BT-Drucksache 17/1016

Den Schienenverkehr als sichere Verkehrsform erhalten und stärken

Vom 15. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1016
17. Wahlperiode 15. 03. 2010

Antrag
der Abgeordneten Sabine Leidig, Dr. Gesine Lötzsch, Heidrun Bluhm, Herbert
Behrens, Karin Binder, Steffen Bockhahn, Roland Claus, Caren Lay, Michael
Leutert, Thomas Lutze, Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion DIE LINKE.

Den Schienenverkehr als sichere Verkehrsform erhalten und stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Schienenverkehr ist nicht nur eine nachhaltige und umweltfreundliche
Verkehrsart. Er genießt auch zu Recht den Ruf, ein besonders sicheres Ver-
kehrsmittel zu sein.

2. Dieser gute Ruf hat in jüngerer Zeit in allen drei Bereichen – im Personen-
nahverkehr, im Personenfernverkehr und im Schienengüterverkehr – erheb-
lichen Schaden genommen. Es ereigneten sich schwere Unfälle mit Toten
und Verletzten bzw. mit hohen Sachschäden. Es kam zu erheblichen Beein-
trächtigungen des fahrplanmäßigen Einsatzes von Schienenfahrzeugen auf-
grund von sicherheitsrelevanten Mängeln an Schienenfahrzeugen.

3. Eine wesentliche Ursache dafür war, dass die Deutsche Bahn AG im Hin-
blick auf den angestrebten Börsengang alle Konzernbereiche – und damit
letztlich auch die Sicherheit im Schienenverkehr – den Renditevorgaben des
Vorstands mit Billigung des Aufsichtsrates untergeordnet hat.

4. Mehr als hundert Jahren lang ging man davon aus, dass die entscheidenden
Bauteile, Räder (Radscheiben) und Achsen (Radsatzwellen) – die Radsätze –
für den gesamten Zeitraum des erwarteten Einsatzes der Fahrzeuge von
25 bis 30 Jahren betriebssicher sein würden. Sie sollten den Belastungen, die
in diesem gesamten Zeitraum zu erwarten sein würden, standhalten und
darüber hinaus über ein ergänzendes Sicherheitspotential verfügen. In die-
sem Sinne wurden Standards und Normen berechnet. Nach diesen Standards
und Normen wurden diese Teile ausgelegt. Spätestens seit dem Bruch einer
ICE-Radsatzwelle am 9. Juli 2008 in Köln scheint eine solche Betriebs-
sicherheit der überwiegend verbauten Radsätze nicht mehr gegeben. Anfang
2010 konstatierte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn, dass bei
rund der Hälfte der ICE-Garnituren alle Radsatzwellen ausgewechselt
werden müssen – nach rund einem Drittel, teilweise nur einem Viertel der

erwarteten Einsatzzeit. Bis zum Austausch der Radsatzwellen, der sich nach
Angaben der Bahn bis in das Jahr 2013 hinziehen wird, müssen die Radsätze
aufwendigen, in engen Rhythmen erfolgenden Ultraschallprüfungen unter-
zogen werden, was mit erheblichen finanziellen Belastungen verbunden ist
und die Beeinträchtigungen im Fahrplan verlängert.

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5. Hierzu hätte es bei einer verantwortungsbewussten Schienenverkehrspolitik
nicht kommen dürfen: Bereits bei Festlegung der damals neuen Normen
EN 13103 und EN 13104 im Jahr 2003 hatte der Deutsche Industrienorm-
Ausschuss Kritik geäußert. 2004 ergab eine im Auftrag des Bundesministe-
riums für Bildung und Forschung (BMBF) erstellte und von der Bahn und
der Bahnindustrie begleitete Studie der TU Clausthal, dass die realen Belas-
tungen, denen die Radsätze ausgesetzt sind, um bis zu einem Fünftel höher
liegen als in der Norm angenommen. Schließlich gab es seit 2004 mehrere
fachwissenschaftliche Veröffentlichungen, die auf die Gefahr von Radsatz-
wellenbrüchen und auf die Notwendigkeit neuer Normen verwiesen. Nicht
zuletzt setzen die französische Staatsbahn SNCF im Fall ihres Hochge-
schwindigkeitszugs TGV und die japanischen Eisenbahnbetreiber für die
Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszüge deutlich stärker dimensionierte Rad-
satzwellen ein.

