BT-Drucksache 16/8885

Für die Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention und eine - hiervon unabhängige - effektive Umsetzung der Kinderrechte im Asyl- und Aufenthaltsrecht

Vom 23. April 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8885
16. Wahlperiode 23. 04. 2008

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Diana Golze, Jörn Wunderlich, Wolfgang Neskovic,
Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, Sevim Dag˘delen, Dr. Hakki Keskin, Katja Kipping,
Jan Korte, Kersten Naumann, Petra Pau, Elke Reinke, Volker Schneider
(Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert und der Fraktion DIE LINKE.

Für die Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention
und eine – hiervon unabhängige – effektive Umsetzung der Kinderrechte im
Asyl- und Aufenthaltsrecht

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die von der Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifikation des Überein-
kommens über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) im Jahr
1992 abgegebene Vorbehaltserklärung zu einzelnen Bereichen der Konven-
tion ist infolge gesetzlicher Änderungen zum Teil gegenstandslos geworden.
Andererseits steht der aufenthaltsrechtliche Vorbehalt nach wie vor im
Zentrum der Debatte und Kritik. Der Deutsche Bundestag, die Kinder-
kommission des Bundestages, der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes,
zahlreiche Nichtregierungs- und Kinderrechtsorganisationen und auch die
Bundesregierung haben sich mehrfach für eine Rücknahme der Vorbehalte
ausgesprochen. Eine Mehrheit der Bundesländer lehnt dies jedoch ab (vgl.
Bundestagsdrucksache 16/6076, Antwort zu Frage 4).

2. Die Bundesländer warnen nach Auskunft der Bundesregierung vor „Fehl-
interpretationen“, „falschen Erwartungen“ und „Rechtsunsicherheiten bei der
Anwendung des nationalen Aufenthalts- und Asylrechts“ nach einer Rück-
nahme der Vorbehaltserklärung (vgl. ebenda). Die Bundesregierung vertritt
hingegen den Standpunkt, dass die Erklärung ohnehin nur einen deklarato-
rischen Charakter habe und „Änderungen von Bundes- oder Landesrecht“
infolge einer Rücknahme „nicht zu veranlassen“ wären (vgl. ebenda, Antwort
zu Frage 8), da „das deutsche Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht in vol-
lem Umfang den Vorgaben der VN-Kinderrechtskonvention“ entspreche
(vgl. ebenda, Antwort zu Frage 10).

3. Das deutsche Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht entspricht jedoch ins-
besondere beim Umgang mit Flüchtlingskindern nicht den Vorgaben der UN-
Kinderrechtskonvention. Die Konvention verlangt ganz ausdrücklich eine

vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls bei allen staatlichen Maßnah-
men, unabhängig von Herkunft und Status des Kindes.

4. Das geltende nationale Recht kann durch einfachgesetzliche Änderungen so-
fort den Anforderungen der UN-Kinderrechtskonvention angepasst werden.
Unabhängig von dem seit Jahren andauernden, lähmenden Streit über die Be-
deutung und Folgen des Vorbehalts bzw. seiner Rücknahme könnte dadurch
die Lage von Flüchtlingskindern in Deutschland konkret verbessert werden.

Drucksache 16/8885 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

5. sich gegenüber den Bundesländern weiterhin für eine Zustimmung zur Rück-
nahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention einzuset-
zen;

6. davon unabhängig auf eine Anpassung der Landesgesetze an die Erforder-
nisse der Konvention zu drängen und mit den Bundesländern ein gemeinsa-
mes Vorgehen hinsichtlich der überwiegend in Landeskompetenz liegenden
Themenbereiche anzustreben, unter anderem

● um den Schulbesuch aller in Deutschland lebenden Kinder unabhängig
vom Aufenthaltsstatus zu ermöglichen;

● um eine einheitliche und kindgerechte Umsetzung des § 42 des Achten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) zu erreichen (Vorrang jugendhilfe-
rechtlicher vor aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen; bei minderjährigen
unbegleiteten Flüchtlingen: sofortige Einschaltung der Jugendämter,
Unterbringung in Jugendhilfeeinrichtungen statt in Massenunterkünften,
regelmäßige psychotherapeutische Erstbetreuung, sorgfältige Clearing-
verfahren und Förderung von Einzel- und Vereinsvormundschaften ge-
genüber Amtsvormundschaften);

7. sofort alle notwendigen Initiativen zur Anpassung der asyl-, asylbewerber-
leistungs- und aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen an die Erfordernisse der
UN-Kinderrechtskonvention zu ergreifen, zum Beispiel:

● ausdrückliche Verankerung der vorrangigen Berücksichtigung des Kin-
deswohls im Asylverfahrens-, Asylbewerberleistungs- und Aufenthalts-
recht;

● Abschaffung der asyl- und aufenthaltsrechtlichen sog. Verfahrensmündig-
keit bereits ab 16 Jahren, sorgfältige Altersfeststellungen unter Verzicht
auf zweifelhafte Röntgenuntersuchungen;

● effektive Berücksichtigung kinderspezifischer Verfolgungsgründe im
Asylverfahren und Anhörung von Flüchtlingskindern bis 18 Jahre nur
durch besonders geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundes-
amtes für Migration und Flüchtlinge;

● Verbot der Inhaftierung minderjähriger Flüchtlinge im Rahmen von Ab-
schiebungs- und Zurückweisungshaft, Verzicht auf Flughafenverfahren
und direkte Grenzabweisungen, damit Clearingverfahren bei unbegleite-
ten minderjährigen Asylsuchenden durchgeführt werden können;

● keine Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und
Familien mit Kindern in Massenunterkünften und Sicherstellung einer op-
timalen sozialen bzw. medizinischen Versorgung von Flüchtlingskindern,
d. h. nicht nach den diskriminierenden Bestimmungen des Asylbewerber-
leistungsgesetzes.

