BT-Drucksache 17/10181

Verlust der Gemeinnützigkeit von Vereinen bei Auflistung in Verfassungsschutzberichten

Vom 27. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10181
17. Wahlperiode 27. 06. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Barbara Höll, Harald Koch, Jens Petermann,
Richard Pitterle, Dr. Axel Troost, Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Verlust der Gemeinnützigkeit von Vereinen bei Auflistung
in Verfassungsschutzberichten

Der Entwurf für das Jahressteuergesetz 2013 sieht vor, dass alle im Verfassungs-
schutzbericht des Bundes oder eines Landes geführten Vereinigungen künftig
automatisch ihre Gemeinnützigkeit und damit verbundene steuerliche Vorteile
verlieren. Schon seit Jahrzehnten haben Finanzämter mutmaßlich verfassungs-
feindlichen Vereinigungen die Gemeinnützigkeit entzogen. Mit der Begrün-
dung, so eine Handhabe gegen Rechtsextreme zu schaffen, wurde erst im Jahr
2008 mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD eine entspre-
chende gesetzliche Regelung in § 51 der Abgabenordnung (AO) geschaffen. Be-
schlossen wurde damals eine Beweislastumkehr. Betroffene Organisationen
mussten im Falle einer Erwähnung im Verfassungsschutzbericht ihre Gemein-
nützigkeit vor dem Finanzamt oder durch Klage vor dem Finanzgericht nach-
weisen. So erklärte der Bundesfinanzhof in einem Urteil vom 11. April 2012,
den Entzug der Gemeinnützigkeit im Falle eines salafistischen Vereins aus Sach-
sen nur aufgrund seiner Erwähnung im Landesverfassungsschutzbericht für
unzulässig, solange kein „extremistisches“ Agieren des Vereins nachweisbar sei.

Das Finanzamt Mainz nahm so nach Protesten den im September 2011 auf-
grund einer Nennung in drei Landesverfassungsschutzberichten erfolgten Ent-
zug der Gemeinnützigkeit des Landesverbandes der Verfolgten des Nazi-
regimes (VVN-BdA) ein halbes Jahr später wieder zurück. Eine Klage war
hier nicht erforderlich.

Nach der Gesetzesänderung hätten die Finanzämter keinen solchen Ermessens-
spielraum mehr. Auch der Gang zum Finanzgericht wäre nicht mehr möglich.
Den betroffenen Vereinigungen bliebe nur noch die Klage vor dem Verwaltungs-
gericht gegen ihre Erwähnung im Verfassungsschutzbericht, was einer Halbie-
rung der Rechtswege gleichkäme. Ausschlaggebend für den Entzug der Ge-
meinnützigkeit soll zudem nicht der jeweilige Landesverfassungsschutzbericht
des Landes, in dem sich der Verein und das zuständige Finanzamt befinden, sein,
sondern bereits die Nennung in irgendeinem der 17 Verfassungsschutzberichte.
Der schärfste Inlandsgeheimdienst könnte so seine Standards bundesweit durch-

setzen. Nach Auffassung der Fragesteller würden die Verfassungsschutzämter
durch die geplante Neuregelung zu Zensoren der Zivilgesellschaft, die so poli-
tisch missliebigen Vereinigungen den finanziellen Boden entziehen können.

Drucksache 17/10181 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele und welche Körperschaften, die vom Verfassungsschutz beobachtet
werden, verfügen nach Kenntnis der Bundesregierung über den Status der Ge-
meinnützigkeit nach § 52 AO (bitte nach Phänomenbereichen aufgliedern)?

2. In wie vielen und welchen Fällen im Einzelnen wurden nach Kenntnis der
Bundesregierung vor Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung in § 51 AO im
Jahr 2008 vom Verfassungsschutz beobachteten Körperschaften die Gemein-
nützigkeit entzogen?

3. a) In welchen und wie vielen Fällen wurde diese Entscheidung nach Kennt-
nis der Bundesregierung nach einer Klage der betroffenen Vereinigungen
vor dem Finanzgericht wieder rückgängig gemacht?

b) In welchen und wie vielen Fällen wurde diese Entscheidung nach Kennt-
nis der Bundesregierung von Seiten der Finanzämter ohne eine Entschei-
dung eines Finanzgerichts wieder rückgängig gemacht?

4. Auf welcher rechtlichen Grundlage erfolgte vor der gesetzlichen Regelung in
§ 51 AO im Jahre 2008 der Entzug der Gemeinnützigkeit bei Körperschaften,
die vom Verfassungsschutz beobachtet wurden?

