 und Bundesregierung auf Bun-
destagsdrucksache 17/4623, zu Frage 1)?

15. Inwieweit stellen die einzelnen Bundesländer bei türkischen Staatsangehö-
rigen vor dem Hintergrund der Verschlechterungsverbote sicher, dass es bei
türkischen Staatsangehörigen im Zusammenhang des (und sei es verpflich-
tenden) Integrationskursbesuchs keine aufenthaltsrechtlichen Sanktionen
geben darf (vgl. Ünal Zeran, ASYLMAGAZIN, 12/2011, S. 400 und die
dem Assoziationsrecht geschuldete entsprechende Praxis in den Nieder-
landen und in Österreich)?

16. Welche Vorgaben haben die einzelnen Bundesländer den Ausländerbehör-
den bei der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehö-
riger gemacht vor dem Hintergrund, dass nach der Rechtsprechung des
EuGH das System und die Regelungen des AufenthG der Ist-, Regel- und
Kann-Ausweisungen wie auch generalpräventive Überlegungen auf türki-
sche Staatsangehörige nicht anwendbar sind (vgl. zuletzt das Ziebell-Urteil
des EuGH vom 8. Dezember 2011, Rn. 80 ff.)?

17. Welche Vorgaben haben die einzelnen Bundesländer den Ausländerbehör-
den in Bezug auf die Gebührenerhebung für Aufenthaltstitel türkischer
Staatsangehöriger gemacht, da die derzeitigen Gebühren nicht mit dem Ver-
schlechterungsverbot nach Artikel 13 ARB 1/80 vereinbar sind (vgl. Ünal
Zeran, ASYLMAGAZIN, 12/2011, S. 403 f., vgl. die Praxis z. B. in Däne-
mark und in den Niederlanden, vgl. auch jüngst VG Aachen, 8 K 1159/10)?

Drucksache 17/10224 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

18. Welche Vorgaben zum Diskriminierungsverbot nach Artikel 9 des Assozia-
tionsabkommens von 1963 bzw. nach Artikel 10 ARB 1/80 infolge der
Rechtsprechung des EuGH (z. B. im Toprak-Urteil) haben die einzelnen
Bundesländer den Ausländerbehörden gemacht?

19. Inwieweit haben die einzelnen Bundesländer die Ausländerbehörden darü-
ber informiert, dass Rechte nach dem AssR auch bei eingebürgerten deut-
schen Staatsangehörigen mit ergänzender türkischer Staatsangehörigkeit
gelten (vgl. EuGH-Urteil vom 29. März 2012 – Kahveci/Inan, C-7/10 und
C-9/10)?

20. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung bzw. ziehen die einzel-
nen Bundesländer aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts 1 C 6.11
vom 22. Mai 2012, wonach die bisher übliche Form und Bescheinigung ei-
ner Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Absatz 5 AufenthG den Anforderungen
des Assoziationsrechts nicht genügen und eine Aufenthaltserlaubnis, die
ein Daueraufenthaltsrecht nach Artikel 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB
1/80 bescheinigt, vielmehr eindeutig erkennen lassen muss, dass ihr ein
assoziationsrechtliches Daueraufenthaltsrecht zugrunde liegt?

21. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus den Positionen
und Maßnahmen der Bundesländer zur Umsetzung und Beachtung der Ver-
schlechterungsverbote des AssR, und welchen Handlungs- oder Gesetzes-
änderungsbedarf sieht sie gegebenenfalls vor dem Hintergrund der Ant-
worten der Bundesländer auf die obigen Fragen?

22. Worauf stützt die Bundesregierung ihre Vermutung, es gebe trotz fehlender
allgemeiner aktueller Anwendungshinweise zum AssR keine „Defizite bei
der Umsetzung assoziationsrechtlicher Vorgaben durch die zuständigen Be-
hörden“ (Bundestagsdrucksache 17/9718, zu den Fragen 1 bis 3 und 5 bis
20), weil die „zuständigen Ausländerbehörden … an Recht und Gesetz ge-
bunden sind und dabei auch die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung
beachten“ (Bundestagsdrucksache 17/9719, zu Frage 3), obwohl in einem
Bericht vom April 2011 einer von der Innenministerkonferenz eingesetzten
Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft (Ausschussdrucksache 17(4)270) in
Nummer 3.1 ausdrücklich hingewiesen wird auf die „Überforderung der
Ausländerbehörden“ z. B. wegen „mangelnder Fachkenntnis für die Lösung
von z. T. anspruchsvollen Rechtsproblemen“ (nicht spezialisierte Sachbear-
beiter seien „schnell überfordert“), aber auch auf den mit einer „erheblichen
Fluktuation beim Personal der Ausländerbehörden“ verbundenden „Erfah-
rungsverlust“, und sieht die Bundesregierung die Rechtsprechung des
EuGH zu den Verschlechterungsverboten des AssR als eine eher einfache
oder eher komplizierte Rechtsmaterie an (bitte ausführen)?

23. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass Familiennachzugsregelun-
gen, die einen Bezug zur Beschäftigung aufweisen, dem Verschlechte-
rungsverbot nach Artikel 13 ARB 1/80 unterfallen, und wann bzw. in wel-
chen Fallkonstellationen weisen Familiennachzugsregeln einen solchen
Bezug zur Beschäftigung auf (Nachfrage auf Bundestagsdrucksache 17/
9719, Antwort zu den Fragen 6 und 8, bitte ausführlich begründen)?

