BT-Drucksache 16/9427

Europäisches Parlament stärken - Sitzfrage durch Europaparlamentarier entscheiden lassen

Vom 4. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9427
16. Wahlperiode 04. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Markus Löning, Michael Link (Heilbronn), Florian Toncar,
Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt,
Daniel Bahr (Münster), Uwe Barth, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst,
Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Mechthild Dyckmans, Jörg van Essen,
Otto Fricke, Paul K. Friedhoff, Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Edmund Peter Geisen,
Joachim Günther (Plauen), Heinz-Peter Haustein, Elke Hoff, Birgit Homburger,
Michael Kauch, Hellmut Königshaus, Gudrun Kopp, Heinz Lanfermann,
Sibylle Laurischk, Ina Lenke, Patrick Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt Müller-
Sönksen, Dirk Niebel, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia Pieper,
Gisela Piltz, Jörg Rohde, Frank Schäffler, Marina Schuster, Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein,
Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Martin Zeil, Dr. Guido Westerwelle
und der Fraktion der FDP

Europäisches Parlament stärken – Sitzfrage durch
Europaparlamentarier entscheiden lassen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Europäische Parlament ist das einzige Parlament in der Europäischen
Union, das nicht selbst über seinen Sitz bestimmen darf. Es ist zugleich weltweit
das einzige Parlament, das nicht nur einen, sondern gleich drei offizielle Stand-
orte hat – in drei verschiedenen Ländern. Am offiziellen Sitz in Straßburg tagt
das Plenum des Europäischen Parlaments zwölf Mal im Jahr für jeweils vier
Tage. Wichtigster Arbeitsort ist hingegen Brüssel, wo Ausschüsse, Fraktionen
und andere parlamentarische Gremien tagen und wo Kommission und Rat ihren
Sitz haben. Auch in Brüssel tritt regelmäßig das Plenum zusammen. In Luxem-
burg schließlich, fernab von der eigentlichen parlamentarischen Arbeit, befindet
sich das Generalsekretariat des Europäischen Parlaments.

Diese Dreiteilung führt zu immensen Kosten für die Steuerzahler:

● Das Europäische Parlament ist gezwungen, in den drei Städten insgesamt
22 Gebäude zu unterhalten, darunter zwei voll ausgestattete Plenargebäude
und für jeden der 785 Abgeordneten und ihre Mitarbeiter je ein Büro in

Brüssel und Straßburg. Auch das Parlamentssekretariat unterhält zusätzliche
Gebäude in beiden Städten. Insgesamt stehen in Brüssel 4800, in Straßburg
2650 und in Luxemburg 2000 Büros zur Verfügung. Mehr als 50 Prozent der
Gesamtfläche der Parlamentsgebäude entfallen heute schon auf Brüssel.

● Die Straßburger Gebäude, darunter das für 457 Mio. Euro errichtete neue
Plenargebäude, werden nur an insgesamt 48 Tagen im Jahr genutzt und
stehen im Übrigen leer – bei vollen Unterhaltungskosten.

Drucksache 16/9427 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
● 785 Abgeordnete und mehr als 3 000 Mitarbeiter begeben sich zwölf Mal im Jahr
auf die Reise nach Straßburg. Allein der Verlust an Arbeitszeit durch diese Rei-
setätigkeit führt zu Kosten in Millionenhöhe. Zugleich wird Monat für Monat das
gesamte in Straßburg benötigte Aktenmaterial mit Lastwagen aus Brüssel nach
Straßburg transportiert.

● Insgesamt belaufen sich die aus der Aufrechterhaltung des parlamentarischen Be-
triebs an drei verschiedenen Standorten resultierenden Kosten auf rund 250 Mio.
Euro im Jahr. Dies sind mehr als 15 Prozent des Gesamtbudgets des Europäischen
Parlaments. Den Hauptanteil dieser Zusatzkosten generieren die Plenarsitzungen
in Straßburg.

Zu diesen Belastungen für den Steuerzahler kommen erhebliche Belastungen für die
Umwelt. Allein durch die Reisen zwischen den verschiedenen Standorten und den
Betrieb der Gebäude in Straßburg werden jedes Jahr CO2-Emissionen von mehr als
20 000 Tonnen verursacht – sonstige Reisen wie etwa von Journalisten oder Ange-
hörigen anderer EU-Institutionen nicht eingerechnet.

Umfragen unter den Abgeordneten des Europäischen Parlaments zeigen, dass diese
selbst mit großer Mehrheit einen einheitlichen Sitz in Brüssel bevorzugen. Die Ent-
scheidung über die Sitzfrage ist ihnen aber entzogen, da sie nach den geltenden EU-
Verträgen bei den Mitgliedstaaten liegt und dem Einstimmigkeitsprinzip unterwor-
fen ist. Diese unbefriedigende rechtliche Ausgangslage wird auch nach Inkrafttreten
des Lissabonner Vertrags zunächst Bestand haben, da der Erfolg der EU-Reform
durch ein Aufgreifen der Sitzfrage gefährdet worden wäre.

Die sachlich durch nicht zu rechtfertigende Aufspaltung des parlamentarischen Be-
triebs auf drei Standorte und die damit verbundene, für jeden offensichtliche Ver-
schwendung öffentlicher Mittel sind jedoch zu einer schweren Hypothek für das An-
sehen der Europäischen Union und ihrer Institutionen geworden. Der europäischen
Öffentlichkeit ist das Festhalten an dieser Situation nicht zu vermitteln. In den Augen
vieler Bürgerinnen und Bürgern ist die unsinnige Dreiteilung deshalb zu einem Sym-
bol für vieles geworden, was an der Europäischen Union, wenn auch oft zu Unrecht,
kritisiert wird. Dies spielt den Gegnern des europäischen Gedankens in die Hände.

Wie sehr die Sitzfrage die Bevölkerung bewegt, beweist vor allem die enorme Re-
sonanz auf die 2006 von der liberalen Europaabgeordneten und heutigen schwedi-
schen Europaministerin Cecilia Malmström ins Leben gerufene „One-seat“-Initia-
tive. In weniger als sechs Monaten hat diese Initiative, die sich für einen einzigen
Parlamentssitz in Brüssel einsetzt, weit mehr als eine Million Unterstützer gefunden.

Es ist deshalb an der Zeit, die berechtigte Kritik an der unhaltbaren Aufspaltung auf-
zugreifen und die Voraussetzungen für eine sinnvollere Regelung zu schaffen. Dies
wird nur gelingen, wenn das Recht, über die Sitzfrage zu entscheiden, auf eine breite
demokratische Grundlage gestellt wird. Das Europäische Parlament muss endlich
selbst darüber entscheiden dürfen, wo es tagen will. Dies ist keine Angelegenheit
von Regierungen, die mit einem Veto nationale Sonderinteressen durchsetzen kön-
nen, sondern eine Frage der Glaubwürdigkeit der Europäischen Union als Ganzes.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb auf,

sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass das Europäische Parlament das
Recht erhält, über seinen Sitz selbst zu entscheiden.

Berlin, den 3. Juni 2008

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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