BT-Drucksache 16/8926

zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung -16/8300, 16/8917- Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007

Vom 23. April 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8926
16. Wahlperiode 23. 04. 2008

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin,
Dr. Lothar Bisky, Sevim Dag˘delen, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Inge Höger,
Dr. Hakki Keskin, Michael Leutert, Ulla Lötzer, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer
(Köln), Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 16/8300, 16/8917 –

Entwurf eines Gesetzes
zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Am 15. Dezember 2001 forderten die Staats- und Regierungschefs der Euro-
päischen Union in der Erklärung von Laeken feierlich eine „Verfassung für
die europäischen Bürger“. Diese Erklärung ging von grundlegenden Ein-
sichten in den beklagenswerten Zustand der EU aus: „Die Bürger stehen
zweifellos hinter den großen Zielen der Union, sie sehen jedoch nicht immer
einen Zusammenhang zwischen diesen Zielen und dem täglichen Wirken
der Union. Sie verlangen von den europäischen Organen weniger Schwerfäl-
ligkeit und Starrheit und fordern vor allem mehr Effizienz und Transparenz.
Viele finden auch, dass die Union stärker auf ihre konkreten Sorgen einge-
hen müsste und sich nicht bis in alle Einzelheiten in Dinge einmischen
sollte, die eigentlich besser den gewählten Vertretern der Mitgliedstaaten
und der Regionen überlassen werden sollten. Manche erleben dies sogar als
Bedrohung ihrer Identität. Was aber vielleicht noch wichtiger ist: Die Bürger
finden, dass alles viel zu sehr über ihren Kopf hinweg geregelt wird, und
wünschen eine bessere demokratische Kontrolle.“ Diese Aussage ist heute
nach wie vor aktuell. Sie wird auch durch die Verabschiedung des Gesetzes
zum Vertrag von Lissabon und eine etwaige Ratifikation des Vertrages nicht
überholt.

2. Schon der vom Verfassungskonvent entworfene und nach Änderungen einer
Regierungskonferenz am 29. Oktober 2004 in Rom feierlich unterzeichnete
Verfassungsvertrag wurde dem hohen Anspruch der Erklärung von Laeken
nicht gerecht. Auf Militarisierung und ebenso marktradikales wie unsoziales
Wirtschaften ausgerichtet, in seinen Entscheidungsverfahren wenig trans-
parent und demokratisch bot er der Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger
keine Möglichkeit der Identifikation, sondern wurde selbst als bedrohlich

Drucksache 16/8926 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

empfunden. Deshalb wurde er in Volksabstimmungen in Frankreich und in
den Niederlanden abgelehnt. Weitere Ablehnungen waren zu erwarten.

3. Der Verzicht auf eine Verfassung für die immer weiter mit hoheitlichen
Funktionen ausgestattete EU und die Art und Weise, wie in einem für die
Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten undurchschaubaren Prozess
und unter weitestgehender Vermeidung von Volksabstimmungen der Vertrag
von Lissabon zustande kam, schafft erst recht keine europäische Identität,
sondern verstärkt die schon in Laeken festgestellte Entfremdung der Men-
schen von den Organen und der Politik der EU noch weiter.

4. Der Vertrag von Lissabon ist hinter verschlossenen Türen über die Köpfe der
Bürgerinnen und Bürgern hinweg zügig erstellt und durchgesetzt worden.
Trotz teilweise erweiterter Mitentscheidungsrechte des Europäischen Par-
laments und einer begrenzten Beteiligung der nationalen Parlamente
entspricht der Vertragsinhalt in seiner Gesamtheit nicht den Erfordernissen
einer demokratischen, sozialen, friedlichen und umweltbewahrenden euro-
päischen Integration:

● Die Militarisierung durch Aufrüstungspflichten und weltweit ermöglichte
militärische Interventionen gefährden den Frieden nach außen und im
Inneren.

● Die Festlegung auf die Grundsätze eines neoliberalen Finanzmarktkapi-
talismus und der Verzicht auf Sozialstaatlichkeit ordnen das Wohl der
Menschen dem Profitinteresse der Konzerne unter. Die Chance, durch ein
Sozialprotokoll der besonders gewerkschafts- und arbeitnehmerfeind-
lichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) einen
Riegel vorzuschieben, wurde bewusst nicht wahrgenommen.

