BT-Drucksache 16/9305

Öffentliche Kinderbetreuung ausbauen - Kommerzialisierung der Kinder- und Jugendhilfe vermeiden

Vom 28. Mai 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9305
16. Wahlperiode 28. 05. 2008

Antrag
der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi,
Katja Kipping, Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert, Frank
Spieth, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Öffentliche Kinderbetreuung ausbauen – Kommerzialisierung der Kinder- und
Jugendhilfe vermeiden

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Da Kinderbetreuung keine Ware ist und sein soll, muss die Kinder- und Jugend-
hilfe vor gewerblichen Kommerz- und Gewinninteressen bewahrt werden. Ent-
gegen dieser Ansicht will jedoch die Bundesregierung mit dem neuen Kinder-
förderungsgesetz (KiföG) zum Ausbau der Kinderbetreuung freigemeinnützige
und privatgewerbliche Träger gleichstellen. Mit einer Zusatzklausel in § 74a des
Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) will sie bundesgesetzlich fest-
schreiben, dass die Länder alle Betreuungsträger finanziell gleich behandeln
müssen. Dieser Paradigmenwechsel führt zu sozialer Segregation in der Jugend-
hilfe. Öffentliche Förderung profitorientierter Kita-Unternehmen fördert teure
Luxusbetreuung für Kinder zahlungskräftiger Eltern und Billigverwahrung für
die Kinder einkommensschwacher Eltern. Darunter haben nicht nur Kinder und
Eltern, sondern auch Erzieherinnen und Erzieher durch verschlechterte Arbeits-
bedingungen bei den letzteren zu leiden. Sinnvoller Wettbewerb um Qualität
und konzeptionelle Vielfalt sollte nicht mit Wettbewerb zwischen gemeinnützi-
gen und gewerblichen Trägern verwechselt werden. Wettbewerb um Qualität
kann und muss innerhalb einer gemeinnützigen Trägerlandschaft stattfinden. Da
es nach geltender Gesetzeslage jedem Unternehmen und jeder Elterninitiative
freisteht, einen gemeinnützigen Verein zu gründen, um eine Kindertagesstätte zu
eröffnen, ist der Ausbau der Kinderbetreuung kein ausreichendes Argument für
die öffentliche Förderung gewinnorientierter Träger. Es liegt der Verdacht nahe,
dass gewinnorientierte mit gemeinnützigen Trägern gleichgestellt werden sol-
len, damit eine Privatisierung der Kinder- und Jugendhilfe vorangetrieben wer-
den kann. Eine Gleichstellung von kommerziellen Trägern mit öffentlichen und
freigemeinnützigen Trägern bedeutet die Öffnung des „Kinderbetreuungsmark-
tes“ nach den Regeln der EU-Dienstleistungsrichtlinie. Die Folgen wären ein
verschärfter Verdrängungs-Wettbewerb und ein Lohn- und Qualitätssenkungs-
wettlauf.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
im laufenden Gesetzgebungsverfahren die Formulierung des Kinderförderungs-
gesetzes in § 74a SGB VIII, wonach die Länder angehalten sind, alle Träger
gleich zu behandeln, zu streichen.

Berlin, den 27. Mai 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Drucksache 16/9305 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Begründung

