BT-Drucksache 16/9634

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat in Brüssel am 19./20. Juni 2008

Vom 18. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9634
16. Wahlperiode 18. 06. 2008

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Monika Knoche, Hüseyin-
Kenan Aydin, Dr. Lothar Bisky, Sevim Dag˘delen, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel,
Inge Höger, Dr. Hakki Keskin, Ulla Lötzer, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln)
und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat in Brüssel am 19./20. Juni 2008

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Vertrag von Lissabon ist gescheitert. Nach dem Scheitern des EU-Ver-
fassungsvertrags bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Nieder-
landen ist auch der in wesentlichen Teilen inhaltsgleiche Vertrag von Lissa-
bon am 12. Juni 2008 bei dem Referendum in Irland mit deutlicher Mehrheit
abgelehnt worden.

2. Artikel 6 Abs. 2 des Vertrags von Lissabon lautet: „Dieser Vertrag tritt am
1. Januar 2009 in Kraft, sofern alle Ratifikationsurkunden hinterlegt worden
sind, oder andernfalls am ersten Tag des auf die Hinterlegung der letzten
Ratifikationsurkunde folgenden Monats.“ Die Frage, wie viele andere
Länder dem Vertrag zustimmen, ist für das Wirksamwerden des Vertrags un-
erheblich.

3. Weder die geltenden Verträge noch der Vertrag von Lissabon sehen vor, dass
ein Mitgliedstaat aus der Europäischen Union ausscheidet oder innerhalb der
Union minderen Rechtsstatus erhält, wenn er einer Vertragsänderung nicht
zustimmt. Wer den gegenteiligen Eindruck erweckt, versucht im Vorfeld der
Europa- und der Bundestagswahlen die Wählerinnen und Wähler zu täu-
schen.

4. Die zunächst erhobene Forderung des Bundesministers des Auswärtigen,
Irland solle sich „vorübergehend vom Integrationsprozess abkoppeln“, ist
weder rechtlich noch politisch vertretbar und spaltet die EU.

5. Die jetzige Beschwörung des „dänischen Modells“ bezieht sich darauf, dass
nach einem gescheiterten Referendum über den Vertrag von Maastricht 1992
in Dänemark bei einer zweiten Abstimmung eine zustimmende Mehrheit er-
reicht werden konnte. In dem Verlangen nach erneuter Abstimmung zeigt
sich eine überhebliche Haltung, die nach dem Scheitern des Verfassungs-
vertrags Frankreich und den Niederlanden gegenüber nicht eingenommen
worden war. Auch beruht sie auf der zweifelhaften Hoffnung, die irische
Bevölkerung werde bei einer Wiederholung anders abstimmen.

Drucksache 16/9634 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
6. Es ist an der Zeit, dass die Regierenden in der EU und in den Mitgliedstaaten
endlich zur Kenntnis nehmen, dass die politischen Inhalte des Verfassungs-
vertrags und des Vertrags von Lissabon bei den Menschen in der Euro-
päischen Union nicht mehrheitsfähig sind. Die Militarisierung mit Aufrüs-
tungsverpflichtung der Mitgliedstaaten, die neoliberale Ausrichtung der
Wirtschaft und die unzureichende Demokratisierung der EU haben ein
weiteres Mal keine Mehrheit gefunden. Das geschah in dem einzigen Land,
in dem es überhaupt ein Referendum gab, während Volksabstimmungen in
allen anderen Mitgliedstaaten aus Angst vor dem zu erwartenden Ergebnis
vermieden wurden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Bundespräsidenten vom Scheitern des Vertrags von Lissabon zu unter-
richten,

2. keine erneuten Versuche mit dem Ziel zu unternehmen, dass die Inhalte des
Verfassungsvertrags und des Vertrags von Lissabon durch politischen Druck
oder durch Täuschungen und Tricks doch noch durchgesetzt werden und
dadurch die Ablehnung europäischer Integration weiter anwächst, statt-
dessen allen entsprechenden Versuchen anderer in dieser Richtung entgegen-
zutreten,

3. keine politischen Initiativen zu ergreifen oder zu unterstützen, die auf eine
Europäische Union „der zwei Geschwindigkeiten“ orientieren und im Er-
gebnis zu einer Spaltung der EU führen würden,

4. eine breite und öffentliche europaweite Aussprache zu initiieren, die darauf
ausgerichtet ist, durch eine Verfassung die Europäische Union friedlich,
demokratisch, sozial und ökologisch neu zu begründen,

5. sich dafür einzusetzen, dass der Verfassungsprozess so angelegt ist, dass er
den Interessen und dem Willen der Menschen in den Mitgliedstaaten ent-
spricht und mit Volksabstimmungen in allen Mitgliedstaaten abgeschlossen
werden kann,

6. einen Entwurf zur Änderung des Grundgesetzes vorzulegen, der die Zustim-
mung zu Änderungen der vertraglichen Grundlagen der EU auch in
Deutschland von einer Volksabstimmung abhängig macht,

7. für einen Übergangszeitraum Ergänzungen des EU- und des EG-Vertrags
vorzuschlagen und politisch durchzusetzen, die der EU schon vor Abschluss
des Verfassungsprozesses eine stärkere soziale Ausrichtung geben und eine
weitere Zerstörung von Sozialstaatlichkeit (Urteile zum VW-Gesetz und
zum niedersächsischen Vergabegesetz – „Rüffert“) und Gewerkschafts-
rechten in den Mitgliedstaaten durch die Rechtsprechung des EuGH (Euro-
päischer Gerichtshof) verhindern.

Berlin, den 17. Juni 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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