● Vorgeblich zum Schutz der öffentlichen Sicherheit werden hoheitliche
Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger zentral er-
möglicht ohne erforderliche Gegengewichte und ausreichende parlamen-
tarische Kontrollen.

● Eine weitere Bürokratisierung der Organe der EU, die weiterhin unzurei-
chende demokratische Willensbildung, vor allem das mangelnde Initia-
tivrecht des Europäischen Parlaments, und die in den meisten Mitglied-
staaten fehlende Mitentscheidung der Bevölkerung über Grundfragen der
EU widersprechen demokratischen Grundprinzipien.

5. Wenn trotz dieser schwerwiegenden Bedenken alle Mitgliedstaaten den Ver-
trag wirksam ratifiziert haben, wird er mit allen Mängeln rechtlicher Aus-
gangspunkt für die praktischen Auseinandersetzungen um die Politik und
weitere Entwicklung der EU sein. Die Parlamente der Mitgliedstaaten kön-
nen dann von ihren Rechten der Subsidiaritätskontrolle, ohne Illusionen
über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, offensiv Ge-
brauch machen, um die Allmachtsansprüche der Brüsseler Bürokratie
öffentlich in Frage zu stellen. Die vermehrten Mitentscheidungsrechte des
Europäischen Parlaments können Ausgangspunkt für stärker als bisher
öffentlich geführte Auseinandersetzungen um politische und gesellschaft-
liche Intereressen, Ziele und Konflikte werden. Die gesellschaftlichen Orga-
nisationen, vor allem die Gewerkschaften, und die politischen Parteien in
den Mitgliedstaaten sowie ihre europäischen Zusammenschlüsse werden,
von den Realitäten des Vertrags von Lissabon ausgehend, weiter die Ausein-
andersetzungen um eine andere EU führen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8926

6. Wegen des fehlenden Verfassungscharakters und der verfehlten Regelungen
im Einzelnen wird der Vertrag von Lissabon jedoch nicht als für Jahrzehnte
unhinterfragbare und unveränderliche Grundlage für die EU und ihre Mit-
gliedstaaten akzeptiert werden. Der Prozess der europäischen Integration ist
nicht abgeschlossen, ihre soziale Ausgestaltung weiter offen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert:

1. Die Bundesregierung soll künftig zügig nach Vorlage von Vorschlägen der
Kommission für Gesetzgebungsakte prüfen, ob insoweit die Europäische
Union überhaupt zuständig ist und ob die Grundsätze der Subsidiarität und
Verhältnismäßigkeit gewahrt sind. Die Bundesregierung soll Bundestag und
Bundesrat unverzüglich schriftlich und detailliert über die Ergebnisse dieser
Prüfung unterrichten, damit sie in die Subsidiaritätsprüfung einbezogen wer-
den können.

2. Die Bundesregierung soll nach sorgfältigen Vorarbeiten einen Vorschlag zur
Ergänzung des Grundgesetzes vorlegen, nach dem in Fällen, in denen
Organe der EU unter Überschreitung der ihnen nach dem Grundsatz der
begrenzten Einzelermächtigung übertragenen Befugnisse ungerechtfertigt in
die vom Grundgesetz gewährleisteten Grundrechte oder in die in den Arti-
keln 1 und 20 des Grundgesetzes niedergelegten Grundsätze eingreifen, den
Betroffenen, der Bundesregierung, den Landesregierungen sowie dem Deut-
schen Bundestag und seinen Fraktionen der Weg für eine Überprüfung durch
das Bundesverfassungsgericht eröffnet wird.

3. Die Bundesregierung soll noch im Jahr 2008 eine Expertenkommission be-
rufen, die bis Ende des Jahres 2009 Vorschläge für das Verfahren der Er-
arbeitung erneuerter Grundlagen der Europäischen Union vorlegt. Dabei
sollen der unerfüllte Auftrag der Erklärung von Laeken aufgegriffen, die
neueren Entwicklungen berücksichtigt und ein Vorschlag für den Entwurf
eines Memorandums für eine demokratische, freiheitliche, soziale und Frie-
den sichernde Europäische Union erarbeitet werden. Auch ist vorzusehen,
dass über diesen Verfassungsvertrag in allen Mitgliedstaaten schon in der
Phase seiner Erarbeitung eine breite zivilgesellschaftliche Meinungsbildung
und abschließend Volksabstimmungen stattfinden.