24. Ist ein solcher Bezug zur Beschäftigung bei Familiennachzugsregeln bei-
spielsweise gegeben, wenn ein nachgezogener oder nachzugswilliger Ehe-
gatte eines in Deutschland assoziationsberechtigt lebenden türkischen
Staatsangehörigen eine nicht nur völlig untergeordnete Beschäftigung
anstrebt (Nachfrage auf Bundestagsdrucksache 17/9719, Antwort zu den
Fragen 6 und 8, bitte ausführlich begründen unter Berücksichtigung des
Urteils des Bundesverwaltungsgerichts 1 C 10.11 vom 19. April 2012, nach
dem auch eine geringfügige Beschäftigung mit geringer Wochenarbeitszeit

ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht vermitteln kann)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/10224

25. Wie kann sich die Bundesregierung in Beantwortung der Frage 5 auf Bun-
destagsdrucksache 17/6712 zur Rechtfertigung ihrer Rechtsauffassung auf
Rn. 74 ff. des Abatay-Urteils beziehen, in der das damalige Vorbringen der
Bundesregierung, das Verschlechterungsverbot gelte nur, wenn bereits eine
ordnungsgemäße Beschäftigung ausgeübt würde und ein Aufenthaltsrecht
bestehe, vom EuGH ausdrücklich zurückgewiesen wurde (Rn. 75), und
zwar mit unter anderem folgenden Argumenten, die auch der jetzigen
Rechtsauffassung der Bundesregierung entgegenstehen:

a) „der Schutz der Rechte türkischer Staatsangehöriger auf dem Gebiet der
Ausübung einer Beschäftigung [kann] nicht Gegenstand von Artikel 13
des Beschlusses Nr. 1/80 sein (…), da diese Rechte bereits von Artikel 6
dieses Beschlusses vollständig erfasst sind“ (Rn. 79), d. h. dass das
Verschlechterungsverbot gerade die nicht bereits in den Arbeitsmarkt
integrierten türkischen Staatsangehörigen begünstigen soll (vgl. auch
Rn. 83 f. sowie die Urteile Sahin, Rn. 50 f., Toprak, Rn. 45 f. und C-92/07,
Rn. 46 und 50);

b) „Vielmehr verbietet dieser Artikel 13 (…) den Mitgliedstaaten, den Zu-
gang türkischer Staatsangehöriger zu einer Beschäftigung durch neue
Maßnahmen einzuschränken“ (Rn. 80), d. h. es geht bei den Verschlech-
terungsverboten um die Zugangsrechte zu einer beabsichtigten, aber
noch nicht ausgeübten Beschäftigung (vgl. auch Rn. 89, in der aus-
drücklich von der „Absicht, sich in den Arbeitsmarkt der Bundesrepu-
blik Deutschland als Aufnahmemitgliedstaat zu integrieren“, als ent-
scheidendes Kriterium die Rede ist) und

c) das Verschlechterungsverbot gelte auch für Familienangehörige türki-
scher Arbeitnehmer, „deren Einreise … nicht von der Ausübung einer
Beschäftigung als Arbeitnehmer“ abhängt (Rn. 82), so dass ersichtlich
wird, dass die von der Bundesregierung vorgenommene Trennung von
„persönlichem“ und „sachlichem“ Schutzbereich des Artikels 13 ARB
1/80 in Bezug auf Familienangehörige und die Frage der Beschränkung
der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht haltbar ist;

(bitte auf alle Unterfragen getrennt und mit Begründung antworten; Wie-
derholung der Frage 7 auf Bundestagsdrucksache 17/9719; die Fragestelle-
rinnen und Fragesteller halten es für geboten und insbesondere im Rahmen
einer Großen Anfrage auch für zumutbar, dass die Bundesregierung auf
diese konkreten Fragen konkret und umfassend antwortet – und zwar nicht
mit einem Verweis auf an anderer Stelle gegebene Auskünfte, selbst wenn
sie der Auffassung sein sollte, sich hierdurch wiederholen oder in einen
vermeintlichen „juristischen Fachdisput“ eintreten zu müssen, in den sie
sich jedenfalls begibt, wenn sie sich im Recht glaubt, vgl. Bundestags-
drucksache 17/9719, Antworten zu den Fragen 8, 11 und 30)?

26. Mit welchen Argumenten und mit welchen Auswirkungen legen die nieder-
ländische, die dänische und die österreichische Regierung (bitte nach
Ländern differenziert beantworten) das EWG-Türkei-Assoziationsrecht und
insbesondere dessen Verschlechterungsverbote anders aus als die Bundes-
regierung, zum Beispiel zu den Punkten verpflichtende Sprachanforderun-
gen im In- und Ausland und Höhe der Gebühren bei Aufenthaltstiteln, und
weshalb konnten deren Argumente die Rechtsauffassung der Bundesregie-
rung nicht „erschüttern“, wie sie auf Bundestagsdrucksache 17/9719 zu den
Fragen 14 und 15 erklärte, nachdem sie zuvor noch behauptet hatte, sie
würde sich mit den genannten Regierungen nicht zu den Fragen des Asso-
ziationsrechts austauschen (vgl. z. B. Plenarprotokoll 17/138, S. 16445 (D))?

Drucksache 17/10224 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
27. Wieso hält es die Bundesregierung nicht für erforderlich, sich z. B. mit den
Ländern Dänemark, Niederlande und Österreich (aber auch mit anderen
EU-Mitgliedstaaten) über eine einheitliche Interpretation und Anwendung
des für alle Unterzeichnerstaaten gleichermaßen verbindlichen EWG-Tür-
kei-Assoziationsrechts bzw. über eine einheitliche Umsetzung der EuGH-
Rechtsprechung hierzu auszutauschen, und welche Rolle spielt die Euro-
päische Kommission hierbei bzw. welche Positionen hat sie bislang dies-
bezüglich eingenommen?

Berlin, den 26. Juni 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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