BT-Drucksache 16/9746

Armut trotz Arbeit vermeiden - Benachteiligung Alleinerziehender beim Kinderzuschlag beenden

Vom 25. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9746
16. Wahlperiode 25. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Diana Golze, Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge,
Katja Kipping, Elke Reinke, Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Volker Schneider
(Saarbrücken) und der Fraktion DIE LINKE.

Armut trotz Arbeit vermeiden – Benachteiligung Alleinerziehender beim
Kinderzuschlag beenden

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Arbeitslosigkeit und sinkende Löhne gehören zu den Hauptursachen für die
Armut vieler Familien. Die Ausbreitung des Niedriglohnsektors hat dazu ge-
führt, dass immer mehr Beschäftigte trotz Arbeit arm sind. Zwei Drittel der zu
Niedriglöhnen Beschäftigten sind Frauen, vor allem alleinerziehende Mütter.
Alleinerziehende und ihre Kinder tragen von allen gesellschaftlichen Gruppen
das höchste Armutsrisiko in Deutschland. Fast die Hälfte aller Kinder in
Hartz IV leben in 670 000 Alleinerziehenden-Familien. Doch ihr Anteil an den
Kinderzuschlag beziehenden Kindern liegt bei bislang nur 7 Prozent und soll
auch zukünftig nicht mehr als 9 Prozent betragen (Bundestagsdrucksache
16/8845, S. 3 ff.). Kinder von Alleinerziehenden werden damit beim Kinderzu-
schlag systematisch ausgegrenzt. Eine Absenkung der Mindesteinkommens-
grenze des Kinderzuschlags für Alleinerziehende auf 600 Euro, wie sie die Bun-
desregierung plant, wird eine Überwindung der Hartz-IV-Bedürftigkeit nur
schwer ermöglichen, da die Maximalhöhe von 140 Euro nicht angehoben wird.
Insgesamt ist der Kinderzuschlag für Eltern, die ihren eigenen Lebensunterhalt
bestreiten können, aber nicht den ihrer Kinder, in seiner derzeitigen Ausgestal-
tung als Instrument zur Verhinderung von Kinderarmut völlig unzureichend. Mit
maximal 140 Euro ist der Höchstbetrag viel zu gering. Bei einer Ablehnungs-
quote von über 87 Prozent hilft er zu wenigen Familien und erreicht statt der be-
absichtigten 530 000 keine 130 000 Kinder. Hohe Verwaltungskosten führen
dazu, dass ein kaum vertretbarer Anteil der für den Kinderzuschlag aufgewen-
deten Mittel nicht bei den Familien ankommt. Auch laut Gesetzentwurf zur Re-
form des Kinderzuschlags (Bundestagsdrucksache 16/8867) wird die maximale
Höhe des Kinderzuschlages nicht angehoben, um Kinderarmut wirksam zu
bekämpfen. Denn fast alle der über 2,1 Millionen Kinder, die in Familien im
Arbeitslosengeld-II-Bezug leben, sind nach der Reform weiterhin Hartz-IV-
bedürftig.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine wirksamere Bekämpfung von Kinder-
armut bedeutet und folgende Eckpunkte beinhaltet:

1. Der maximale bedarfsbezogene Kinderzuschlag wird deutlich erhöht.

2. Die Mindesteinkommensgrenze entfällt als Zugangsvoraussetzung für den
Kinderzuschlag; als Schwelle für den Beginn der linearen Kürzung bleibt sie
hingegen erhalten.

Drucksache 16/9746 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

3. Die Höchsteinkommensgrenze entfällt; die Kinderzuschlagsberechtigung
endet im Zuge der Einkommensanrechnung.

4. Der heutige Mehrbedarfszuschlag für Alleinerziehende nach SGB II wird im
Anrechnungsverfahren für den Kinderzuschlag nicht berücksichtigt, aber im
Falle der Kinderzuschlagsberechtigung als Erhöhungsbetrag zum Kinder-
zuschlag gewährt.

5. Es wird ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt, der sich in seiner Höhe am
Niveau vergleichbarer europäischer Länder orientiert. Er dient als ein Instru-
ment, um die gestiegene Armut von Erwerbstätigen zu verhindern und nach-
haltig die Finanzierungsbasis des Sozialstaats zu verbessern.