4. Nach einer intensiven, die Bevölkerung, die gesellschaftlichen und politi-
schen Organisationen und die Parlamente breit einbeziehenden öffentlichen
Diskussion soll die Bundesregierung die entsprechend überarbeiteten Vor-
schläge dem Europäischen Rat vorlegen und auf dieser Basis eine Initiative
zur Neugestaltung der vertraglichen Grundlagen der EU in Angriff nehmen.

Berlin, den 22. April 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

1. Der ebenso mühsam wie trickreich zustande gebrachte Kompromiss der
Staats- und Regierungschefs über den Vertrag von Lissabon kann nicht da-
rüber hinwegtäuschen, dass das große Ziel weit verfehlt wurde, die Euro-
päischen Union als demokratisch verfassten Staatenverbund neu zu gestalten
und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Bürgerinnen und Bür-

Drucksache 16/8926 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

ger in ihr nicht mehr eine Bedrohung ihrer Identität sehen, sondern die Mög-
lichkeit einer zusätzlichen europäischen Identität finden können.

● Die Akzeptanz hoheitlicher Befugnisse durch die Menschen erfordert
eine Verfassung, die diese Befugnisse begründet und begrenzt. Durch
scheinbar technische hochkomplizierte und nicht überschaubare Rege-
lungen kann eine die Legitimität begründende Verfassung nicht ersetzt
werden. Das gilt auch für den Staatenverbund Europäische Union und
gewinnt in dem Maße an Bedeutung, in dem auf die EU immer mehr
hoheitliche Befugnisse übertragen wurden.

● Akzeptanz und Identifikation erfordern eine durch die Verfassung in
Regeln gefasste demokratische Legitimation. Daran fehlt es der Europäi-
schen Union auch nach den Veränderungen durch den Vertrag von Lissa-
bon weitgehend.

● Eine wirkliche demokratische Legitimation durch eine europäische Ver-
fassung erfordert, dass sie in allen Mitgliedstaaten durch Volksabstim-
mung gebilligt wird.

● Die Billigung einer Verfassung für die EU durch Volksabstimmungen
setzt jedoch voraus, dass die in ihr festgelegten politischen Ziele und
Instrumente den Interessen der Menschen dienen und nicht gegen sie ge-
richtet sind. Dem wird der Vertrag von Lissabon in weiten Teilen nicht
gerecht.

● Die Zukunft der Europäischen Union hängt davon ab, dass es gelingt,
eine europäische Verfassung zu schaffen, die die Mängel der bisherigen
vertraglichen Grundlagen überwindet.

2. Der Vertrag von Lissabon hat die mit dem Maastricht-Vertrag eingeleitete
Militarisierung nicht rückgängig gemacht, sondern bestätigt und weiter vor-
angetriebenen. Gerade in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik (GASP) und der Europäischen Sicherheits- und Vertei-
digungspolitik (ESVP) liegt ein Großteil der Neuerungen des Vertrags (Arti-
kel 21 bis 43 EUV, Artikel 222 AEUV).

● Ein entscheidender Schritt in Richtung auf eine weitere Militarisierung
der EU erfolgt durch die massive Ausweitung der so genannten Peters-
berg-Aufgaben: Bei weltweiten Missionen, die „Kampfeinsätze im Rah-
men der Krisenbewältigung“, „gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen“,
„Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung“ sowie „Opera-
tionen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten“ umfassen, soll die
EU künftig auch außerhalb ihres Territoriums auf „zivile und militärische
Mittel zurückgreifen“ können (Artikel 43 Abs. 1 Satz 1 EUV). Am
schwersten wiegt die Bestimmung, dass „mit allen diesen Missionen […]
zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden“ kann und darüber
hinaus sogar „die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des
Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet“ vorgesehen ist. Damit wird eine
Option zur militärischen Terrorbekämpfung eröffnet (Artikel 43 Abs. 1
Satz 2 EUV), ohne dass auch nur annähernd geklärt wird, was als „Ter-
ror“ zu verstehen ist. Die angebliche Bekämpfung des Terrors kann zum
Vorwand für weltweite militärische Auseinandersetzungen um die Ener-
gie- und Rohstoffversorgung werden.

