BT-Drucksache 16/7838

Arbeitslosengeld II unbüroktratisch berechnen und auszahlen - Rechts- und Planungssicherheit für Leistungsbeziehende schaffen

Vom 23. Januar 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7838
16. Wahlperiode 23. 01. 2008

Antrag
der Abgeordneten Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk,
Kerstin Andreae, Birgitt Bender, Dr. Thea Dückert, Britta Haßelmann, Kai Gehring,
Christine Scheel, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Dr. Harald Terpe und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Arbeitslosengeld II unbürokratisch berechnen und auszahlen –
Rechts- und Planungssicherheit für Leistungsbeziehende schaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Es war und bleibt sinnvoll, bedürftigkeitsabhängige Sozialtransfers wie das
Arbeitslosengeld II im Wesentlichen als pauschalen Betrag auszuzahlen. Ge-
genüber der früheren Sozialhilfe ist die seit 2005 praktizierte Zusammenfas-
sung der Hilfe zum Lebensunterhalt und den früheren einmaligen Leistungen
zu einem einheitlichen Zahlbetrag in zweierlei Hinsicht von Nutzen: Zum
einen bedeutet es mehr Autonomie für Leistungsbeziehende, wenn diese
selbständig Konsumentscheidungen treffen können und nicht mit detaillier-
ten Begründungen größere Anschaffungen einzeln beantragen müssen. Zum
anderen entlastet die Pauschalierung die Sozialverwaltung von aufwändigen
Einzelprüfungen. Insbesondere die Job Center sind so in die Lage, sich eher
ihrer eigentlichen Aufgabe zuzuwenden: der Integration der Leistungsbezie-
henden in den Arbeitsmarkt.

Der Deutsche Bundestag spricht sich daher für die Beibehaltung des Prinzips
pauschalierter Sozialleistungen aus.

2. Voraussetzung für die Pauschalierung von Regelleistungen ist jedoch, dass die
Regelsätze das verfassungsmäßig gebotene sozio-kulturelle Existenzmini-
mum individuell sichern. Dies bedeutet, dass die Regelleistung in ihrer Höhe
tatsächlich das Existenzminimum abdecken muss. Gleichzeitig sind – trotz
des generellen Vorrangs der Pauschalierung – individuelle Besonderheiten,
die sich nicht im Regelschema abbilden lassen, zu berücksichtigen. Dies
umfasst zum Beispiel vom Einzelnen nicht abwendbare Sonderausgaben, die
etwa durch Übergrößen bei Bekleidung entstehen. Das Prinzip der indivi-
duellen Bedarfsdeckung, das sich direkt aus dem Sozialstaatsprinzip des
Grundgesetzes ableiten lässt, darf durch die Pauschalierung nicht ausgehebelt
werden. Solange kein eigenständiger Regelsatz für Kinder und Jugendliche

existiert, sind entwicklungsbedingte Bedarfe von Kindern und Jugendlichen
ebenfalls abweichend vom Prinzip der Pauschalierung als Sachleistung zu ge-
währen.

3. Die von der Bundesregierung beschlossene und seit dem 1. Januar 2008 gül-
tige „Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberück-
sichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosen II / Sozialgeld“

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– kurz Arbeitslosengeld-II-Verordnung – widerspricht dem Grundsatz pau-
schalierter Regelleistungen.

Die neuen Regelungen der Arbeitslosengeld-II-Verordnung sehen Anrech-
nungen von vermeintlichen Einkommen auf die pauschalierte Regelleistung
vor, ohne jedoch Aufschläge für besondere Mehraufwendungen zu ermög-
lichen. So sind Verpflegungsleistungen beispielsweise im Falle von Kran-
kenhausaufenthalten auf die Regelleistungen anzurechnen, ohne dass die
besonderen Kosten, die mit einem Krankhausaufenthalt verbunden sind, be-
rücksichtigt werden können. Dies kann eine Kürzung der Regelleistung um
bis zu 35 Prozent nach sich ziehen. Damit verabschiedet sich die Bundesre-
gierung systemwidrig vom Prinzip pauschalierter Leistungen. Sie ignoriert
zudem die Zustimmung des Deutschen Bundestages vom 27. Oktober 2007
zum Beschluss des Petitionsausschusses auf Bundestagsdrucksache 16/6618,
in dem sich der Petitionsausschuss gegen die Kürzung der Regelleistung bei
einem Krankenhausaufenthalt ausspricht und den Charakter der Regelleis-
tung als pauschalierte Leistung mit dem Ziel der Gleichbehandlung aller
Hilfebedürftigen und der Verwaltungsvereinfachung unterstreicht. Die Peti-
tion wurde der Bundesregierung zur Erwägung überwiesen.