6. Im europaweiten Schienengüterverkehr ist die Liberalisierung besonders
weit fortgeschritten. Die Zahl der hier operierenden Eisenbahn-Verkehrs-
unternehmen (EVU) hat sich deutlich erhöht. Viele verkehren über die deut-
schen Landesgrenzen hinweg; viele Schienenverkehrsunternehmen aus an-
deren europäischen Ländern verkehren im deutschen Schienennetz. Die mit
der Schienenverkehrssicherheit beauftragte deutsche Behörde hat erklärter-
maßen keine Kenntnis darüber, welche Güterwagen im Einzelnen im deut-
schen Netz verkehren.

7. Im Zusammenhang mit der Bahnreform gab es eine weitreichende Umstruk-
turierung hinsichtlich der Überwachung der Sicherheit im Schienenverkehr
und der Zulassung, Überprüfung und Wartung von Schienenfahrzeugen. Die
hierfür verantwortliche Institution, das Eisenbahn-Bundesamt (EBA), griff
zwar in jüngerer Zeit in drastischer Form bei EVU ein und konnte dadurch
zur Aufrechterhaltung der Sicherheit im Schienenverkehr beitragen. Ins-
gesamt kam es jedoch auch in diesem Bereich zu gravierenden Versäumnis-
sen. Dies hängt auch damit zusammen, dass das Eisenbahn-Bundesamt
strukturell unzureichend unabhängig und personell unzureichend ausge-
stattet ist.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. dem Thema Schienenverkehrssicherheit eine hohe Priorität einzuräumen
und die von der Bahn praktizierte Relativierung von Sicherheitsstandards,
durch geringer ausgelegte Dauerfestigkeit mit häufigeren Kontrollen, zu un-
terbinden;

2. eine regelmäßige und ausführliche Statistik über die Unfälle im Schienen-
verkehr, ihre Art, die Häufung spezieller Unfälle usw. zu erstellen und diese
öffentlich zu machen;

3. zu veranlassen, dass die Eisenbahn-Unfalluntersuchungsbehörde des Bun-
des entsprechend § 5 Absatz 5 der Eisenbahn-Unfalluntersuchungsverord-
nung alle Untersuchungsberichte zu Unfällen spätestens ein Jahr nach dem
gefährlichen Ereignis veröffentlicht und erste Erkenntnisse bereits nach drei
Monaten veröffentlicht;

4. durch geeignete Maßnahmen auf EU-Ebene dafür Sorge zu tragen, dass im
stark liberalisierten Schienengüterverkehr die notwendigen Sicherheitsstan-
dards gewährleistet werden, damit tragische Unfälle wie derjenige vom Juni
2009 in Viareggio verhindert werden;

5. auf die Deutsche Bahn AG in geeigneter Form dahingehend Einfluss zu neh-
men, dass der Austausch der Radsatzwellen der ICE-Garnituren in der tech-

nisch kürzest möglichen Frist erfolgt;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1016

6. sich auf EU-Ebene für die notwendigen Konsequenzen aus der Tatsache ein-
zusetzen, dass die realen Belastungen im gegenwärtigen Schienenverkehr
deutlich größer sind als bisher angenommen und als bisher in den für die
Radsätze geltenden Normen abgebildet. Als Resultat muss es – nach ent-
sprechenden Studien und als Ergebnis von praktischen Versuchen – zur Ver-
einbarung neuer Normen auf EU-Ebene – und in der Konsequenz zu stärker
dimensionierten bzw. größeren Belastungen standhaltenden Radsatzwellen –
kommen. Gegebenenfalls muss zur Gewährleistung einer ausreichenden
Schienenverkehrssicherheit die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam
mit dem Deutschen Industrienorm-Ausschuss (DIN) solche Normen, die den
tatsächlichen Belastungen gerecht werden, vereinbaren, und damit eine Vor-
reiterrolle auf EU-Ebene übernehmen;

