BT-Drucksache 16/941

Mit der strategischen Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika Ernst machen und deutsches Engagement ausbauen

Vom 15. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/941
16. Wahlperiode 15. 03. 2006

Antrag
der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Hans Josef Fell, Hans-Christian
Ströbele, Rainder Steenblock, Volker Beck (Köln), Renate Künast, Fritz Kuhn und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mit der strategischen Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und
Lateinamerika Ernst machen und deutsches Engagement ausbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Am 12. Mai 2006 findet in Wien das vierte Gipfeltreffen der Staats- und Regie-
rungschefs der Europäischen Union (EU), Lateinamerikas und der Karibik
(LAK) statt. In einer zunehmend multipolaren Welt wächst die Bedeutung La-
teinamerikas im internationalen System. Initiativen wie die G-20 und die damit
verbundene Süd-Süd-Kooperation in der Welthandelsorganisation WTO tragen
zu einer Stärkung der Position Lateinamerikas auf der internationalen Bühne
bei, wobei Brasilien als Sprecher dieser Gruppe regional und international aner-
kannt wird.

Die EU und LAK arbeiten bereits in wichtigen Fragen der internationalen Um-
welt-, Finanz-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik erfolgreich zusammen. Sie
begegnen sich in multilateralen Foren oft als Partner, die eng kooperieren. Seit
dem ersten EU-LAK-Gipfel 1999 in Rio de Janeiro wurden in Richtung strate-
gische Partnerschaft jedoch nur kleine Fortschritte gemacht. Die Verhandlungen
der bilateralen Assoziationsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-
Staaten stagnieren, im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit sind die Be-
ziehungen rückläufig. Der Anteil Lateinamerikas an der deutschen bilateralen
Entwicklungszusammenarbeit ist in den vergangen Jahren stetig gesunken.
Dies, obwohl sich die Bedingungen für eine engere bilaterale und biregionale
Zusammenarbeit verbessert haben.

Trotz schwieriger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen ist seit den 80er Jahren
auf dem gesamten Subkontinent die demokratische Konsolidierung eingetreten.
In den meisten Ländern hat sich eine sehr lebendige Zivilgesellschaft heraus-
gebildet und auf kommunaler Ebene wurden große Fortschritte in der demokra-
tischen Legitimierung und im Zuwachs von Verwaltungskompetenz gemacht.

Neue durch Wahlen eindeutig legitimierte Staatsregierungen drängen auf soziale

Reformen, suchen eine deutliche Differenzierung in ihren Außenbeziehungen
und zeigen einen ausgesprochenen Willen zur regionalen Integration. Die EU
sollte diese positiven Entwicklungen nutzen, um eine echte strategische Partner-
schaft mit den LAK-Staaten aufzubauen, die zur Überwindung von Armut und
sozialer Ungleichheit im Rahmen einer kohärenten Außen-, Entwicklungs-,
Umwelt- und Handelspolitik beiträgt. Inhaltlich soll sich die strategische Part-
nerschaft dabei auf die politische und wirtschaftliche Unterstützung der regiona-

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len Integration, eine enge umwelt- und energiepolitische Kooperation, die För-
derung der demokratischen Konsolidierung und der Menschenrechte sowie der
Kooperation im Hochschulbereich konzentrieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Beziehungen Deutschlands und der EU mit den LAK-Staaten zu einer
echten strategischen Partnerschaft auszubauen;

2. die Bemühungen der LAK-Staaten zur Überwindung von Armut und sozia-
ler Ungleichheit im Rahmen einer kohärenten und sich gegenseitig ergän-
zenden Außen-, Entwicklungs-, Umwelt- und Handelspolitik konsequent
zu unterstützen;

3. die bilaterale und europäische Entwicklungszusammenarbeit mit den Zielen
der Armutsbekämpfung sowie des Ressourcen- und Umweltschutzes deut-
lich aufzustocken und dafür im Einzelplan 23 für die Haushaltsjahre ab
2006 entsprechende Verpflichtungsermächtigungen und Barmittel zur Ver-
fügung zu stellen;

4. die Zusammenarbeit mit den LAK-Staaten zur Erhaltung und Schaffung
funktionierender Demokratien und starker Zivilgesellschaften fortzuführen.
Zur Stärkung der Demokratie müssen politische Strukturen dezentralisiert,
Frauenrechte und Rechte der indigenen Völker gestärkt sowie die Beteili-
gung der Bürger vorangetrieben werden;

