BT-Drucksache 16/8529

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung -16/7439, 16/7486, 16/8525- Entwurf eines Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz)

Vom 12. März 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8529
16. Wahlperiode 12. 03. 2008

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Birgitt Bender, Dr. Harald Terpe,
Kerstin Andreae, Ekin Deligöz, Dr. Thea Dückert, Hans-Josef Fell, Kai Gehring,
Britta Haßelmann, Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 16/7439, 16/7486, 16/8525 –

Entwurf eines Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der
Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Zwar kommen die Fraktionen der CDU/CSU und SPD nach mehrmaligen Ver-
schiebungen nun formell ihrer Koalitionsvereinbarung nach und haben einen
Gesetzentwurf für eine Pflegereform vorgelegt. Doch bereits mit den Eckpunk-
ten der Bundesregierung zur Pflegereform vom Juni 2007 wurde von der Koali-
tion die Tatsache eingestanden, dass sie an ihrem in der Koalitionsvereinbarung
formulierten Vorhaben gescheitert ist, die Pflegeversicherung auf ein solides
und nachhaltig finanzielles Fundament zu stellen. Die nunmehr mit dem Pflege-
Weiterentwicklungsgesetz (PfWG) vorgesehene geringfügige Beitragssatzerhö-
hung ohne weitere Maßnahmen stellt weder eine nachhaltige noch eine genera-
tionengerechte Finanzierungskonzeption dar.

In Anbetracht eines erneuten, für 2007 zu erwartenden Jahresdefizits der SPV
(Soziale Pflegeversicherung), des weiteren Anstiegs der Zahl Pflegebedürftiger
und des gleichzeitigen Rückgangs des informellen Pflegepotentials wird damit
die notwendige umfassende Finanzierungsreform der SPV wiederum nur aufge-
schoben. Spätestens im Jahr 2015 – günstige Bedingungen auf der konjunkturel-
len wie auf der Ausgabenseite vorausgesetzt – wird damit laut Gesetzentwurf
wieder über Maßnahmen im Finanzierungsbereich zu entscheiden sein. Diese
Vorgehensweise widerspricht jedem Verständnis von Nachhaltigkeit.
Unverständlich ist des Weiteren, dass die Private Pflegeversicherung – wie
schon die PKV bei der vergangenen Gesundheitsreform – weitgehend ihren pri-
vilegierten Status behält und nicht in die solidarische Lastenverteilung von Pfle-
gekosten und -risiken einbezogen wird. Trotz der weitgehenden Deckungs-
gleichheit der Leistungen bleibt es bei der sozial ungerechten sowie fachlich und
gesamtwirtschaftlich unvernünftigen Zweiteilung in Soziale und Private Pflege-
versicherung.

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Die mit dem PfWG vorgesehene stufenweise Anhebung der seit 1995 konstan-
ten Leistungssätze bis zum Jahre 2012 sowie die ab 2015 erfolgende Dynami-
sierung sind im Grundsatz zu begrüßen. Allerdings bleiben die stationären Pfle-
gestufen I und II von der gestaffelten Anhebung ausgenommen. Das ist konzep-
tionell nicht nachvollziehbar. Sollen von dieser Maßnahme stärkere Anreize für
die ambulante Pflege ausgehen, so wäre vielmehr eine Angleichung der ambu-
lanten und stationären Leistungen angezeigt. Diesen konsequenten Schritt geht
die Bundesregierung jedoch nicht.

Zum anderen entspricht die stufenweise Anhebung der Leistungen nicht einmal
dem ab 2015 geplanten Niveau der Dynamisierung in Anlehnung an die Infla-
tionsentwicklung. Es stellt sich daher umso mehr die Frage, weshalb die Bun-
desregierung die Dynamisierung der Leistungen nicht mit sofortiger Wirkung
einführt. Ebenso fragwürdig ist das Dynamisierungsverfahren, wonach ein Dy-
namisierungsschritt lediglich in einem dreijährigen Turnus erfolgt und jeweils
einer Rechtsverordnung durch die Bundesregierung bedarf.

Die strukturellen Reformmaßnahmen im Pflege-Weiterentwicklungsgesetz
(PfWG) betreffend sind die Bemühungen der Bundesregierung, Verbesserungen
in der pflegerischen Versorgung herbeizuführen, im Grundsatz zu begrüßen. Ins-
gesamt bleiben die Strukturreformen der Bundesregierung lückenhaft und ent-
behren eines nachvollziehbaren und konsistenten Konzepts für eine konsequent
nutzerorientierte Pflege.