Berlin, den 22. April 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung
Die Rede von der Berücksichtigung des Kindeswohls ist in aller Munde. Den
staatlichen Umgang mit Flüchtlingskindern in Deutschland bestimmt jedoch

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8885

nach wie vor nicht etwa die Sorge um die bestmöglichen Entwicklungschancen
der Kinder, sondern ein von Misstrauen geprägtes nationalstaatliches Abwehr-
denken mit dem Ziel, unerwünschte Einwanderung und Zuflucht möglichst
effektiv zu verhindern. Die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls ist in
keinem der asyl- oder aufenthaltsrechtlich relevanten Gesetze ausdrücklich ver-
ankert, so dass Flüchtlingskinder – auch unbegleitete – im Regelfall denselben
restriktiven Bestimmungen unterliegen wie erwachsene Flüchtlinge.

Problematisch ist insbesondere, dass Kinder im deutschen Asyl- und Aufent-
haltsrecht bereits ab 16 Jahren als verfahrensmündig gelten und deshalb formal-
rechtlich wie Erwachsene behandelt werden – was eine eindeutige Überforde-
rung darstellt und im deutschen Rechtssystem einmalig sein dürfte. Damit sind
auch Kinder einem Asylverfahrensrecht ausgeliefert, dem es nicht um die Suche
nach einer möglichst sorgfältigen, sondern einer möglichst schnellen Entschei-
dung geht. Asylsuchende Kinder werden im Interesse einer reibungslosen
Durchsetzung einer möglichen späteren Abschiebung in ihrer Freiheit einge-
schränkt oder sogar ihrer Freiheit beraubt (Flughafenverfahren, Inhaftierungen
zur Feststellung des zuständigen EU-Staates, Abschiebungshaft, Residenz-
pflicht). Ihre Lebens- und Unterbringungsbedingungen sind von einer Politik
der Abschreckung geprägt, d. h. diese sind bewusst so ausgestaltet, dass sie kei-
nen Anreiz zur Einreise bieten sollen (Zwangsunterbringung in Massenunter-
künften, gekürzte Sozialhilfesätze, Sachleistungsprinzip, eingeschränkte medi-
zinische Versorgung usw.). In die körperliche Unversehrtheit von Kindern wird
zur Feststellung ihres Alters mittels umstrittener Röntgenuntersuchungen einge-
griffen, weil deren Altersangaben regelmäßig infrage gestellt werden.

Es ist offenkundig, dass diese Prinzipien der bundesdeutschen Asylpolitik, so-
weit sie die Kinder von Asylsuchenden oder minderjährige unbegleitete Flücht-
lingskinder betreffen, nicht mit dem Grundanliegen oder auch einzelnen Bestim-
mungen der UN-Kinderrechtskonvention vereinbar sind. Betroffen sind etwa die
Artikel 2 (keine Diskriminierung von Teilgruppen), 3 (Vorrang des Kindes-
wohls), 24 (Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit)
und 27 (Recht auf angemessenen Lebensstandard). Regelungen im Asyl- und
Aufenthaltsrecht, die diesen Regelungen der UN-Kinderrechtskonvention
widersprechen, müssen geändert werden. Dies gilt auch vor dem Hintergrund
entsprechender Bestimmungen zur vorrangigen Beachtung des Kindeswohls in
den asylrechtlichen Richtlinien der Europäischen Union.

Der jahrelange, festgefahrene politische Streit um die Rücknahme der bundes-
deutschen Vorbehaltserklärung lenkt davon ab, dass – einen entsprechenden
politischen Willen vorausgesetzt – die notwendigen gesetzlichen Änderungen
unabhängig von der Vorbehaltserklärung jederzeit vorgenommen werden könn-
ten. Die aufenthaltsrechtliche Vorbehaltserklärung IV von 1992 hat einen
lediglich interpretatorischen Charakter und steht auch nicht im Widerspruch zur
UN-Kinderrechtskonvention, sofern darin auf das grundsätzliche Recht der
Nationalstaaten, über Einreise und Aufenthalt zu bestimmen, hingewiesen wird.
Die Erklärung steht jedoch im Widerspruch zu Grundprinzipien der UN-Kinder-
rechtskonvention, sofern sich die Bundesrepublik Deutschland damit vorbehal-
ten wollte, Unterschiede bei der Anwendung der in der UN-Kinderrechtskon-
vention kodifizierten Rechte zwischen in- und ausländischen Kindern zu
machen. Ein solcher Vorbehalt, „der gegen das Herzstück des menschenrecht-
lichen Schutzsystems“ und diametral gegen die Zielsetzung der UN-Kinder-
rechtskonvention gerichtet ist, fällt nach Ansicht von Prof. Dr. Christian
Tomuschat unter Artikel 19 Buchstabe c des Wiener Übereinkommens über das
Recht der Verträge und ist damit unwirksam (vgl. dessen Stellungnahme vom
2. Januar 2004: „Die Vorbehalte der Bundesrepublik Deutschland zum Überein-
kommen über die Rechte des Kindes“; vgl. auch Artikel 51 Abs. 2 der UN-

Kinderrechtskonvention).

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.