5. für eine konsequente Fortsetzung der Unterstützung der Tropenwaldschutz-
programme in Brasilien und der gesamten Amazonasregion einzutreten;

6. entsprechend dem EU-Prozess einen lateinamerikanischen Prozess zu Forest
Law Enforcement, Governance and Trade (LA FLEGT) mit zu initiieren und
zu unterstützen und diesen mittelfristig mit dem EU-FLEGT-Prozess zusam-
menzuführen;

7. die Erarbeitung einer EU-Gesetzesvorlage zu unterstützen, die den Import
von Holz aus illegalen Quellen in den europäischen Binnenmarkt untersagt
und unter Strafe stellt;

8. auf die Beseitigung ökologischer Altlasten durch Erdöl- und Erdgasförde-
rung im Amazonas zu drängen;

9. die energiepolitische Kooperation mit den LAK-Staaten durch gezielte För-
derung von erneuerbaren Energien und Energieeffizienz auszubauen;

10. im Geiste des Klimaschutzes und einer nachhaltigen Energiepolitik mit der
Regierung Brasiliens einen Energievertrag über erneuerbare Energien und
die Verbesserung der Energieeffizienz, Energieeinsparungen und Emissi-
onsminderungen kurzfristig abzuschließen, der den Atomvertrag zwischen
den beiden Ländern ersetzt. Auch mit Argentinien muss die Regierung in
Verhandlungen über die Beendigung des Atomvertrages und dessen Ersatz
durch eine Kooperation über erneuerbare Energien und Energieeffizienz
eintreten;

11. sich gemeinsam mit der EU dafür einzusetzen, dass Mindest-Nachhaltig-
keits-Standards für den Anbau und die Herstellung von Biokraftstoffen ein-
geführt werden;

12. auf eine europäische Handelspolitik gegenüber LAK hinzuwirken, die im
Sinne einer Entwicklungspartnerschaft zu wirtschaftlicher und sozialer Sta-
bilität und zu nachhaltigem Wachstum beiträgt;

13. sich dafür einzusetzen, dass das EU-Mercosur-Assoziationsabkommen er-

folgreich abgeschlossen wird und dies insbesondere zu unterstützen durch
die Gewährung eines verbesserten Marktzugangs für Mercosur-Staaten bei

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/941

landwirtschaftlichen Produkten und den konsequenten Abbau von EU-
Agrarsubventionen, um das Agrardumping zu beenden. Gleichzeitig muss
auf die Einhaltung von sozialen und ökologischen Mindeststandards ge-
drängt werden;

14. sich in Hinblick auf Dienstleistungen und Industriegüter innerhalb des EU-
Mercosur-Assoziationsabkommens dafür einzusetzen, dass auch soziale und
ökologische Belange berücksichtigt werden, um so zur regionalen Integra-
tion der Mercosur-Länder und damit zur wirtschaftlichen und finanziellen
Stabilität der Region und zur Konsolidierung der demokratischen Instituti-
onen beizutragen;

15. Verhandlungen über Assoziationsabkommen mit der Andengemeinschaft
und Zentralamerika und dem karibischen Raum aufzunehmen;

16. die Partnerschaft mit Lateinamerika als politisches Projekt mit sozialer und
solidarischer Perspektive neu auszurichten. Dafür müssen verbindliche
Ziele definiert werden, die konkrete Handlungen zur Folge haben. Fragen
der Menschenrechte, internationale Arbeitsnormen, soziale und ökologische
Mindeststandards und Fragen der politischen Zusammenarbeit müssen
neben den Wirtschaftsinteressen gleichrangig berücksichtigt werden;

17. sich konstruktiv an der Entwicklung von fairen und transparenten Verfahren
zur Vorbeugung und Bewältigung akuter Verschuldungskrisen in hoch ver-
schuldeten lateinamerikanischen und karibischen Ländern zu beteiligen.
Dabei muss die Bundesregierung ein Konzept der Schuldentragfähigkeit
unterstützen, das die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Leistungs-
fähigkeit erlaubt und die sozialen Lebensbedingungen der Menschen be-
rücksichtigt;