Angesichts wachsender Kinderarmut und nicht bedarfsdeckender Kinderre-
gelleistungen richten Länder, Kommunen und soziale Initiativen Sozialfonds
zur Bezuschussung von Verpflegung in Kindertagesstätten und Schulen ein.
Die Bundesregierung versäumt es nicht nur, durch die Festlegung bedarfsge-
rechter Regelsätze das soziokulturelle Existenzminimum sicherzustellen. Sie
konterkariert auch dezentrale Armutsbekämpfungsstrategien durch eine un-
bestimmt formulierte Ermächtigung zur Anrechnung von Verpflegungsleis-
tungen im Verordnungstext. Indem sie auf eine Konkretisierung der Verpfle-
gungsleistungen verzichtet, schafft sie ein Einfallstor für eine ebenfalls
systemwidrige Anrechnung von karitativen Verpflegungsleistungen in Kin-
dergärten und Schulen.

Auch im Falle der Berechnung der Einkommen von Selbständigen, die ergän-
zendes Arbeitslosengeld II beziehen, hat es die Bundesregierung nicht ver-
mocht, Bedingungen für Rechtsklarheit und Verwaltungsvereinfachung zu
schaffen. Im Gegenteil: Zukünftig soll der Abzug von Betriebsausgaben nicht
mehr nach den Maßstäben des Steuerrechtes erfolgen, sondern weitgehend
dem Ermessen der Fallmanager im Job Center unterliegen. Letzteren wird da-
mit ein weiter Ermessensspielraum über die Notwendigkeit unternehme-
rischer Entscheidungen eingeräumt. Künftig soll der Fallmanager jenseits der
Definitionen im Steuerrecht Entscheidungen darüber treffen, welche tatsäch-
lich geleisteten Betriebsausgaben notwendig sind und welche nicht. Diese
Regelung bringt einen doppelten Buchführungsaufwand für die betroffenen
Unternehmen mit sich. Sie erschwert den selbständig tätigen Leistungsbezie-
henden sich aus eigener Kraft aus dem Leistungsbezug zu befreien, verbaut
Langzeitarbeitslosen den Weg in die Selbständigkeit und belastet zusätzlich
Job Center, Widerspruchsstellen sowie Sozialgerichte. Der Deutsche Bun-
destag nimmt mit Besorgnis die Einschätzung der Bundesagentur für Arbeit
zur Kenntnis, wonach aus der Anwendung der Verordnung mehr Kosten im
Vollzug als erwartete Einsparungen resultieren werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

dem Grundsatz pauschalierter Regelleistungen Rechnung zu tragen und die
„Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung
von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosen II/Sozialgeld“ im Sinne die-
ses Grundsatzes zu überarbeiten. Insbesondere ist durch klarstellende Formulie-

rungen sicherzustellen, dass eine Anrechnung von Verpflegungsleistungen bei
stationären Aufenthalten oder Teilverpflegungen in Kindertagesstätten und

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Schulen grundsätzlich nicht auf die Regelleistungen als Einnahmen angerechnet
werden dürfen. Bei selbständig Tätigen ist zur Beurteilung der Notwendigkeit
von Ausgaben künftig wieder das Steuerrecht zum Maßstab der Bewertung tat-
sächlich notwendiger Ausgaben zu machen.