7. offenzulegen, welche Reparatur- und Instandhaltungskapazitäten in den letz-
ten zehn Jahren im Bereich der Deutschen Bahn AG abgebaut und in wel-
chem Umfang Wartungs- und Instandhaltungsmaßnahmen qualitativ und
quantitativ reduziert wurden. Ein Bericht zu diesen Aspekten ist dem Ver-
kehrsausschuss und dem Deutschen Bundestag binnen sechs Monaten zur
Debatte vorzulegen, sodass auf einer solchen Grundlage gegebenenfalls
Maßnahmen zur Wiederherstellung der erforderlichen Sicherheitsstandards
ergriffen werden können;

8. dafür Sorge zu tragen, dass das Eisenbahn-Bundesamt personell deutlich
aufgestockt wird, damit dieses seinen Aufgaben besser gerecht werden kann.
Dabei sollten alle dem EBA obliegenden Aufgaben im Wesentlichen durch
diese Behörde selbst wahrgenommen werden. Die Übertragung solcher Auf-
gaben an die Deutsche Bahn AG oder an private Unternehmen der Bahn-
industrie ist nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig;

9. die gesetzlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das Eisenbahn-
Bundesamt einen deutlich veränderten Charakter erhält: Anstelle einer dem
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nachgeordneten
Behörde sollte das Eisenbahn-Bundesamt einen unabhängigen, dem Bun-
desrechnungshof vergleichbaren Status erhalten. Nur eine solche Struktur
bietet die Voraussetzung dafür, dass eine solche Institution hinsichtlich der
Überwachung des Schienenverkehrs ausschließlich der Aufrechterhaltung,
der Stärkung und der Verbesserung der Schienenverkehrssicherheit ver-
pflichtet ist.

Berlin, den 15. März 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Sicherer Schienenverkehr

„Sicherheit ist ein großer Gemeinwohlvorteil der Schiene. Das Risiko, während
einer Autofahrt tödlich zu verunglücken, ist pro Person und zurückgelegten
Kilometer 47-mal größer als während einer Zugfahrt. Das Verletzungsrisiko
während einer Zugfahrt ist sogar 90-mal geringer.“ Allianz pro Schiene, Fahr-
plan Schiene 2009 bis 2013.

Ausfälle und Unfälle
Nahverkehr: 2000 bis 2005 waren ein Dutzend deutsche und ausländische
Städte von einem Desaster mit dem Niederflur-Straßenbahn Combino schwer

Drucksache 17/1016 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

betroffen. Die gesamte Tram-Konstruktion erwies sich als instabil; der (deut-
sche) Hersteller musste mehr als eine halbe Milliarde Euro für nachträgliche
Stabilisierungs- und Sanierungsarbeiten bei bereits ausgelieferten Fahrzeugen
aufwenden. Das Modell wird inzwischen nicht mehr gefertigt. Es handelte sich
um das weltweit am stärksten verbreitete Niederflur-Tram-Modell.

Seit Ende 2008 erlebte die Berliner S-Bahn eine Pannenserie, infolge dessen
ein größerer Teil des fahrplanmäßigen Angebots ausfällt. Frühestens 2011 soll
ein Normalbetrieb wieder möglich sein. Die zwei wesentlichen Ursachen für
diesen auch im internationalen Vergleich einmaligen Niedergang eines zen-
tralen ÖPNV-Verkehrsmittels sind erstens unzureichend ausgelegte – falsch
berechnete – Räder und zweitens eine systematische Reduktion der Wartungs-
arbeiten, was wiederum die Folge eines systematischen Mittelabflusses von der
S-Bahn GmbH zur Muttergesellschaft Deutsche Bahn AG ist.

