BT-Drucksache 16/904

Bewertung und Auswirkungen des Reaktorunfalls von Tschernobyl

Vom 8. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/904
16. Wahlperiode 08. 03. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer,
Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr (Münster), Uwe Barth,
Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Mechthild Dyckmans,
Jörg van Essen, Ulrike Flach, Otto Fricke, Paul K. Friedhoff, Horst Friedrich
(Bayreuth), Hans- Michael Goldmann, Miriam Gruß, Joachim Günther (Plauen),
Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter Haustein, Elke Hoff, Dr. Werner Hoyer,
Gudrun Kopp, Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Patrick
Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Hans-Joachim Otto
(Frankfurt), Gisela Piltz, Jörg Rohde, Frank Schäffler, Marina Schuster, Dr. Max
Stadler, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Christoph Waitz, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion der FDP

Bewertung und Auswirkungen des Reaktorunfalls von Tschernobyl

Im September 2005 hat das „Tschernobyl-Forum“ einen umfassenden Bericht
vorgelegt, in dem die Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl untersucht
wurden. Das Forum besteht neben einigen Regierungen unter anderem aus der
Internationalen Atom-Energie-Organisation (IAEO), der Weltgesundheitsorga-
nisation (WHO) und verschiedenen Einrichtungen der Vereinten Nationen, u. a.
dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) und der Welt-
bank.

Ferner hat auch die Internationale Länderkommission Kerntechnik Baden-
Württemberg, Bayern, Hessen – ILK vor wenigen Wochen eine „Stellungnahme
zu den Auswirkungen des Unfalls von Tschernobyl – Bestandsaufnahme nach
20 Jahren“ vorgelegt (www.ilk-online.org/public/de/Stellungnahmen.htm). Die
ILK wurde Anfang Oktober 1999 gegründet und setzt sich aus Wissenschaftlern
aus Deutschland, Frankreich, den USA, Schweden und der Schweiz zusammen.
Grundlage für die Einrichtung der ILK ist ein Verwaltungsabkommen zwischen
den genannten Ländern vom 6. Juli 1999. Die Mitglieder der Kommission wer-
den durch die Ministerpräsidenten der beteiligten Länder bestellt.

Stellvertretend für zahlreiche weitere Untersuchungen sind den genannten Be-
richten Sachverhalte und Einschätzungen aus Sachverständigensicht zu entneh-
men, die für eine Bewertung des Reaktorunfalls von Tschernobyl und dessen
Auswirkungen von Bedeutung sind.
Wir fragen die Bundesregierung:

1. Trifft es zu, dass es sich bei der in Tschernobyl zerstörten Anlage um einen
Reaktortyp sowjetischer Bauart handelte, der ausschließlich in den Staaten
der früheren Sowjetunion eingesetzt wurde bzw. wird?

Drucksache 16/904 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

2. Trifft es zu, dass Kernreaktoren dieser Bauart weder in Deutschland noch in
den Staaten der EU (bis auf Litauen, der Reaktor Ignalina) jemals betrieben
worden sind und dass hierzulande zu keinem Zeitpunkt die Errichtung und
der Betrieb eines solchen Reaktors auch nur in Erwägung gezogen wurde,
geschweige denn beantragt worden wäre?

3. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass der Tschernobyl-Reaktor
in keiner Hinsicht mit westeuropäischen Technologie- und Sicherheitsstan-
dards vergleichbar ist?

4. Wenn ja, welche weiterführenden Schlussfolgerungen leitet die Bundesre-
gierung daraus ab, und wenn nein, weshalb und in welcher Hinsicht hält die
Bundesregierung den Tschernobyl-Reaktor mit westeuropäischen Techno-
logie- und Sicherheitsstandards für vergleichbar?

5. Trifft es zu, dass im Eindruck des Unfalls in Tschernobyl unter anderem
auch bedeutende Weiterentwicklungen auf dem Gebiet der Reaktorsicher-
heit erreicht wurden und dass insbesondere auch an Reaktoren vom Tscher-
nobyl-Typ zwischenzeitlich eine Vielzahl von Maßnahmen im Hinblick auf
die Vermeidung weiterer Unfälle bei derartigen Reaktoren vorgenommen
worden ist und dass auch andere Reaktoren sowjetischer Bauart mittlerweile
sicherheitstechnisch nachgerüstet wurden?

6. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass bis Mitte 2005 etwa
50 Todesfälle unmittelbar der Strahlung aus der Katastrophe zugeschrieben
werden können (ILK-Stellungnahme) und dass fast alle Opfer zu Personen-
gruppen gehören, die sich damals in unmittelbarer Nähe des havarierten Re-
aktors aufgehalten haben?

7. Teilt die Bundesregierung die in der ILK-Stellungnahme getroffene Ein-
schätzung, dass das Reaktorunglück von Tschernobyl auf verschiedene
technische Unzulänglichkeiten dieses – und nur dieses – spezifischen Reak-
tortyps sowie auf Fehlverhalten des dortigen Betriebspersonals sowohl im
Vorfeld und im Moment des Unglücks als auch bei der späteren Brandbe-
kämpfung und auf die Kombination von technischen Unzulänglichkeiten
und Fehlverhalten zurückzuführen ist?

8. Wenn nein, über welche diesbezüglich anderslautenden Erkenntnisse ver-
fügt die Bundesregierung (ggf. mit Bezug auf genau welche Quelle)?

9. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass bei der in Tschernobyl
zerstörten Anlage sicherheitstechnische Auslegungsprinzipien wie bei-
spielsweise eine „Fehler verzeihende“ Technik nicht angewandt wurden
und dass zudem das Betriebspersonal nicht über Schwächen der Auslegung
des Reaktors informiert war?