● Auch hat eine ausdrückliche Aufrüstungsverpflichtung Eingang in den
Vertragstext gefunden: „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre mili-
tärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.“ (Artikel 42 Abs. 3
EUV).

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/8926

● Die bereits im Juli 2004 erfolgte Einrichtung einer „Europäischen Ver-
teidigungsagentur“ wird jetzt als Instrument zur „Entwicklung der Ver-
teidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung“ und „zur
Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungs-
sektors“ vertraglich festgeschrieben (Artikel 42 Abs. 3, Artikel 45 EUV).

● Für militärisch besonders „anspruchsvolle“ Mitgliedstaaten wird die
Möglichkeit eröffnet, sich gesondert in einer „Ständigen Strukturierten
Zusammenarbeit“ zusammenzuschließen und so ein dominierendes mili-
tärisches Kerneuropa zu bilden. Damit wird zugleich ein Primärrechts-
rahmen für die verstärkte Entsendung von EU-Battle-Groups geschaffen
(Artikel 42 Abs. 6, des Protokolls (Nr. 10) über „Die Ständige Struktu-
rierte Zusammenarbeit“).

● Im Vertrag von Lissabon wird die völkerrechtliche Bindung des außen-
und sicherheitspolitischen Handelns der EU an die Charta der Vereinten
Nationen auf deren Grundsätze beschränkt. Diese Bindung umfasst also
nicht die eine explizite Verpflichtung auf das gesamte Kapitel VII der
UN-Charta („Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und
bei Angriffshandlungen“) und die in ihm enthaltenen Verfahrensvor-
schriften. Damit besteht die Gefahr, dass ein Raum für militärische Aus-
landseinsätze auch außerhalb von Artikel 51 (Recht auf Selbstverteidi-
gung) der Charta eröffnet wird und Kriege der EU ohne UN-Mandat
(Artikel 3 Abs. 5, Artikel 21 Abs. 1 und 2, Artikel 42 Abs. 1 des Proto-
kolls (Nr. 10) über „Die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“) ermög-
licht werden.

● Neue Vorschriften im Vertrag von Lissabon begründen ein zusätzliches
Kompetenzwirrwarr in der EU-Außenpolitik mit dem „Doppelhut“ des
„Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ und den
außenpolitischen Kompetenzen der EU-Kommission und des neuen Prä-
sidenten des Europäischen Rates. Zugleich erfolgt eine weitere Zentrali-
sierung von außenpolitischen Entscheidungen auf der Ebene der EU. Die
institutionelle Vermischung von Außen- und Sicherheitspolitik wird ver-
stärkt (Artikel 15 Abs. 2, 5, 6, Artikel 18 EUV). Sie steht im Gegensatz
zu Festlegungen im Grundgesetz und zu rechtsstaatlichen Grundsätzen.

● Zum ersten Mal eröffnet der Vertrag von Lissabon die Möglichkeit, einen
eigenständigen permanenten EU-Militärfonds – im Vertrag von Lissabon
„Anschubfonds“ genannt – aufzustellen, aus dem auch operative Militär-
ausgaben beglichen werden können (Artikel 41 Abs. 3 EUV). Damit sind
eine weitere Steigerung von Militärausgaben und eine Erleichterung von
EU-Militärinterventionen verbunden. Eine parlamentarische Kontrolle
für diesen neuen Militärhaushalt ist nicht vorgesehen.

● Der Vertrag von Lissabon sichert die institutionelle Zusammenarbeit im
militärischen Bereich von EU und NATO primärrechtlich ab. Auf die
„Berlin-Plus-Vereinbarungen“ vom 17. März 2003, die der EU einen
Rückgriff auf die militärischen Kapazitäten der NATO ermöglichen und
die sicherheitspolitische Zusammenarbeit detailliert regeln, wird im Ver-
trag ausdrücklich Bezug genommen. Dabei geht es um eine „maßgeb-
lichere Rolle der Union im Bereich von Sicherheit und Verteidigung“, die
zur „Vitalität eines erneuerten Atlantischen Bündnisses“ beitragen soll
(Artikel 42 Abs. 7 EUV, Protokoll (Nr. 10) über „Die Ständige Struktu-
rierte Zusammenarbeit“).