Güterverkehr: Der bisher größte Unfall in diesem Schienenverkehrsbereich
fand am 30. Juni 2009 in Viareggio, Italien, statt. Bei einem mit Flüssiggas be-
ladenen Güterwaggon eines österreichischen privaten EVU brach eine Achse;
mehrere Wagen entgleisten, das Gas explodierte, 22 Menschen kamen ums
Leben.

Laut Bundesregierung wurden im Zeitraum 2000 bis 2009 im europaweiten
Güterverkehr „an 15 Güterwagen Radsatzwellenbrüche“ festgestellt (Bundes-
tagsdrucksache 17/702). Am 28. Mai 2009 teilte das EBA mit, davon Kenntnis
zu haben, „dass der Dauerfestigkeitsnachweis gemäß EN 13103 für die Rad-
satzwellen der Bauarten 088 und 188 nicht für alle Wagenbauarten mit Radsatz-
lasten von mehr als 20 t geführt werden kann.“ Bericht der „Westdeutschen
Allgemeinen Zeitung“ vom 15. Juni 2009 im Zusammenhang mit einem ent-
gleisten Güterzug in Wanne-Eickel: „In Europa könnten bis zu 600 000 Achsen
den schweren Lasten und den hohen Beanspruchungen nicht gewachsen sein.“

Fernverkehr: Die Ursache für das bisher schwerste Unglück in der deutschen
Eisenbahngeschichte, die Entgleisung eines ICE bei Eschede am 3. Juni 1998,
war die Verwendung spezifischer, im ICE-1 eingesetzter Räder, die für den
Hochgeschwindigkeitsverkehr nicht geeignet waren. Der Einbau dieser Räder
bei der ersten Generation der ICE-Garnituren erfolgte nachträglich, ohne aus-
reichende Prüfverfahren und trotz Hinweisen einer mit der Schienenverkehrs-
sicherheit befassten Abteilung der Deutschen Bahn AG auf eine mögliche Ge-
fährdung eines sicheren Schienenverkehrs.

Nach dem ICE-Radsatzwellenbruch am 9. Juli 2008 in Köln schrieb das EBA:
„Wäre dasselbe Ereignis bei Streckengeschwindigkeit von bis zu 300 km/h auf-
getreten, hätte sich mit nicht unerheblicher Wahrscheinlichkeit eine Katastro-
phe wie z. B. in Eschede ereignen können.“

Im Untersuchungsbericht der Bundesanstalt für Materialprüfung (BAM) der in
Köln gebrochenen Radsatzwelle wird festgestellt: „Der Bruch der Welle muss
spätestens beim letzten Beschleunigungsvorgang in Richtung Köln und vor der
Einfahrt nach Köln Hauptbahnhof eingetreten sein“ (S. 49). Demnach fuhr der
ICE mit gebrochener Achse mit sehr hoher Geschwindigkeit; es war nur einem
glücklichen Umstand zu verdanken, dass es erst nach der Ausfahrt aus dem
Kölner Hauptbahnhof und nur bei Tempo 10 km/h zur Entgleisung kam. Die
ICE-Achse hatte zum Zeitpunkt des Bruches erst eine Laufleistung von
2,85 Millionen km hinter sich, was einem Fünftel der erwarteten Lebensleis-
tung entspricht.

Seit diesem Ereignis wurden mehrere neue Risse an ICE-Radsatzwellen ent-
deckt und zugleich rückwirkend publik gemacht, dass es zuvor bereits Brüche
von ICE-Radsatzwellen gab. Ende 2009 teilte die Bundesregierung mit: „Seit

dem Jahr 2000 sind dem Eisenbahn-Bundesamt 24 Radsatzwellenbrüche sowie

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/1016

31 Radreifen und Radscheibenbrüche im In- und Ausland bekannt geworden.“
(Bundestagsdrucksache 17/702).

Bahnchef Hartmut Mehdorn im Januar 2009: „Unsere Experten schließen nicht
mehr aus, dass wir bei der ICE-T-Flotte die Achsen austauschen müssen. (…)
Entwicklung, Produktion und Austausch neuer Achsen dauern realistisch bis zu
zwei Jahre.“ (Bild am Sonntag, 18. Januar 2009). Bahnchef Rüdiger Grube im
Februar 2010: „Rund die Hälfte unserer 252 ICE-Züge ist betroffen (…) Es
müssen tausende Räder und Achsen getauscht werden. (…) Die Arbeiten daran
werden noch zwei bis drei Jahre dauern und zu Einschränkungen führen.“ (Bild
vom 22. Februar 2010).