18. sich angesichts der hohen Schuldendienstquote Boliviens dafür einzusetzen,
dass seine Schuldentragfähigkeit auf der Grundlage einer unabhängigen
Schuldentragfähigkeitsanalyse neu definiert wird, und die bolivianische
Regierung bei der Durchsetzung eines solchen Verfahrens politisch zu un-
terstützen;

19. sich bei der bilateralen und europäischen Entwicklungszusammenarbeit mit
Konfliktregionen Lateinamerikas, insbesondere mit Kolumbien, zuvorderst
für den Schutz der Menschenrechte und die Sicherheit von Menschenrechts-
aktivisten und anderer Akteure der Zivilgesellschaft einzusetzen. Dabei ist
sicherzustellen, dass bei allen von der Bundesregierung und der EU finan-
zierten Entwicklungsprogrammen eine frühzeitige Beteiligung der Zivilge-
sellschaft in der Projektplanung erfolgt und die Beachtung der Menschen-
rechte sichergestellt ist;

20. sich keinen Initiativen wie dem Plan Colombia anzuschließen, die zum Ziel
haben, den Drogenanbau durch militärische und umweltzerstörende Mittel
einzudämmen, sondern die rechtsstaatliche Bekämpfung von Drogenpro-
duktion und -handel zu unterstützen sowie Existenzalternativen für die be-
troffene Bevölkerung zu fördern;

21. die Süd-Süd-Kooperation in ausgewählten Bereichen wie der AIDS-Be-
kämpfung, dem Aufbau sozialer Sicherungssysteme und im Umwelt- und
Ressourcenschutz tatkräftig zu unterstützen;

22. die Kooperation in den Bereichen Hochschulen, Forschung und Technolo-
gie auszubauen.

Berlin, den 15. März 2006
Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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Begründung

Schritte aus der wirtschaftlichen und sozialen Krise

Für viele Länder Lateinamerikas und der Karibik sind soziale Spannungen,
schwaches Wirtschaftswachstum und die Zerstörung der ökologischen Lebens-
grundlagen eine enorme Herausforderung. Korruption, ineffiziente Steuersys-
teme und die Konzentration der Einkommen und des Landbesitzes auf eine
kleine Oberschicht, erzeugen soziale und politische Instabilität. Um sich ein kor-
rektes Bild von der gegenwärtigen Lage in Lateinamerika zu machen, muss der
Blick jedoch auch zurückgerichtet werden. Dabei zeigt sich, dass in vielen Län-
dern enorme Schritte gemacht wurden, um die Verwerfungen zu überwinden, die
diktatorische Regime, häufig in Verbindung mit einer erdrückenden Schulden-
last, hinterlassen haben.

Diese begrüßenswerten Schritte sind auch Ergebnis starker zivilgesellschaft-
licher Bewegungen. Sie haben zur Überwindung autoritärer Regime entschei-
dend beigetragen. Und sie leisteten Widerstand gegen den sozialen Kahlschlag,
der die Jahre des Washington Consensus geprägt hat und Lateinamerika über
zwei Jahrzehnte wirtschaftlich stagnieren ließ, die Armutsrate erhöhte und die
Einkommenskonzentration vertiefte. Erst in jüngster Zeit ist es einigen Ländern
gelungen, sich aus der Vormundschaft des Internationalen Währungsfonds
(IWF) zu befreien. Sowohl Brasilien als auch Argentinien haben dies Anfang
2006 durch eine vorzeitige Begleichung ihrer gesamten Schulden gegenüber
dem IWF deutlich gemacht.

Das Beispiel Argentiniens, das lange als Musterschüler bei der Durchführung
von Strukturanpassungsprogrammen galt, zeigt, dass marktliberale Maßnahmen
und Staatsabbau keine hinreichende Grundlage für nachhaltige Entwicklung und
effektive Armutsbekämpfung sind. Der Umgang Argentiniens mit der letzten
Wirtschaftskrise, die wieder gewonnene Wachstumsdynamik und die sinkenden
Armutsquoten zeigen, dass es Wege außerhalb der von den internationalen
Finanzinstitutionen empfohlenen Blaupausen gibt, um mit Verschuldung und
Wirtschaftskrisen umzugehen. Für Argentinien wie für andere Agrarexporteure
entstehen dabei aber auch neue Herausforderungen. Besonders die Umweltzer-
störung, die mit einer schnellen Expansion des Gen-Sojaanbaus einhergeht, hat
kaum etwas mit einem nachhaltigen Wirtschaftsmodell zu tun.