Zentrales Defizit ist dabei, dass mit dem PfWG nicht die Überarbeitung des Pfle-
gebedürftigkeitsbegriffs erfolgt. Diese ist jedoch für alle weiteren leistungs-
rechtlichen Maßnahmen und deren Finanzierung von grundlegender Bedeutung.
Zwar soll der zu diesem Zweck beim Bundesministerium für Gesundheit einge-
richtete Beirat seine Empfehlungen Ende 2008 vorlegen. Mit einer entsprechen-
den Gesetzesinitiative bzw. Umsetzung ist in dieser Wahlperiode realistisch
jedoch nicht mehr zu rechnen.

Einige Ansätze für Strukturreformen, wie beispielsweise die Errichtung von
Pflegestützpunkten und die Stärkung der Pflegeberatung, die Schaffung einer
gesetzlichen Pflegezeit sowie die Bemühungen zur Verbesserung der Pflegequa-
lität sind grundsätzlich zu begrüßen. In der Umsetzung jedoch erfüllen die Maß-
nahmen nicht den Anspruch einer konsequenten Nutzerorientierung. Zentrale
Elemente zur Stärkung der Position der Nutzerinnen und Nutzer, die im Pflege-
sektor von besonderer Bedeutung sind, finden zu wenig Beachtung oder werden
gar konterkariert.

So wird bezüglich der Pflegestützpunkte und -berater der Anspruch an unabhän-
gige Beratungs- und Begleitungsstrukturen nicht erfüllt. Obwohl künftig die
Länder über die Errichtung von Stützpunkten entscheiden sollen, bleiben ein
Teil der Finanzierung, der Aufbau und die personelle Ausstattung der Stütz-
punkte in der Obhut der Kassen. Die Übertragung der Entscheidung für oder
gegen Stützpunkte auf die Länder lässt eine föderale Zersplitterung, ähnlich wie
beim Heimrecht, befürchten. Über den Fortbestand der Stützpunkte nach der
vorgesehenen Anschubfinanzierungsphase wird dann wohl die unterschiedliche
Finanzkraft der Länder entscheiden. Die Grundlagen für die Schaffung einer
regionalen Netzwerkstruktur unter gleichberechtigter Einbeziehung aller rele-
vanten Akteure sind nach diesen Regelungen nicht erkennbar. Vielmehr gibt die
Bundesebene die Verantwortung für ein wesentliches Koordinierungsinstrument
zur konsequenten und flächendeckenden Umsetzung von „ambulant vor statio-
när“ aus der Hand. Die Pflegeberater hingegen, die individuelle Beratung und
Begleitung und eine Vielzahl weiterer Aufgaben leisten sollen, werden dem An-
spruch einer unabhängigen Einzelfallbegleitung auch weiterhin nicht gerecht, da
sie im Auftrag der Kranken- und Pflegekassen agieren. An den bestehenden

Schnittstellenproblemen zwischen den verschiedenen Sozialrechtssystemen än-

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dert die große Koalition kaum etwas. Das wird den Auftrag der Pflegeberater zur
Bündelung und Vernetzung von Leistungen erheblich behindern.

Die Einführung einer gesetzlichen Pflegezeit zur besseren Vereinbarkeit von
Pflege, Familie und Beruf ist notwendig. Die konkrete Ausgestaltung des von
der Koalition vorgesehenen Pflegezeitgesetzes (PflegeZG) jedoch ist ungenü-
gend und nicht zielführend. Das PflegeZG soll explizit die Übernahme der
Pflege naher Angehöriger fördern. Zum einen wird hier die Möglichkeit einer
Sterbebegleitung nicht explizit aufgeführt. Zum anderen passt das formulierte
Ziel angesichts mehrjähriger durchschnittlicher Pflegezeiten und der auf 6 Mo-
nate begrenzten Pflegezeit mit der Realität nicht zusammen. Vielmehr besteht
das Risiko, dass insbesondere weibliche pflegende Angehörige auf diesem
Wege doch schleichend aus dem Erwerbsleben gedrängt werden, anstatt die Ver-
einbarkeit mit dem Beruf zu fördern.