Unzureichende Auslegung der Normen

In einer „Berichtigung zu DIN EN 13104:2002-02“ hatte der DIN-Normen-
Ausschuss gegen die Annahme der DIN 13104 gestimmt, da „diese Norm (…)
in wichtigen Punkten nicht den zukünftigen Bedürfnissen (entspricht)“.

Im Abschlussbericht der vom BMBF koordinierten Studie der TU Clausthal
vom Dezember 2004 (BMBF-Projekt 19/P0061) wird konstatiert, dass „Fahr-
zeuge im heutigen Betrieb die EN-Lasten erheblich überschreiten können“.
Dabei überschritten die gemessenen Höchstwerte der Spannungen die nach EN
berechneten um rund 19 Prozent am Laufradansatz und um rund 17 Prozent am
Treibradansatz.

Artikel in Fachzeitschriften, in denen bereits vor dem Kölner ICE-Radsatz-
wellenbruch auf einen absehbaren Bruch von Radsatzwellen infolge falsch
berechneter Normen verwiesen wurde: Dr. Ing. Gerhard Fischer/Prof. Dr.
Vatroslav Grubisic, „Versagen von Radsatzwellen und dessen Ursachen“, in:
ZEVrail – Glasers Annalen – 130 (2006) 3. März 2006; Fischer/Grubisic,
„Betriebsfeste Bemessung von Radsatzwellen“, in: ETR – Eisenbahntechnische
Revue, 55 (2006) H.3/März 2006; Fischer/Grubisic, „Hinweise zur Dimen-
sionierung von Radsatzwellen“, in: ZEVrail – Glasers Annalen – 132 (2008)
4. April 2008.

S-Bahn Berlin: Radrisse, Radbruch und unzureichend belastbare Räder

Bei der Berliner S-Bahn gab es am 19. September 2003 einen Radscheibenriss
und am 1. Mai 2009 einen Radscheibenbruch. Das Eisenbahn-Bundesamt geht
inzwischen davon aus, dass die Radscheiben der maßgeblichen S-Bahn-Bau-
reihe 481 „nicht dauerfest“ sind. Das EBA erteilte 1996 die Erstzulassung für
die Baureihe. Die Radreifen wurden entsprechend des vom Betreiber (der Deut-
schen Bahn AG) vorgegebenen Lastenheftes gefertigt.

Dauerfestigkeit

Der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung stellte im März
2010 anlässlich eines Treffens der EU-Verkehrsminister fest, die Bahnindustrie
sei durchaus in der Lage, Fahrzeuge mit „dauerfesten“ Bauteilen herzustellen,
Teile, die „während der gesamten Betriebsdauer eines Fahrzeuges ohne Ermü-
dungserscheinungen funktionieren“. Doch „genau solche Fahrzeuge habe die
DB AG nicht bestellt“. Satt dessen habe die Bahn bei ihren Bestellungen Wert
darauf gelegt, dass die Bauteile „zeitfest“ seien, womit sie vor Erreichen des
Endes der Betriebsdauer ausgetauscht werden müssten. Das lieferbare „dauer-
feste Material“ wäre „voraussichtlich teurer geworden“. Die nur zeitfesten
Materialbestellungen seien „ein Beispiel für die Börsenorientierung des Unter-
nehmens unter Ex-Vorstand Mehdorn gewesen.“ (Frankfurter Rundschau vom
12. März 2010). Im Januar 2010 präsentierten das Fraunhofer-Institut und
die Bahnindustrie im Rahmen eines parlamentarischen Hintergrundgesprächs
eine Studie, die im Fall der Radsätze anstelle einer dauerfesten Auslegung