● Der Vertrag von Lissabon droht, das Parlamentsrecht des Deutschen
Bundestages bei der Entscheidung über militärische Auslandseinsätze
auszuhöhlen. Im Vertrag heißt es, dass „Beschlüsse zur Gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einschließlich der Beschlüsse über

Drucksache 16/8926 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

die Einleitung einer Mission, […] vom Rat einstimmig auf Vorschlag des
Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik oder auf
Initiative eines Mitgliedstaats erlassen“ werden. Die Zustimmung der
Bundesregierung im Rat ist nicht an einen Bundestagbeschluss gebunden,
sondern wird erst nachträglich eingeholt (Artikel 42 Abs. 4 EUV). In der
geänderten Fassung des EU-Vertrags findet sich zudem die Aufforde-
rung, entsprechende nationale Vorschriften an die verkürzte Einsatzzeit
der EU-Battle-Groups anzupassen und die „nationalen Beschluss-
fassungsverfahren“ zu überprüfen (Artikel 42 Abs. 6 EUV, Protokoll
(Nr. 10) über „Die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“).

● Der Vertrag von Lissabon eröffnet einen primärrechtlichen Rahmen für
den Einsatz von Militär im Inneren auf Anforderung eines anderen EU-
Mitgliedstaates. Innere und äußere Sicherheit werden in der Solidaritäts-
klausel vermischt und es wird ein Rechtsrahmen für die Zusammenarbeit
aller Sicherheitsdienste, auch der militärischen und geheimdienstlichen,
ermöglicht (Artikel 222 AEUV).

3. Der Vertrag von Lissabon ist in seiner Grundtendenz von einem neoliberalen
und monetaristischen Politikansatz getragen. Er verankert die absolute Frei-
heit des Marktes, schreibt die monetaristischen Positionen des Vertrags von
Maastricht fest. Von den in Artikel 20 des Grundgesetzes gewährleisteten
und nach Artikel 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Verfassungsgrundsätzen
werden Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ausdrücklich in die Grundwerte
der Europäischen Union (Artikel 2 EUV) aufgenommen, nicht aber die So-
zialstaatlichkeit.

● Der Verweis auf den freien und unverfälschten Wettbewerb wurde aus
den Zielbestimmungen des Vertrages (Artikel 3 EUV) entfernt. Jedoch
wurde der unverfälschte Wettbewerb in einem entsprechenden Protokoll
bekräftigt (Protokoll (Nr. 27) „Über den Binnenmarkt und den Wettbe-
werb“) und begründet das Verbot staatlicher Beihilfen in der Industrie-
und Strukturpolitik (Artikel 107 AEUV).

● Durch den Vertrag werden die vier Grundfreiheiten im Rahmen eines
europäischen Binnenmarkts als ein Raum ohne Binnengrenzen, in dem
der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital
gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet wird, festgeschrie-
ben. Durch die fehlenden sozialstaatlichen Verpflichtungen werden diese
vier Grundfreiheiten als oberste Ausrichtung der Europäischen Union
vorrangig festgeschrieben (Artikel 26 Abs. 2 AEUV).

● In diesem Zusammenhang fehlt ein besonderes Sozialprotokoll, wie es
die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel angekündigt hatte. Damit hätte
auch Fehlentwicklungen in der Interpretation der Grundfreiheiten
Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit und Kapitalverkehrsfrei-
heit durch den Europäischen Gerichtshof entgegengetreten werden kön-
nen. Wie nötig das wäre, zeigen die aktuellen Urteile des EuGH zum
VW-Gesetz [C-112/05] (Abbau des Schutzes vor Übernahmen und
Betriebsverlagerungen), in den Fällen „Viking“ [C-438/05] und „Laval“
[C-341/05] (Einschränkungen des Streikrechts) und „Rüffert“ [C-346/06]
(niedersächsisches Vergabegesetz: Verbot der Koppelung der Vergabe
öffentlicher Aufträge an die Zahlung von üblichen Tariflöhnen).