Des Weiteren hat sich die Koalition nicht dazu durchringen können, für die
Dauer der Pflegezeit eine Form der Lohnersatzleistung zur Verfügung zu stellen.
Die nun vorgesehene unbezahlte Pflegezeit wie auch die unbezahlte kurzzeitige
Arbeitsverhinderung werden sich viele gering verdienende Personen finanziell
nicht leisten können, so dass diese sozial benachteiligt werden. Als weiteres
Hemmnis für die Inanspruchnahme der Pflegezeit wird sich die Beschränkung
auf Betriebe mit mehr als 15 Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter entpuppen.
Nicht zuletzt verkennt die Begrenzung des Kreises der Anspruchsberechtigten
auf ausschließlich nahe Angehörige die Veränderung der familiären Strukturen
und die Auswirkungen des demografischen Wandels. Aus diesen Gründen wird
Pflegezeit ihren eigentlichen Zweck verfehlen.

Die Bundesregierung verspielt auch auf anderen Feldern die Chance, das Leis-
tungsrecht innovativ und teilhabeorientiert weiterzuentwickeln. So wird es
Menschen mit Behinderungen, die ein persönliches Budget nach dem SGB IX
in Anspruch nehmen, nicht ermöglicht, zukünftig ein integriertes Budget zu er-
halten, das auch Leistungen der Pflegeversicherung enthält. Auch weiterhin
werden sie Pflegesachleistungen nur in Form von Gutscheinen erhalten können.
Dies hat nicht zuletzt auch die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange
behinderter Menschen Karin Evers-Meyer in einer Pressemitteilung vom 19. Fe-
bruar 2008 beklagt und für eine entsprechende Neuregelung plädiert. Ebenso
droht das Persönliche Pflegebudget nach dem Ende seiner modellhaften Erpro-
bung im Sande zu verlaufen, ohne dass die Bundesregierung Maßnahmen zu
seiner Fortentwicklung ergreifen würde.

Auf dem Gebiet der Qualitätssicherung bringt die Bundesregierung zwar einige
durchaus sinnvollen Verbesserungen auf den Weg. Sie versäumt es jedoch, den
Prozess und die Steuerung der Qualitätsentwicklung unabhängig zu gestalten.
Dies wird auch weiterhin im Kern den Vertragsparteien überantwortet, was fach-
lich höchst fragwürdig ist. Fragwürdig scheint ebenso, dass künftig zwar ein
größeres Augenmerk auf die Ergebnisqualität gelegt werden soll, diese selbst
aber kaum inhaltlich gefüllt wird.

II. Der Deutsche Bundestag fordert vor diesem Hintergrund die Bundesregie-
rung auf,

gesetzgeberische Maßnahmen einzuleiten, die darauf abzielen, eine solidari-
sche, nachhaltige und generationengerechte Finanzierungsgrundlage für die
SPV zu schaffen, Leistungsinhalte konsequent nutzerorientiert zu gestalten und
pflegende Angehörige wirkungsvoll zu entlasten. Dazu zählen folgende Eck-
punkte:

1. Pflege-Bürgerversicherung
Die Soziale und die Private Pflegeversicherung werden in einer Pflege-Bür-
gerversicherung zusammengefasst. Dadurch werden alle Bürgerinnen und

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Bürger gemäß ihrer Leistungsfähigkeit in den Solidarausgleich einbezogen.
Im Rahmen der Pflege-Bürgerversicherung werden alle Einkommensarten
zur Beitragsbemessung herangezogen. Reichen die finanziellen Mittel durch
die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage in der Pflegeversicherung nicht
aus, ist die Erhöhung des Beitragssatzes in der Pflege-Bürgerversicherung
kein Tabu.

2. Solidarische Demografiereserve

Es wird eine Demografiereserve zur Abfederung steigender finanzieller Be-
lastungen geschaffen. Dazu wird im Solidarsystem über einen zusätzlichen
zweckgebundenen Beitrag eine Kollektivreserve aufgebaut, deren Vermögen
vor politischem Zugriff geschützt ist.

3. Regelgebundene Dynamisierung

Die Leistungen der Pflege-Bürgerversicherung werden jährlich regelgebun-
den dynamisiert. Die Dynamisierungsschritte bedürfen aufgrund der Regel-
gebundenheit keiner Rechtsverordnung und werden somit nicht zum Gegen-
stand politischer Entscheidungsprozesse.