Berlin, den 23. Januar 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

1. Der Grundsatz pauschalierter Regelleistungen wurde – abweichend vom frü-
heren Sozialhilferecht – mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe (4. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt) einge-
führt. Die große Koalition hob mit dem so genannten SGB-II-Fortentwick-
lungsgesetz im Jahre 2006 dieses Prinzip in § 3 Abs. 3 des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB II) nochmals besonders hervor. Eine abweichende
Festlegung der Bedarfe ist nach dem Wortlaut des SGB II ausgeschlossen. In
der neu gefassten Arbeitslosengeld-II-Verordnung versäumt es die Bundes-
regierung, rechtliche Klarstellungen zugunsten pauschalierter Leistungen
vorzunehmen. Stattdessen öffnet sie das Tor für weitere systemwidrige Ver-
rechnungen von Zuwendungen als Einkommen. Im Falle von Verpflegungs-
leistungen bei stationären Aufenthalten wird unter Umgehung des Prinzips
der Pauschalierung der Einzelfall aber nur insoweit betrachtet, als er zum
Nachteil der Leistungsempfänger gereicht. Es wird zwar eine Verrechnung
von Verpflegungsleistungen im Krankenhaus auf die Regelleistungen vorge-
nommen. Zusätzliche Ausgaben, wie Taxifahrten oder erhöhte Telefonge-
bühren werden jedoch nicht berücksichtigt. Diese rechtlich fragwürdigen
Einzelfallprüfungen überfrachten die Job Center mit bürokratischen Einzel-
fallprüfungen. Auch die von der Bundesregierung eingeführte Bagatell-
grenze von 83 Euro schafft keine Abhilfe, da jeweils zu prüfen ist, ob sie er-
reicht wird.

Der Verzicht auf eine Konkretisierung, welche Verpflegungsleistungen anzu-
rechnen sind (§ 2 Abs. 5 ALG-II-Verordnung), wirft bei den Praktikern in den
Leistungsbehörden die Frage auf, ob sie auch zur Verrechnung mit Zuwendun-
gen aus Sozialfonds für ein kostenfreies Essen in Kindertagesstätten und Schu-
len ermächtigt. Zumindest im Falle von Familien mit mehr als einem Kind wäre
je nach Zuwendungshöhe auch schnell die Bagatellgrenze von 83 Euro über-
schritten. Statt Klarstellungen zur Nichtanrechnung karitativer Zuwendungen
beispielsweise für Schulessen zu treffen, die aufgrund versäumter Regelsatzan-
passungen immer häufiger vor Ort zur Abwendung sozialer Härten ergriffen
werden, eröffnet die Bundesregierung die Möglichkeit, Zuwendungen aus die-
sen dezentralen Hilfsmaßnahmen auf die Regelleistungen zu verrechnen.

Die durch die Verordnung forcierte Praxis der Verrechnung von Sachleistun-
gen im Einzelfall wird durch die Weigerung der Bundesregierung, das An-
passungssystem für die Regelsatzleistungen neu zu ordnen, verschärft. Das
bestehende System, den Anpassungsmechanismus an die Entwicklung der
Renten zu koppeln, hat sich als realitätsfern erwiesen. Die jüngste Regelsatz-
Anpassung zum Juli 2007 an den Rentenwert hat lediglich eine Steigerung
des Regelsatzes um 2 Euro von 345 Euro auf 347 Euro ergeben. Eine Analyse
des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtverbandes belegt, dass selbst bei Zu-
grundelegung der unzureichenden regierungsamtlichen Bedarfsermittlung

der Regelsatz heute bei 364 Euro liegen müsste, um die gestiegenen Lebens-
haltungskosten in den regelsatzrelevanten Bereichen auszugleichen. Ange-

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sichts drastischer Preissteigerungen für Energie und Lebensmittel muss in
einem transparenten Verfahren und unter Beteiligung von Armutsforschern
und Wohlfahrtsverbänden zügig eine Anpassung der Regelleistung vorge-
nommen werden.