10. Wenn nein, über welche diesbezüglich anderslautenden Erkenntnisse ver-
fügt die Bundesregierung (ggf. mit Bezug auf genau welche Quelle)?

11. Teilt die Bundesregierung die in der zitierten ILK-Stellungnahme getroffene
Einschätzung, dass die Betriebsmannschaft des Tschernobyl-Reaktors sich
nicht an bewährte betriebliche und sicherheitsorientierte Verfahrensweisen
gehalten habe und dass dies als damals „mangelhafte Sicherheitskultur“ am
Betriebsort zu werten sei?

12. Wenn nein, über welche diesbezüglich anderslautenden Erkenntnisse ver-
fügt die Bundesregierung (ggf. mit Bezug auf genau welche Quelle)?

13. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass das Notkühlsystem
des Tschernobyl-Reaktors bereits am Vortag des Unfalls absichtlich „unver-
fügbar geschaltet“ worden war?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/904

14. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die Sicherheitskultur in
deutschen und europäischen Reaktoranlagen als international vorbildlich
gilt und zu keinem Zeitpunkt mit der seinerzeitigen in Tschernobyl ver-
gleichbar war oder ist?

15. Sieht die Bundesregierung vor diesem Hintergrund zwischen dem Reaktor-
unglück von Tschernobyl und den in Deutschland sowie der EU betriebenen
Kernreaktortypen konkrete Parallelen bzw. Vergleichbarkeiten in der tech-
nischen und personellen Überwachung und den vorhandenen Gegebenhei-
ten hinsichtlich eines zu befürchtenden Unglücks?

16. Wenn ja, welche Parallelen sieht die Bundesregierung mit Blick auf die in
Deutschland und der EU betriebenen Kernreaktortypen und welche
Schlussfolgerungen zieht sie ggf. daraus?

17. Hält die Bundesregierung einen dem Tschernobyl-Unfall vergleichbaren
Reaktorunfall innerhalb Deutschlands für denkbar?

18. Wenn ja, bei genau welchem Kernkraftwerk rechnet die Bundesregierung
aufgrund genau welcher Überlegungen damit und bis wann will die Bundes-
regierung deshalb den Betrieb der betreffenden Reaktoranlage untersagen?

19. Teilt die Bundesregierung die in der zitierten ILK-Stellungnahme getroffene
Einschätzung, dass durch das damalige Reaktorunglück nur im Bereich der
früheren Sowjetunion und in kleinen Teilen des sonstigen Europas über lo-
kale Kurzzeitkontaminationen hinaus eine signifikante Kontamination auf-
getreten ist?

20. Wenn nein, über welche diesbezüglich anderslautenden Erkenntnisse ver-
fügt die Bundesregierung (ggf. mit Bezug auf genau welche Quelle)?

21. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung der gegenwärtige Stand der Sta-
bilisierungsmaßnahmen an der Reaktorruine?

22. Wer ist im Einzelnen an der Finanzierung der Umsetzung des von einer in-
ternationalen Expertengruppe aufgestellten „Shelter Implementation Plan
(SIP)“ zur Stabilisierung des bestehenden Sarkophags und zur Errichtung
eines neuen Einschlusses um den Sarkophag in jeweils welcher Höhe betei-
ligt und welche Kosten werden hierdurch insgesamt und für Deutschland
entstehen?

23. Wie hoch ist der von Deutschland bereitgestellte Anteil am „Chernobyl
Shelter Fund“, der von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Ent-
wicklung zu diesem Zweck verwaltet wird und wie hoch sind die deutschen
Beiträge an diesen Fonds seit seiner Gründung?

24. Wie hoch ist der Anteil Deutschlands am gesamten finanziellen Beitrag der
Europäischen Union im Zusammenhang der Bewältigung des Unfalls von
Tschernobyl?

25. Welchen Rang nimmt Deutschland unter den die vorgenannten Maßnahmen
finanzierenden Staaten ein?

26. Wie bewertet die Bundesregierung die in der zitierten ILK-Stellungnahme
getroffene Einschätzung, dass für das damalige deutsche Staatsgebiet die
„am weitesten verbreiteten Gegenmaßnahmen im Allgemeinen nicht obli-
gatorisch waren, und dass im Gegenteil die Erfahrung gezeigt habe, dass
„diese Art Maßnahmen … erhebliche negative psychologische Auswirkun-
gen hatten“?

27. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage des wissenschaftlichen Lei-
ters des Tschernobyl-Forums, Dr. Mikhail Balonov, dass – abgesehen von

den Krankheiten und Todesfällen infolge der Bestrahlung – die Auswirkun-
gen des Reaktorunfalls auf die seelische Gesundheit das größte vom Unfall

Drucksache 16/904 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

ausgelöste volksgesundheitliche Problem seien und dass die schädlichen
psychischen Folgen vor allem auf ein Fehlen genauerer Informationen und
auf die Übertreibungen der Bedrohungslage und des Katastrophenausmaßes
in Westeuropa zurückzuführen seien?

28. Wie bewertet die Bundesregierung vor dem Hintergrund der beiden letztge-
nannten Fragen die Gedenkfeierlichkeiten anlässlich des 20. Jahrestages des
Reaktorunfalls von Tschernobyl?

Berlin, den 7. März 2006

Angelika Brunkhorst
Michael Kauch
Horst Meierhofer
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr (Münster)
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Gudrun Kopp
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.