5. Hat es eine Evaluation der seit 2008 gültigen gesetzlichen Regelung in § 51
AO zum Entzug der Gemeinnützigkeit bei in Verfassungsschutzberichten
genannten Vereinen gegeben?

a) Wenn ja, wann, wie, durch welche Institution mit welchem Ergebnis?

b) Wenn nein, auf Grund welcher Erkenntnisse hält die Bundesregierung
dann eine Änderung von § 51 AO für notwendig?

6. Behält die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion
der FDP auf Bundestagsdrucksache 16/8711 aus dem Jahr 2009 – „Nach den
Grundsätzen unseres Rechtsstaats reicht ein Verdacht oder eine Beobachtung
durch den Verfassungsschutz noch nicht für eine Sanktion – hier: Aberken-
nung der Gemeinnützigkeit – aus“ – ihre Gültigkeit?

a) Wenn ja, wie rechtfertigt die Bundesregierung dann die geplante Ände-
rung von § 51 AO mit einem zwingenden Entzug der Gemeinnützigkeit
bei Nennung einer Körperschaft in einem Verfassungsschutzbericht, und
welche Überlegungen sowie bisherigen Erfahrungen führten dazu, den
Finanzämtern hier keine Einzelfallprüfung mehr zu erlauben?

b) Wenn nein, inwieweit haben sich die Grundsätze des Rechtsstaates nach
Meinung der Bundesregierung inzwischen geändert?

7. Welche Fälle hat es in der Vergangenheit gegeben, in denen Organisationen
entgegen den Wünschen der Bundesregierung als gemeinnützig anerkannt
waren, und um welche Organisationen handelte es sich dabei?

8. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass es sich bei einer Auflistung ei-
ner Körperschaft in einem Verfassungsschutzbericht um eine Unterrichtung
ohne rechtsverbindlichen Charakter handelt?

a) Wenn ja, inwieweit kann eine solche Auflistung dann im Steuerrecht den-
noch als Beweis dienen?

b) Wenn nein, inwieweit betrachtet die Bundesregierung die Auflistung einer
Körperschaft in einem Verfassungsschutzbericht als rechtsverbindlichen
Verwaltungsakt, und wie begründet sie diese Auffassung?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10181

9. Wie verträgt sich der in der geplanten Neufassung von § 51 AO vorgese-
hene automatische Entzug der Gemeinnützigkeit von Körperschaften durch
ein Finanzamt bei Nennung in einem Verfassungsschutzbericht mit dem
grundgesetzlich vorgeschriebenen Prinzip der Gewaltenteilung?

10. Wie verträgt sich der in der geplanten Neufassung von § 51 AO vorgese-
hene automatische Entzug der Gemeinnützigkeit von Körperschaften durch
ein Finanzamt auch bei Nennung in einem Verfassungsschutzbericht eines
anderen Bundeslandes mit dem grundgesetzlich vorgeschriebenen födera-
listischen Prinzip?

11. Inwieweit sieht die Bundesregierung in der Halbierung der möglichen
Rechtswege bei Entzug der Gemeinnützigkeit aufgrund einer Nennung in
einem Verfassungsschutzbericht nach der Novelle von § 51 AO rechtsstaat-
liche Prinzipien gewahrt?

12. Inwieweit sieht die Bundesregierung das Prinzip der Verhältnismäßigkeit
gewahrt beim zwingenden Entzug der Gemeinnützigkeit bei einer Körper-
schaft, die nur aufgrund einer Verlinkung ihrer Website mit „extremisti-
schen“ Organisationen selber in einem Verfassungsschutzbericht gelistet
wird?

13. Aufgrund welcher Regelungen in den Verfassungsschutzgesetzen des Bun-
des und der Länder kommt den Verfassungsschutzämtern nach Auffassung
der Bundesregierung eine Aufsichtsfunktion über die Gemeinnützigkeit
von Körperschaften zu?

14. Auf welche Weise sollen Finanzämter nach Auffassung der Bundesregie-
rung die mögliche Verfassungsfeindlichkeit einer gemeinnützigen Organi-
sation erkennen?

a) Inwieweit müssen die jeweiligen Finanzämter von Verfassungsschutzbe-
hörden über Erkenntnisse zur möglichen Verfassungsfeindlichkeit einer
gemeinnützigen Körperschaft informiert werden?

b) Inwieweit sind Finanzämter verpflichtet, ihrerseits gemeinnützige Kör-
perschaften auf eine mögliche Verfassungsfeindlichkeit zu überprüfen?

c) Welche Verbindlichkeit haben Unterrichtungen von Verfassungsschutz-
ämtern für Finanzämter?

Berlin, den 27. Juni 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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