Im besonderen Maße nicht bedarfsdeckend sind die Regelleistungen für
Kinder und Jugendliche, da diese lediglich prozentual aus den nicht bedarfs-
deckenden Regelsätzen von Erwachsenen abgeleitet werden. Die besonde-
ren entwicklungsbedingten Bedarfe von Kindern und Jugendlichen werden
im Verfahren der Regelsatzermittlung nicht berücksichtigt (vgl. Antrag
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Regelsätze bedarfsgerecht anpassen“ Bun-
destagsdrucksache 16/7113). Auch die Länder Bremen und Berlin haben
sich für eine Neubemessung der Regelleistungen nach dem SGB II und
SGB XII unter Berücksichtigung eines speziellen Kinderbedarfes ausge-
sprochen (Bundesratsdrucksache 873/07).

Beide Strategien – die Abkehr vom Prinzip pauschalierter Leistungen durch
Einzelfallkürzungen und die Weigerung die Regelsätze bedarfsgerecht anzu-
passen – führen bei hohem bürokratischen Aufwand dazu, dass die Regelleis-
tungen nicht mehr das verfassungsmäßig gebotene soziokulturelle Existenz-
minimum sichern.

2. Gängelung im Detail erfahren auch selbständig Tätige Leistungsbezieher.
Während die Zahl der Leistungsbeziehenden aufgrund der wirtschaftlichen
Entwicklung insgesamt leicht rückläufig ist, steigt die Zahl selbständig Täti-
ger, die Arbeitslosengeld-II-Leistungen beziehen. Hatten im Januar 2007
noch 56 250 ALG-II-Empfänger gleichzeitig Einkommen aus selbständiger
Arbeit, so waren es im Juli 2007 bereits 76 908 Personen. Selbständig tätige
werden aufgrund der neu gefassten Arbeitslosengeld-II-Verordnung künftig
eine „doppelte Buchführung“ ganz eigener Art benötigen: eine für das
Finanzamt und eine für die Sozialbehörde. Bisher lehnten sich die Kriterien
zur Berechnung des Einkommens von selbständig Tätigen eng an das Steuer-
recht an. Als Einkommen galt der Gewinn im Sinne des Einkommensteuer-
gesetzes. Seit dem 1. Januar 2008 wird die Ermittlung des für das Arbeits-
losengeld II anzurechnenden Einkommens von der Gewinnermittlung für das
Finanzamt abgekoppelt. Maßgebend ist nicht mehr das Steuerrecht. Die
Bundesregierung hat in § 3 Abs. 2 ALG-II-Verordnung die Entscheidung
darüber, ob eine Betriebsausgabe notwendig ist oder nicht, in die Hände des
Fallmanagers gelegt. Sie schafft auf dem Verordnungsweg einen weiten
Handlungsspielraum für die Sozialbehörden – obwohl der Zweck einer Ver-
ordnung eigentlich in der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe
liegt. Schon heute ist abzusehen, dass dieser erweiterte Ermessensspielraum
über Jahre die Sozialgerichte belasten wird. Wenn künftig der Fallmanager
über die Notwendigkeit einer Betriebsausgabe entscheidet, wird flexibles un-
ternehmerisches Handeln im Keim erstickt. Den Betroffenen wird die not-
wendige Handlungsfreiheit genommen, um sich selbst aus dem Leistungs-
bezug zu befreien.

3. Die Leistungsbeziehenden werden mit Behördengängen und – mangels be-
darfsgerechter Regelsätze – dem Kampf ums tägliche Überleben statt mit
Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration beschäftigt. Aufgrund der – von der
Idee des Sozialmissbrauchs geleiteten – Strategie der bürokratischen Detail-
steuerung verbleiben für das eigentliche Ziel der Arbeitsmarktreform, die
Integration Langzeitarbeitsloser in den Arbeitmarkt, immer weniger Res-
sourcen. Deshalb bedarf es grundsätzlicher rechtlicher Klarstellungen zur
Minimierung von Einzelfallprüfungen und eines Bekenntnisses zum Grund-
satz pauschalierter Leistungen bei gleichzeitiger Wahrung des Anspruchs auf
besonders gerechtfertigte Mehraufwendungen.

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