Entwicklungsprozesse sind immer das Ergebnis eines Zusammenspiels externer
und interner Kräfte. Eine nachhaltige Wirtschaftspolitik kann auch im Fall von
Argentinien nur auf der Grundlage eines effizienten und gerechten Steuersys-
tems und auf der Unterbindung von Kapitalflucht, bzw. der Repatriierung von
Fluchtgeldern, gründen. Ohne konsequente Eigenanstrengungen sind nachhal-
tige wirtschaftliche Erfolge nicht erreichbar.

Politische Umbrüche – Stärkung von Zivilgesellschaft, Demokratieförderung
und Schutz der Menschenrechte

Eine Vielzahl von LAK-Ländern ist bis heute auf die Unterstützung durch die
internationalen Finanzinstitutionen angewiesen. Kriminalität und Gewalt prä-
gen den Alltag vieler Großstädte des Subkontinents. Drogenanbau und Drogen-
handel haben in den Andenländern Kolumbien, Peru, Ecuador und Bolivien star-
ken Einfluss auf die wirtschaftliche und politische Dynamik. Militärische Inter-
ventionen und die breitflächige chemische Zerstörung von Kokafeldern im Stile
des Plan Colombia haben kaum Erfolge gebracht und sind wegen der folgenden
Militarisierung aller Lebensbereiche und gravierender ökologischer Zerstörung
abzulehnen.

Die prekäre wirtschaftliche und soziale Lage hat in mehreren Ländern zu poli-

tischen Umbrüchen und zu Regierungswechseln geführt, von denen sich die

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Menschen wie in Bolivien eine stärkere Beteiligung der bisher marginalisierten
indigenen Bevölkerung, eine gerechtere Ressourcen- und Einkommensvertei-
lung und eine effektive Armutsbekämpfung versprechen. Der im Dezember
2005 zum Präsidenten gewählte Evo Morales steht vor der schwierigen Aufgabe
der Stabilisierung der Demokratie in einem Land, in dem nur knapp die Hälfte
der Bevölkerung – also deutlich weniger als im lateinamerikanischen Durch-
schnitt – glaubt, dass die Demokratie die beste Regierungsform darstellt. Die
geplante verfassungsgebende Versammlung bietet die Möglichkeit, die staat-
lichen Institutionen und die politische Beteiligung zu stärken.

Bereits vor seiner Amtsübernahme kündigte Evo Morales an, die Interamerika-
nische Entwicklungsbank (IDB) in die multilaterale Schuldenerlassinitiative
von Gleneagles (MDRI) einzubeziehen bzw. die Zahlungen gegenüber der IDB
einzustellen. Angesichts seiner hohen Schuldendienstquote ist Bolivien ein klas-
sischer Fall für eine Neudefinition von Schuldentragfähigkeit. Es wäre sinnvoll,
der bolivianischen Regierung diese Option nahe zu legen und sie politisch zu un-
terstützen, bevor das Land zu einer ungeregelten und konfliktiven Zahlungsein-
stellung gegenüber der IDB übergeht. Auch in den anderen HIPIC-Staaten
(Honduras, Nicaragua und Guyana) der Region sollte die Schuldentragfähigkeit
erneut auf den Prüfstand gestellt werden.

Die Situation in Venezuela ist zum einen durch eine starke Eingebundenheit der
Bevölkerung in das politische Geschehen, zum anderen aber durch das Fehlen
einer Opposition innerhalb der konstitutionellen Institutionen gekennzeichnet.
Präsident Hugo Chávez versucht zunehmend, im regionalen Kontext an Gewicht
zu gewinnen, was durch den Beitritt zum Mercosur und Venezuelas wirtschaft-
lich sehr günstige Position erleichtert wird. Aufgrund der starken Zentralisie-
rung der Macht beim Präsidenten, der trotz der Stärkung plebiszitärer Elemente
in der Verfassung den politischen Prozess bestimmt, muss die demokratische
Entwicklung Venezuelas kritisch beobachtet werden. Problematisch ist auch die
Besetzung von Schlüsselfunktionen in Regierung und Verwaltung durch Mili-
tärs.