● Die offene und freie Marktwirtschaft bildet auch den vorrangigen Grund-
satz der Wirtschafts- und Währungspolitik (Artikel 119, 120, 127
AEUV). Eine wirtschaftspolitische Gestaltung der Europäischen Union
bzw. eine gemischte Wirtschaftsordnung wird damit, anders als im
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, bewusst ausgeklammert.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/8926

● In der Geldpolitik wird der international unübliche Vorrang der Preisstabi-
lität gegenüber Wachstum und Beschäftigung festgeschrieben (Artikel 127
AEUV). Eine nachfrageorientierte Politik zur Stärkung des Binnenmark-
tes wird somit verhindert.

● Im Unterschied zu den meisten Notenbanken der Welt kann die Europäi-
sche Zentralbank nicht nur ihre Instrumente völlig frei wählen, sie unter-
liegt in den Zielen ihrer Geldpolitik auch keiner demokratischen Kon-
trolle (Artikel 130 AEUV).

● Der Vertrag isoliert in Präambel und Grundwerten Rechtsstaatlichkeit
von Sozialstaatlichkeit. Selbst der unbestimmte Begriff der sozialen
Marktwirtschaft wird unter den Vorbehalt der Wettbewerbsfähigkeit ge-
stellt (Artikel 3 EUV). Die Verträge von Nizza verpflichteten die EU
noch auf ein „hohes Niveau des Sozialschutzes“ (Artikel 2 EGV). Der
Vertrag von Lissabon spricht hingegen nur noch von der „Gewährleistung
eines angemessenen Sozialschutzes“ (Artikel 9 AEUV). Weder die
Grundrechtecharta noch die soziale Querschnittsklausel vermögen somit
ein sozial gerechtes Verhältnis zwischen den Grundfreiheiten des Binnen-
marktes und den Grundrechten der Unionsbürgerinnen und -bürger zu
stiften.

● Im Vertrag von Lissabon werden die Außenbeziehungen zu anderen Staa-
ten vor allem durch die Betonung der Interessen der Europäischen Union
beschrieben und die EU darauf verpflichtet, dass sie in ihren Beziehun-
gen zur übrigen Welt diese Werte und Interessen schützt und fördert (Ar-
tikel 3 Abs. 5 EUV).

● Alle Beschränkungen des Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaa-
ten innerhalb der Europäischen Union werden verboten (Artikel 63 ff.
AEUV). Gleichzeitig fehlt jedoch bewusst eine Festlegung über eine
Mindestbesteuerung von Kapitalerträgen im Vertrag. Der Vertrag legt
vielmehr einseitig fest, dass die Rechte der Mitgliedstaaten, die Vor-
schriften ihres nationalen Steuerrechts anzuwenden, nicht berührt werden
und schreibt damit den zunehmenden Steuerwettlauf nach unten fest
(Artikel 65 Abs. 1 Buchstabe a).

4. Mit dem Vertrag von Lissabon sind die Rechtsgrundlagen der Innen- und
Justizpolitik sowie das völkerrechtliche Schengen-Abkommen in dem „Ver-
trag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ zusammengeführt wor-
den (Artikel 67 ff. AEUV). Diese Vereinheitlichung leidet jedoch am Fehlen
eines hinreichenden Grundrechtsschutzes und an gravierenden demokrati-
schen Defiziten.

● Als Regel für den Erlass neuer Rechtsakte wird das ordentliche Gesetz-
gebungsverfahren mit Mitentscheidung durch das Europäische Parlament
eingeführt (Artikel 81 bis 83, 88 AEUV). Regelungen über die operative
Zusammenarbeit im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit unterlie-
gen aber in einem besonderen Verfahren allein der Entscheidung des
Rates. Das Parlament wird nur angehört (Artikel 87 Abs. 3 AEUV).

● Die polizeiliche Zusammenarbeit wird durch die Schaffung neuer Institu-
tionen und durch die Ausweitung exekutiver Kompetenzen auf europäi-
scher Ebene ausgebaut. Mit der Errichtung des „Ständigen Ausschusses“
(AEUV) zur Förderung und Stärkung der operativen Zusammenarbeit
zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten (Artikel 71
AEUV) besteht die Gefahr, dass das Gebot der Trennung zwischen Poli-
zei und Nachrichtendiensten ausgehebelt wird.