4. Unabhängiges Case-Management

Alle Versicherten erhalten einen Anspruch auf individuelle Pflege- und
Wohn(raumanpassungs)beratung, Aufklärung, Unterstützung und Beglei-
tung durch ein unabhängiges Case-Management (Fall-Management). Ziel ist
die möglichst individuelle Abstimmung, Bündelung und Koordination von
Leistungen für die Betroffenen. Das Case-Management wird getragen von
einer regionalen kooperativen und vernetzen Versorgungsstruktur, in die alle
Kosten- und Leistungsträger, Leistungserbringer sowie auch Organisationen
der Selbsthilfe, des ehrenamtlichen/bürgerschaftlichen/freiwilligen Engage-
ments und Verbraucherinnen- und Verbraucher-Vertretung verpflichtend und
gleichberechtigt eingebunden sind. Die zwingende Unabhängigkeit der Bera-
tungs- und Begleitungsstrukturen sichert somit die Rechte der Verbraucher
und Verbraucherinnen und stärkt ihre Position im Pflegemarkt.

5. Gesetzliche Pflegezeit/Unterstützungssysteme

Es werden gezielte Maßnahmen zur Stärkung und zum Erhalt der privaten
und informellen Pflegebereitschaft ergriffen. Dazu zählt die Einführung einer
maximal dreimonatigen gesetzlichen Pflegezeit für Frauen und Männer zur
Organisation – nicht der Übernahme – der notwendig gewordenen Pflege
oder einer Sterbebegleitung. Die Pflegezeit ist mit einem Anspruch auf eine
steuerfinanzierte Lohnersatzleistung verbunden. Anspruch auf die Pflegezeit
haben dabei nach einem erweiterten Familienbegriff auch Personen ohne ver-
wandtschaftliche Beziehung, wenn sie bereit sind, Verantwortung für die
Pflegebedürftige oder den Pflegebedürftigen zu übernehmen. Des Weiteren
zählen dazu der Aufbau und die gezielte Förderung solidarischer Unterstüt-
zungssysteme im Sinne eines individuellen Pflege- und Hilfe-Mixes. Dies
beinhaltet auch die Flexibilisierung und den Ausbau komplementärer und
haushaltsnaher Dienstleistungsangebote.

6. Persönliches Budget

Das integrierte Budget für Menschen mit Behinderungen wird in ein träger-
übergreifendes persönliches Budget nach SGB IX überführt. Darin sind Pfle-
geleistungen anstelle von Gutscheinen als echte Budgetleistung integriert.
Des Weiteren wird das persönliche Pflegebudget mittelfristig in die Regel-
versorgung überführt. Es wird durch ein unabhängiges Case-Management
flankiert. Es ergänzt die bestehenden Leistungsarten (Sach-, Geld- und Kom-
binationsleistung) als weitere Wahlmöglichkeit und wird in Höhe der Sach-
leistungsbeträge gewährt. Das Budget leistet einen wichtigen Beitrag zu

mehr Selbstbestimmung und Teilhabe und stärkt somit die Position der Ver-
braucher und Verbraucherinnen im Versorgungsgeschehen.

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7. Transparenz und Qualitätssicherung

Für die Nutzerinnen und Nutzer werden öffentlich zugängliche, verständlich
formulierte, vergleichbare und neutrale Informationen zu Preisen, Leistungen
und Qualität von Pflegeangeboten bereitgestellt. Mehr Informiertheit und
Aufklärung in diesem Bereich ermöglicht den Nutzern die Bewertung der
Qualität von Versorgungsangeboten. So gestärkte Verbraucher und Verbrau-
cherinnen können wiederum mehr Einfluss auf die Art und Qualität von Ver-
sorgungsangeboten nehmen. Verbindliche Kriterien und Standards zur Defi-
nition und Bewertung ambulanter und stationärer Pflegequalität werden in
einem transparenten Verfahren entwickelt. Es wird eine unabhängige und
multidisziplinär besetzte Instanz für Qualität in der Pflege errichtet. Die Mit-
wirkung von Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen und der
Selbsthilfe von pflegebedürftigen und behinderten Menschen wird über ein-
deutige Regelungen zu Beteiligungs-, Anhörungs- und Antragsrechten ana-
log den Regelungen zur Patientinnen- und Patientenbeteiligung im SGB V
gesichert.

Berlin, den 12. März 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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