Die Stärkung der Zivilgesellschaft sowie die Erhöhung von Teilhabe und Trans-
parenz im politischen Geschehen müssen besonders in den Andenstaaten und in
einigen Ländern Zentralamerikas wie Honduras und Nicaragua, aber auch in ei-
nem besonderen Maße in Haiti durch verstärkte Bemühungen zur Stabilisierung
demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen ergänzt werden. Nur wenn
sowohl die Beteiligungsrechte der Bürger als auch die staatlichen Institutionen
auf einem soliden Fundament stehen und durch gute Regierungsführung ergänzt
werden, kann autoritären und populistischen Regierungsformen effektiv entge-
gengewirkt werden.

Insbesondere für Kolumbien bleibt die nichtmilitärische Bewältigung inner-
staatlicher und zwischenstaatlicher Konflikte eine zentrale Herausforderung.
Angesichts der Eskalation der Gewalt und der drohenden Gefahr einer Regiona-
lisierung des kolumbianischen Konflikts gilt es für die EU, entschieden in Hin-
blick auf die Wahrung des humanitären Völkerrechts, der Menschenrechte und
der humanitären Abkommen zum Schutz der Zivilbevölkerung tätig zu werden.

Die EU soll strategische Partnerschaft jetzt umsetzen – Gezielte Förderung der
regionalen Integration

Gerade in einem politisch stark aufgeladenen Umfeld ist es von besonderer Be-
deutung, durch die europäische Politik einen Beitrag zu Entwicklung und wirt-
schaftlichem Wachstum in der Region zu leisten. Es gilt dabei hauptsächlich,
solche Ziele zu verfolgen, die die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität, ein
ökologisch und sozial nachhaltiges Wirtschaftsmodell und die Konsolidierung

der demokratischen Institutionen fördern. Ein beherztes Zugehen Deutschlands

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und der EU auf die LAK-Staaten ist zu einem Zeitpunkt von Bedeutung, an dem
Lateinamerika eine stärkere Differenzierung in den Außenbeziehungen sucht
und entstehende Freiräume im wirtschaftlichen Bereich zunehmend stärker von
asiatischen Ländern wie China, Japan und Indien genutzt werden.

Deutsche Unternehmen genießen in LAK weiterhin ein hohes Ansehen; in eini-
gen Ländern der Region haben ihre Investitionen wesentlich zum Wachstum der
Volkswirtschaften beigetragen. Obwohl deutsche Unternehmen kaum an den
Privatisierungen in Lateinamerika in den 90er Jahren teilgenommen haben, blei-
ben sie weiterhin stark präsent. Außerhalb Westeuropas ist Lateinamerika die
einzige Region, in der deutsche Unternehmen in bestimmten Industriesektoren
eine Schlüsselposition einnehmen. Mit mehr als 800 deutschen Unternehmen ist
São Paulo noch immer der größte deutsche Industriestandort im Ausland.

Europa und Lateinamerika sind durch eine historische und kulturelle Nähe mit-
einander verbunden. Die wirtschaftlichen Beziehungen im Bereich von Handel
und Investitionen sind bis heute sehr eng. 60 Prozent der ausländischen Direkt-
investitionen im Mercosur sind europäischen Ursprungs und die EU ist vor den
USA noch immer der wichtigste Handelspartner. Die EU kann durch eine ziel-
gerichtete Kooperation die regionale Integration in Lateinamerika zu einem
Zeitpunkt unterstützen, zu dem wichtige Weichenstellungen für die Zukunft er-
folgen.

Im Dezember 2005 wurde Venezuela als Vollmitglied in den Mercosur aufge-
nommen. Peru und Ecuador erhielten als assoziierte Mitglieder des Mercosur
den gleichen Status wie Chile und Bolivien. Vereinbart wurde auf dem Merco-
sur-Gipfeltreffen auch die Einberufung eines Mercosur-Parlaments bis Dezem-
ber 2006, zu dem jedes nationale Parlament 18 Repräsentanten entsenden soll.
2010 sollen die ersten direkten Wahlen zum Mercosur-Parlament stattfinden,
und 2014 soll es dem EU-Parlament vergleichbare Entscheidungsfunktionen
ausüben.

Heute stammen 75 Prozent des südamerikanischen Bruttoinlandsprodukts aus
dem Mercosur. Bei den Verhandlungen um die gesamtamerikanische Freihan-
delszone FTAA haben diese Länder ihren Gestaltungswillen gegenüber den
USA klar zum Ausdruck gebracht. Aufgrund ihrer Außenhandelsstruktur sind
die Mercosur-Staaten weit weniger vom nordamerikanischen Markt abhängig
als Mexiko oder die zentralamerikanischen Staaten. Europa und in zunehmen-
dem Maße Asien sind wichtige Handelspartner. Ein definitives Scheitern des
FTAA-Prozesses könnte eine noch stärkere Ausrichtung des Mercosur auf diese
Märkte begünstigen.