Drucksache 16/8926 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

● Die Schaffung eines einheitlichen Rechtsraums durch eine justizielle
Zusammenarbeit in Strafsachen nach dem Prinzip der gegenseitigen An-
erkennung (Artikel 82 Abs. 2 AEUV) ist im Hinblick auf die historisch
gewachsenen Unterschiede im Rechts- und Justizwesen der Mitgliedstaa-
ten höchst zweifelhaft.

● Wie der individuelle Rechtsschutz gegen rechtswidrige Maßnahmen im
Innen- und Justizbereich gewährleistet werden soll, bleibt unklar. Zudem
wird dem EuGH hier keine vollständige Kompetenz eingeräumt.

● Die neu kreierte Europäische Staatsanwaltschaft institutionalisiert eine
zentrale europäische strafrechtliche Untersuchung und Verfolgung und
hat diese in den einzelnen Mitgliedstaaten durchzusetzen. Ihr Zuständig-
keitsbereich kann über die Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der
finanziellen Interessen der EU ausgedehnt werden (Artikel 86 Abs. 4
AEUV). An einer europäischen Verteidigung als Gegengewicht zum
Schutz Betroffener fehlt es.

● Europol und Eurojust sollen über Operativbefugnisse verfügen. Dieses
qualitativ neue institutionelle Gefüge der EU-Innenpolitik bleibt aller-
dings unkontrolliert: Über die Arbeit des ständigen Ausschusses für ope-
rative Zusammenarbeit wird das Europäische Parlament lediglich „auf
dem Laufenden gehalten“ (Artikel 71 Satz 4 AEUV); eine parlamentari-
sche Kontrolle über Europol und Eurojust und eine gerichtliche Kontrolle
über die Europäische Staatsanwaltschaft sind im Vertrag von Lissabon
zwar generell vorgesehen, dennoch ist ihre Konkretisierung sekundären
Rechtsakten überlassen (Artikel 85, 88 AEUV).

● Die „gemeinsame“ Asyl- und Einwanderungspolitik geht mit der Einfüh-
rung eines „integrierten Grenzschutzsystems“, mit der „wirksamen Über-
wachung des Grenzübertritts an den Außengrenzen“ und der „wirksamen
Steuerung der Migrationsströme“ einher (Artikel 77 f. AEUV).

5. Die institutionellen Reformen des Vertrags von Lissabon haben nicht wirklich
zu einer klaren Abgrenzung von Zuständigkeiten und zu mehr Transparenz
von Verfahren und Entscheidungen geführt. Trotz einzelner Verbesserungen
in dieser Richtung kann auch von einer hinreichenden demokratischen Legi-
timation des Handelns der Organe der Europäischen Union nicht die Rede
sein.

● Durch den Vertrag werden in erheblichem Umfang neue Zuständigkeiten
der EU für den Erlass von Rechtsakten begründet. Trotzdem bleibt die
mit dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Artikel 5 AEUV)
unvereinbare „subsidiäre Handlungsermächtigung“ erhalten und wird so-
gar gegenüber der vorherigen Regelung (Artikel 308 EGV) vom Bereich
des „Gemeinsamen Marktes“ auf alle „in den Verträgen festgelegten
Politikbereiche“ ausgedehnt: „Erscheint ein Tätigwerden der Union […]
erforderlich […] und sind die erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen,
erlässt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach
Zustimmung des Parlaments die geeigneten Vorschriften“ (Artikel 352
AEUV).