Der § 74 SGB VIII regelt die Förderung der freien Jugendhilfe. In § 74 Abs. 1
Satz 1 Nr. 3 SGB VIII wird diese Förderung daran gebunden, dass der jeweilige
Träger „gemeinnützige Ziele verfolgt“. Der § 74a SGB VIII regelt die Finanzie-
rung von Tageseinrichtungen für Kinder. Die Bundesregierung verlangt in ihrer
vorgesehenen Änderung des § 74a von den Ländern „alle Träger (…) gleich zu
behandeln“ und begründet dies damit, dass nur eine Einbindung privatgewerb-
licher Träger eine Erfüllung der Betreuungsziele gewähren würde (bis 2013
750 000 Betreuungsplätze für 35 Prozent der Kinder unter drei Jahren in Kita
oder Tagespflege und Rechtsanspruch darauf ab dem ersten Lebensjahr zu
schaffen). Das erscheint fraglich, denn entsprechende Hinweise auf eine Über-
lastung der bisherigen Trägerstruktur sind empirisch nicht nachgewiesen. Es ist
zudem zweifelhaft, ob eine solche Änderung überhaupt erforderlich ist, da
schon nach geltender Gesetzeslage der § 77 SGB VIII eine Finanzierung von
entsprechenden Angeboten privatgewerblicher Träger erlaubt. Dazu gibt es
nicht nur von Gewerkschaften, Deutschem Bundesjugendring und Sozialver-
bänden Kritik. „Die SPD, die starke Bedenken gegen die Privatisierungspläne
hatte, sprach von einem ‚faulen Kompromiss‘. Die Gewerkschaft Erziehung
und Wissenschaft (GEW) kritisierte die Korrektur als ‚Mogelpackung‘“ (Viel
Geld fließt an Kindern vorbei, Frankfurter Rundschau vom 26. April 2008).
Sollte die Bundesregierung versuchen, den öffentlichen Auftrag zum Ausbau
der Kinderbetreuung durch die Forcierung marktwirtschaftlicher Prinzipien in
der Jugendhilfelandschaft einzulösen, so wird dies – wie Erfahrungen aus ande-
ren Ländern zeigen – zu massiven sozialen Verwerfungen führen. Dies beweist
eine Studie des englischen Pädagogen Prof. Peter Moss, die sich mit Erfahrun-
gen kommerzieller Kinderbetreuung in Australien, Großbritannien und den
Niederlanden auseinandersetzt und sich auf der Internetseite der Bertelsmann-
Stiftung befindet. Darin wird aufgezeigt, dass die Kommerzialisierung der Kin-
derbetreuung in Australien und Großbritannien, besonders hinsichtlich der Ar-
beitsbedingungen der Beschäftigten, zu extremen Verschlechterungen geführt
hat. Selbst wenn man die Kinderbetreuung marktwirtschaftlich betrachte, müss-
ten die Eltern wählen können und dazu die Versorgung mit dem „Produkt“ Kin-
derbetreuung gesichert sein, was in Deutschland nicht der Fall ist. In den Nie-
derlanden, wo die Kommerzialisierung 2005 begann, stieg die Verfügbarkeit
von Kinderbetreuung in Regionen mit hoher Kaufkraft und sank in ländlichen
Regionen. Prof. Peter Moss untersuchte Australien, wo es bis 1991 praktisch
nur eine gemeinnützige Kinderbetreuung gab. Dann stellte die Politik die För-
derung um und die privatgewerblichen Anbieter boomten. 2004 stellten sie
schon mehr als 70 Prozent der Plätze. Vier australische Kinderbetreuungs-Fir-
men werden heute an der Börse gehandelt; die größte davon, „ABC Learning“,
hat weltweit 2 300 Niederlassungen und einen Börsenwert von 1,7 Mrd. Euro,
so Prof. Peter Moss. Laut dem Vorstandsvorsitzenden von „ABC Learning“,
Eddy Groves, ist der Kauf der britischen Kita-Firma „Busy Bees“ ein „Aus-
gangspunkt für die weitere Expansion in Europa“ (Felix Berth, „Die Qualität
sinkt“. Australische und britische Erfahrungen mit kommerzieller Kinderbe-
treuung, Süddeutsche Zeitung vom 20./21. März 2008). Da die EU-Dienstleis-
tungsrichtlinie keine Positivbeispiele für „Einrichtungen und Dienstleistungen“
bereithält, werden Kitas je nach Entscheidung des Gesetzgebers behandelt. So-
fern dieser aber, wie vorgesehen, eine Öffnung für kommerzielle Betreuung be-
schließt, gleichberechtigt neben öffentlichen und freien Trägern der Jugend-
hilfe, muss eine Gleichberechtigung im Marktzugang gewährleistet werden.
Dies bedeutete einen Wettlauf um die geringsten Löhne und die schlechtesten
Arbeits- und Betreuungsbedingungen mit entsprechenden Auswirkungen auf
die Qualität der Kinderbetreuung.

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