Umwelt- und energiepolitisches Engagement verstärken

Von besonderer Bedeutung ist im Umgang mit der zunehmenden weltweiten
Ressourcennachfrage das Ziel des nachhaltigen und umweltschonenden Wirt-
schaftens. Dies gilt nicht nur für die Landwirtschaft und den Bergbau, sondern
auch für die Erdöl- und Erdgasförderung. Es gilt in ganz besonderer Weise aber
für den Ressourcenschutz und den Erhalt der biologischen Vielfalt. Die deutsche
Entwicklungszusammenarbeit hat durch das Tropenwaldschutzprogramm in
Brasilien internationale Standards gesetzt. Eine konsequente Fortsetzung dieses
Programms und eine Ausweitung auf die gesamte Amazonasregion können
einen entscheidenden Beitrag zum Klimaschutz leisten. Dabei geht es auch da-
rum, neue Anreizsysteme für den Waldschutz und den Erhalt der biologischen
Vielfalt zu schaffen und auf die Beseitigung von ökologischen Altlasten durch
die verursachenden Konzerne zu drängen.

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sollte einen regionalen, latein-

amerikanischen Prozess zu Forest Law Enforcement, Governance and Trade
mit initiieren und unterstützen. Mittelfristig sollte dieser Prozess mit dem

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/941

EU-FLEGT-Prozess zusammengeführt werden. Maßnahmen gegen den illega-
len und nichtnachhaltigen Holzeinschlag und den damit verbundenen Handel
sind nicht nur notwendig für den Erhalt der letzten Urwälder, wie dem Amazo-
nas, sondern helfen auch der deutschen Forstwirtschaft sich gegenüber Billig-
importen aus Raubbau zu behaupten.

Besonders wichtig ist neben dem Tropenwaldschutz eine energiepolitische Zu-
sammenarbeit, die „weg vom Öl“ und hin zu alternativen Energien führt. Diese
Politik muss gleichzeitig Ziele wie ökonomische Effizienz, soziale Gerechtig-
keit und ökologische Nachhaltigkeit anstreben. Besonders auch Erdöl fördernde
Länder benötigen innovative, regionale Konzepte, um in erneuerbare Energie-
quellen wie Wasser, Wind, Sonne und Biomasse zu investieren. Dafür bieten
sich in der gesamten LAK-Region gute Ansatzpunkte, die jetzt genutzt werden
müssen.

Im November 2004 konnte die damalige Bundesregierung erreichen, dass im
Einvernehmen mit der brasilianischen Regierung Verhandlungen über die Been-
digung des deutsch-brasilianischen Atomabkommens von 1975 und dessen Er-
satz durch einen neuen nichtatomaren Energievertrag aufgenommen wurden. Im
Zentrum dieses neuen Vertrages sollen, so die Willenserklärung beider Seiten,
erneuerbare Energien, die Verbesserung der Energieeffizienz, Energieeinsparun-
gen und Emissionsminderungen stehen. Bedauerlicherweise konnte die Bundes-
regierung bisher keinen Entwurf für einen neuen Energievertrag vorlegen. Wir
sehen eine große Chance, durch einen solchen Vertrag mit Brasilien eine strate-
gische Energiepartnerschaft im nichtatomaren und nichtfossilen Bereich aufzu-
bauen, die im Geiste des Klimaschutzes und einer nachhaltigen Energiepolitik
steht.

Biokraftstoffe bieten große Entwicklungschancen für die Region. Zugleich muss
aber darauf geachtet werden, dass Mindeststandards bezüglich der Nachhaltig-
keit des Anbaus der Pflanzen sowie der Kraftstofferzeugung eingehalten
werden. Dies spricht zu Recht auch die EU-Kommission in ihrem Biomasse-
aktionsplan an. Ein viel versprechendes Beispiel könnte das brasilianische
Pflanzenöl- und Biodieselprogramm sein, in dem explizit kleinbäuerliche und
ökologische Strukturen gefördert werden. Der Nachweis entsprechender nach-
haltiger Erzeugung sollte Grundlage für den Import nach Europa sein.