● Zwischen Europäischer Kommission, Europäischem Rat und Rat fehlen
durchgängige Aufgabenverteilungen und Kompetenzabgrenzungen. Der
„Hohe Vertreter für die GASP“ wird vom Europäischen Rat gewählt und
gehört als Vizepräsident der EU-Kommission mit fünfjähriger Amtszeit
an. Zugleich aber hat er den Vorsitz im „Rat für Auswärtige Angelegen-
heiten“ inne (Artikel 18, 27 EUV). Zu seiner Unterstützung wird ein
„Europäischer Auswärtiger Dienst“ eingerichtet (Artikel 27 Abs. 3 EUV),
wobei offen bleibt, ob dieser bei der EU-Kommission oder beim Rats-
sekretariat angesiedelt wird. Der Europäische Rat wird von seinem von

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9 – Drucksache 16/8926

ihm für zweieinhalb Jahre gewählten Präsidenten geleitet (Artikel 15
Abs. 5 und 6 EUV). Der Vorsitz in dem als Gesetzgebungsorgan in unter-
schiedlicher fachlicher Zusammensetzung tätigen Rat wird jeweils von
einem Vertreter der Mitgliedstaaten nach einem genauer zu bestimmen-
den Prinzip der gleichberechtigten Rotation wahrgenommen (Artikel 16
Abs. 9 EUV, Artikel 296 Buchstabe b AEUV). Die größere Transparenz
durch den Vertrag von Lissabon erschließt sich da nicht unmittelbar.

● Die Fälle, in denen das Europäische Parlament im Rahmen von Rechtset-
zungsverfahren nicht nur anzuhören ist, sondern mitentscheiden kann
(Artikel 294 AEUV: „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“) sind nicht
unbeträchtlich ausgeweitet worden. Ein gradueller Fortschritt ist auch im
Zusammenhang mit der „Umsetzung der allgemeinen Handelspolitik“
(Artikel 207 AEUV) und teilweise beim Abschluss internationaler Ab-
kommen (Artikel 218 Abs. 6 Buchstabe a AEUV) festzustellen. Das
Europäische Parlament hat aber auch nach dem Vertrag von Lissabon
kein Recht zu eigenen Gesetzgebungsinitiativen. Es kann weder für die
Schaffung neuer Regelungen noch für die Abänderung oder Aufhebung
bestehender ohne einen Vorschlag der Europäischen Kommission gesetz-
geberisch tätig werden. Dass das Parlament auch bei der Wahl des Kom-
missionspräsidenten nur über Vorschläge des Europäischen Rates abstim-
men kann, entspricht seiner nach wie vor eingeschränkten Bedeutung.
Die begrenzten Befugnisse des Europäischen Parlaments entsprechen
insgesamt nicht den Grundsätzen einer parlamentarischen Demokratie.

● Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastricht-Urteil (BVerfGE
89, 155) dargelegt, die demokratische Legitimation der von Organen der
EU ausgeübten hoheitlichen Gewalt erfolge „zuvörderst“ über die natio-
nalen Parlamente. Mit zunehmender Integration werde das ergänzt durch
die „Vermittlung demokratischer Legitimation durch das von den Bür-
gern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament.“ Seit diesem
Urteil sind die Rechtsetzungszuständigkeiten der EU erheblich ausgewei-
tet, die unmittelbare demokratische Legitimation durch die mitglieds-
staatlichen Parlamente weiter eingeschränkt worden. Die stärkeren Mit-
wirkungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments können – schon
wegen des fehlenden Initiativrechts – das aber nicht ausgleichen.

● Die Rolle, die der Vertrag den nationalen Parlamenten zuweist, ist eher
begrenzt: „Die nationalen Parlamente tragen aktiv zur guten Arbeitsweise
der Union bei […]“. Konkret erhalten sie die Möglichkeit, die Nichtbe-
achtung des Grundsatzes der Subsidiarität zu rügen und dagegen vor dem
Europäischen Gerichtshof zu klagen (Artikel 12 EUV). Im Übrigen haben
die nationalen Parlamente bestimmte Informationsrechte (Artikel 70, 71,
81 AEUV) und erst noch durch sekundärrechtliche Verordnungen festzu-
legende Mitwirkungsrechte (Artikel 85, 88 AEUV) im Bereich der Innen-
und Justizpolitik.

● Die häufig gelobte demokratische Partizipation der Bürgerinnen und Bür-
ger stellt kein wesentliches Element der Demokratisierung dar: Mit einer
Initiative von einer Million Unionsbürgerinnen und -bürgern kann die
EU-Kommission aufgefordert werden, Vorschläge für bestimmte Rechts-
akte zu unterbreiten. Die Europäische Kommission wird dadurch aber zu
nichts verpflichtet (Artikel 11 Abs. 4 EUV).

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