Berlin, den 24. Juni 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

In Deutschland arbeiten 2,6 Millionen abhängig Beschäftigte für Armutslöhne
von weniger als 50 Prozent des mittleren Stundenlohns, also für weniger als
7,38 Euro Stundenlohn in Westdeutschland und 5,37 Euro in Ostdeutschland.
1,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen ergänzend zu
ihrem Lohn Hartz IV erhalten, davon 700 000 sozialversicherungspflichtig Be-
schäftigte. Rund 5,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mussten
2006 für einen Stundenlohn von weniger als 7,50 Euro arbeiten (DGB Bundes-
vorstand, Positionspapier „Kinderarmut“. Kein Kind zurücklassen – Kinder-
armut bekämpfen vom 27. Mai 2008, S. 1 ff.). Die neuesten Studien von
UNICEF und Prognos AG verweisen auf die besondere Armutsgefährdung bei
Kindern von Alleinerziehenden. Demnach besteht das höchste Armutsrisiko mit
rund 40 Prozent in Alleinerziehendenhaushalten (Hans Bertram [Hg.], Mittel-
maß für Kinder. Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland,
München 2008, S. 155 f.; Michael Böhmer/Andreas Heimer/Anneli Rüling
[Prognos AG im Auftrag des Kompetenzzentrums familienbezogene Leistungen
im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend], Armuts-
risiken von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, Berlin/Basel 2008,
S. 13 f.). Ziel ist es, durch einen Ausbau und eine Erhöhung der Vorrangleistun-
gen Kinderzuschlag und Wohngeld Familien davor zu bewahren, dass sie allein
aufgrund der Kosten für die Kinder von staatlicher Fürsorgeleistung abhängig
werden. Hierdurch kann auch die jetzige strukturelle Benachteiligung von
Alleinerziehenden behoben werden, denen heute weitgehend ein Kinderzu-
schlag verwehrt wird. Wie auch die Anhörung des Ausschusses für Familien,
Senioren, Frauen und Jugend am 2. Juni 2008 ergab, leistet der Kinderzuschlag
keine wirksame Bekämpfung der Kinderarmut und benachteiligt alleinerzie-
hende Familien in eklatanter Weise (vgl. Ausschussdrucksachen 16(13)342a-j
zur Anhörung „Kinderzuschlag“). Zur wirksamen Bekämpfung von Kinderar-
mut und zur Gleichberechtigung von Alleinerziehenden und ihren Kindern muss
der Kinderzuschlag deutlich, von bisher maximal 140 Euro auf 200 Euro für
unter 14-jährige und 270 Euro für 14-jährige und ältere Kinder, angehoben wer-
den. Deshalb fordert auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), dass bei der
Prüfung der Anspruchsvoraussetzung, ob eine Familie mit dem Kinderzuschlag
die Hartz-IV-Schwelle erreicht, der Mehrbedarf für Alleinerziehende nicht mit-
berücksichtigt werden sollte. „Wenn diese Hartz-IV-Schwelle erreicht wird,

sollte der Kinderzuschlag erhöht werden bis zur Höhe des Mehrbedarfszu-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9746

schlags für Alleinerziehende bei Hartz IV (125 Euro), damit auch diese Fälle
unabhängig von Hartz-IV-Leistungen sind“ (Stellungnahme des Deutschen
Gewerkschaftsbundes vom 22. Mai 2008; Ausschussdrucksache 16(13)342e,
S. 3). Durch die Erhöhung und Reform des Kinderzuschlags kann Hartz IV für
erwerbstätige Eltern und deren Kinder vermieden werden. Die bisherige Be-
rechnung des Kinderzuschlags unter Berücksichtigung einer Mindest- und
Höchsteinkommensgrenze ist in der Praxis hoch kompliziert und nicht prakti-
kabel. Die komplizierte Berechnung und der schmale Korridor zwischen Min-
dest- und Höchsteinkommensgrenzen führen zu Ablehnungsquoten für den
Kinderzuschlag von über 87 Prozent. Deshalb müssen die Einkommensgrenzen
entfallen, damit der Berechtigtenkreis deutlich ausgeweitet wird. Ergänzend
muss das Wohngeld angehoben und um eine Familienkomponente erweitert
werden. Nach Informationen des Präsidenten des deutschen Kinderschutzbun-
des, Heinz Hilgers, gibt es alleine „bis zu 700 000 Kinder, deren Eltern trotz
Arbeit auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen angewiesen“ sind (Kinderschutz-
bund kritisiert Pläne zu Kinderzuschlag, Pressemitteilung vom 9. Februar 2008).
Die Reform des Kinderzuschlags eröffnet kurzfristig die Chance, Kinder aus
dem familienbedingten Armutsrisiko zu befreien. Gemeinsam mit einer Anhe-
bung des Kindergeldes und der Kinderregelsätze nach SGB II ist dies ein Schritt
in Richtung einer bedarfsorientierten Kindergrundsicherung, wie sie auch
Gewerkschaften und Sozialverbände fordern (vgl. DGB fordert Kindergrund-
sicherung, in: Einblick 10/08 vom 2. Juni 2008 und DGB Bundesvorstand,
Positionspapier „Kinderarmut“, a. a. O., S. 5 f.). Diese stellt sicher, dass alle
Kinder, unabhängig vom sozialen Status ihrer Eltern, gleiche Entwicklungs-
chancen erhalten.

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