(„safe life“) grundsätzlich für eine Konzeption des „schadenstoleranten Be-
triebs“ („damage tolerant“) argumentiert. Vorgeschlagen wird ,als nationale

Drucksache 17/1016 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Maßnahme auf dem Weg zu diesem Ziel, eine eigenständige Richtlinie „Ermitt-
lung von Inspektionsintervallen für Radsatzwellen mittels bruchmechanischer
Methoden“ (…) Sie liefert eine systematische Vorgehensweise zur Bewertung
von Radsatzwellen hinsichtlich Ermüdungsrisserweiterung und Bruch, woraus
Inspektionsintervalle abgeleitet (…) werden können.‘ (Studie „Einführung der
Bruchmechanik zur Festlegung von Inspektionsintervallen für Radsatzwellen“,
Fraunhofer IWM, LBF und IZFP). Es handelt sich um ein Plädoyer zur Fortset-
zung des seit rund einem Jahrzehnts eingeschlagenen Wegs bei verbesserter
Kontrolltätigkeit. Eines der beteiligten Institute, das Fraunhofer-Institut in
Saarbrücken (IZFP) entwickelt und fertigt selbst Ultraschallprüfanlagen.

Liberalisierter Güterverkehr

Am 10. Juli 2007 erließ das Eisenbahn-Bundesamt eine „Allgemeinverfügung“
unter Bezug auf „Instandhaltung von Radsätzen an Güterwagen“ und zur „Ab-
wehr von Gefahren für die Sicherheit des Eisenbahnverkehrs“, die sich an alle
EVU mit Schienengüterverkehr richtete. Darin heißt es: „Der potentielle Adres-
satenkreis dieser Anordnung ist groß, aber nach abstrakten Merkmalen hinrei-
chend bestimmbar. Nicht alle Adressaten sind dem Eisenbahn-Bundesamt be-
kannt oder für das Eisenbahn-Bundesamt auch nur zu ermitteln, sodass eine
vorherige Anhörung untunlich erscheint.“

Im Fall des Güterverkehrsunfalls vom 30. Juni 2009 in Viareggio befand sich
der entgleiste Waggon im Eigentum des privaten Schienenverkehrsunter-
nehmens GATX Rail Europe mit Sitz in Wien. Der Waggon wurde 2004 im
GATX Rail Europe-Werk gefertigt bzw. zusammengesetzt („assembliert“);
offensichtlich bestand ein Radsatz von vornherein aus einer Achse, die 1974 in
Babelsberg, in der ehemaligen DDR gefertigt worden war. Der Waggon wurde
in Deutschland registriert und vom Eisenbahn-Bundesamt zugelassen. GATX
Rail Europe vermietete den Waggon darauf an die italienische Firma FS Logis-
tica S.p.A., ein Tochterunternehmen der Staatsbahn Ferrovie dello stato (FS).
Im November 2008 wurde bei diesem Waggon der Radsatz in der Werkstätte in
Jungental Deutschland, einem GATX Rail Europe-Tochterunternehmen „voll-
ständig überholt“ und mit Ultraschall und Magnetpulver überprüft. Das ge-
nannte Werk in Jungenthal ist durch die Deutsche Bahn AG zertifiziert, diese
Arbeiten an den Radsätzen auszuführen. Der Bruch dieser Achse gilt als ur-
sächlich für das Viareggio-Unglück. GATX Rail Europe stellte dazu fest: „In
Europa gibt es keine verbindlichen Alterslimits für Achsen oder Radsätze, von
denen diese ein Teil sind.“ (GATX Rail Europe-Erklärung vom 3. Juli 2009).

Unfalluntersuchung

Die Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes (EUB) ist nach Eisen-
bahn-Unfalluntersuchungsverordnung (EUV) dazu verpflichtet, die Untersu-
chungsberichte spätestens nach einem Jahr zu veröffentlichen. Der letzte Be-
richt wurde im November 2006 veröffentlicht. Weitere – aber nur sehr knappe –
Informationen finden sich lediglich in den Jahresberichten. Zur Gewährleistung
der Eisenbahnsicherheit ist es aber notwendig, dass schnell die Konsequenzen
aus Unfällen gezogen werden können. Deswegen ist nach drei Monaten ein ers-
ter Bericht erforderlich.