Insgesamt können die Bundesregierung und die EU durch eine neuerliche stär-
kere Hinwendung zu Lateinamerika mittels ihrer Entwicklungspolitik neue Ak-
zente vor allem in den Bereichen Armutsbekämpfung und Umweltschutz setzen.
Wichtige Bereiche sind aus unserer Sicht die Ausweitung des Tropenwald- und
Ressourcenschutzes und die Förderung von erneuerbaren Energien und Energie-
effizienz, nachhaltiger Landwirtschaft, Unterstützung von Agrarreformen, die
Verbesserung der Umweltsituation, Demokratieförderung, Finanzsystement-
wicklung und handelsbezogene Fragen in Verbindung mit einem nachhaltigen
Wirtschaftssystem. Um den Willen zu einer echten strategischen Partnerschaft
zu unterstreichen, muss die Bundesregierung klare Signale senden und ihre Ab-
sicht, in strategischen Schlüsselsektoren zu kooperieren, auch mit den entspre-
chenden Finanzzusagen bekräftigen.

Die Weiterentwicklung einer echten strategischen Partnerschaft hängt dabei
maßgeblich von der Fähigkeit der EU ab, beim Agrarsubventionsabbau und bei
der Agrarmarktöffnung gegenüber dem Mercosur Angebote zu machen, die
auch in der WTO dazu beitragen könnten, die Verhandlungsblockade zu lösen.
Durch eine stärkere Verbindung der beiden Regionen kann zugleich der Spiel-
raum Lateinamerikas für eine eigenständige Integration erweitert werden.

Die EU ist für Lateinamerika als Integrationsrahmen mit Umverteilungsmecha-
nismen zwischen den Mitgliedsländern, mit gemeinsamen Infrastrukturprojek-

ten und variierenden Integrationsgeschwindigkeiten von weit größerer Attrakti-

Drucksache 16/941 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
vität als ein Modell, das lediglich auf Freihandel setzt und eine Drogen- und Ter-
rorismusbekämpfung mit militärischen Mitteln ins Zentrum ihrer Politik stellt.
Die entscheidenden Impulse für eine erfolgreiche Integration wie für eine nach-
haltige Entwicklung insgesamt müssen jedoch aus den Ländern selbst kommen.
Ohne Agrarreformen sowie einschneidende Veränderungen in der Wirtschafts-,
Steuer- und Sozialpolitik, die mehr Einkommensgerechtigkeit schaffen, wird
eine langfristige politische und soziale Stabilität weder in den einzelnen LAK-
Ländern noch innerhalb der Region erreichbar sein.

Aufbau einer Partnerschaft zwischen beiden Regionen

In Lateinamerika sind grundlegende politische Neuorientierungen zu erkennen,
denen die Partner der Region Rechnung tragen müssen. Auf die Distanzierung
von US-amerikanischen Zielen, insbesondere von dem Projekt eines kontinen-
talen Freihandelssystems, sollten die Europäische Union und Deutschland
reagieren und Lateinamerika eine Kooperationsalternative bieten. Für den Um-
gang mit Lateinamerika ist ein differenziertes Konzept gefordert, das die Zu-
sammenarbeit an die Gegebenheiten in jedem Land bzw. in jeder Teilregion
anpasst. Dabei gilt aber eine eindeutige Priorität für die Unterstützung der regio-
nalen Kooperations- und Integrationsprojekte.

Der politische Dialog ist deshalb auf verschiedenen Ebenen zu führen. Eine Ver-
besserung der Kooperation beider Regionen in internationalen Organisationen
wie Vereinte Nationen und Weltsicherheitsrat stärkt den Multilateralismus in
den internationalen Beziehungen. Wesentliche Komponente einer multilateralen
Weltordnung ist die regionale Integration. Entgegen den Strategien der USA wie
auch von Teilen der EU, ihre Interessen in bilateralen Abkommen durchzu-
setzen, bilden bestehende und sich neu herausbildende Integrationsprozesse in
Lateinamerika Anknüpfungspunkt und Grundlage der angestrebten Partner-
schaft. Schwerpunkt und vorrangiges Ziel der europäischen wie der deutschen
Lateinamerikapolitik sollte deshalb die Förderung regionaler und subregionaler
Integrationsprozesse in Lateinamerika sein.

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