Abbau von Wartung/Fahrzeuge in sicherheitstechnisch kritischem Zustand

Bei der S-Bahn Berlin GmbH wurden seit 2005 rund 40 Prozent des Werkstatt-
personals abgebaut. Die wichtigsten entsprechenden „Sanierungsprogramme“
der Bahn, insbesondere das Qualify & Qualify-Plus-Portfolio, wurden vom Auf-
sichtsrat des Konzerns DB AG abgesegnet (Bundestagsdrucksache 16/14029).

Auszug aus der ARD-Sendung „Kontraste“ vom 14. Januar 2010: ,Tatsächlich
sind die ständigen Verspätungen oft auf mangelnde Wartung zurückzuführen.

Wir haben Belege dafür, dass ICE-Züge teils mit defekten und deshalb ausge-

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schalteten Bremsen über die Schienen rollten (…) Uns wird ein Schadensproto-
koll des verspäteten ICE (ICE 890 nach Hamburg Altona) zugespielt. Es belegt:
An einem Waggon wurde eine Druckluftbremse wegen eines Bremsscheiben-
risses ausgeschaltet. Eine von mehreren Bremsen des Zuges. Mit diesem Scha-
den fährt der ICE schon knapp zwei Wochen […] ICE-Lokführer (nachgespro-
chen): „Nicht auszudenken, wenn bei Hochgeschwindigkeit eine solche
Bremsscheibe […] komplett reißt oder bricht. […] Das kann im schlimmsten
Fall dazu führen, dass der Zug aus der Spur gehebelt wird und entgleist.“ Kein
Einzelfall, erfahren wir im Laufe unserer Recherchen. Was sagt […] das Bun-
desverkehrsministerium dazu? […] Klaus Dieter-Scheurle (CDU), Staatssekre-
tär Bundesverkehrsministerium: „Dem wird […] Rechnung getragen dadurch,
dass eben die Geschwindigkeit vermindert wird, sodass die Sicherheit wieder
eingehalten werden kann.“ Statt die Bremsen instand zu halten, wird einfach
das Tempo etwas gedrosselt. Fragwürdige Sicherheit.‘

Rechtliche Situation

Nach EU-Recht haben die Mitgliedstaaten zwar Sorge dafür zu tragen, dass die
Eisenbahnsicherheit gewährleistet wird (Artikel 4, Absatz 1 RL 2004/49/EG).
Die Haftung für den sicheren Betrieb wird aber den Fahrwegbetreibern und den
EVU auferlegt. Es „haftet jeder Fahrwegbetreiber und jedes Eisenbahnunter-
nehmen für den ihn betreffenden Systembereich und dessen sicheren Betrieb,
einschließlich der Materialbeschaffung und der Vergabe von Dienstleistungs-
aufträgen, gegenüber Benutzern, Kunden, den betroffenen Arbeitnehmern und
Dritten.“ (ebd., Absatz 3). Eine grundlegende Überwälzung der kompletten
Haftung von den EVU auf die Hersteller der Schienenfahrzeuge, wie derzeit
von einigen Seiten gefordert, ist EU-rechtlich somit nicht zulässig. Denn in Ab-
satz 4 wird ausdrücklich festgelegt, dass sich „die Verantwortung jedes Herstel-
lers, jedes Zulieferers von Wartungsmaterial, jedes Wagenhalters, jedes Dienst-
leistungsanbieters und jeder Beschaffungsstelle dafür, dass die von ihnen
gelieferten Fahrzeuge, Anlagen, Zubehörteile und Materialien sowie die
Dienstleistungen“ darauf beschränkt, dass sie „den angegebenen Anforderun-
gen und Einsatzbedingungen entsprechen, so dass sie vom Eisenbahnunterneh-
men und/oder Fahrwegbetreiber im Betrieb sicher eingesetzt werden können.“

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