BT-Drucksache 16/7836

Medienabhängigkeit bekämpfen - Medienkompetenz stärken

Vom 23. Januar 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7836
16. Wahlperiode 23. 01. 2008

Antrag
der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Harald Terpe, Ekin Deligöz, Kai Gehring,
Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann, Priska Hinz (Herborn), Krista Sager,
Dr. Uschi Eid, Elisabeth Scharfenberg und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Medienabhängigkeit bekämpfen – Medienkompetenz stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Medien nehmen einen immer größeren Teil des Alltags ein, sowohl bei der
Arbeit als auch im Privatleben. Viele Arbeiten und Arbeitsabläufe sind ohne
Computer und E-Mail nicht mehr vorstellbar. Das Internet hat für eine deutliche
Zunahme von Kommunikationsformen und verfügbaren Inhalten gesorgt. Me-
dienkonsum kann heute individueller denn je erfolgen. Viele Menschen aber
profitieren von diesen Möglichkeiten nicht mehr nur – nämlich dann, wenn ihr
Umgang mit Medien nicht mehr selbstbestimmt ist, Medien für sie zu einem
Suchtmittel geworden sind. So gelten beispielsweise etwa 3 bis 6 Prozent aller
Internetnutzerinnen und - nutzer als onlinesüchtig und noch einmal so viele als
stark suchtgefährdet (siehe u. a. Studie von te Wildt 2006, Medizinische Hoch-
schule Hannover). Auch andere Formen der Mediensucht wie z. B. die über-
mäßige Teilnahme an Chats oder Onlinespielen oder der übermäßige Konsum
von Pornografie im Internet werden von Suchtberatungsstellen zunehmend fest-
gestellt.

Der Deutsche Bundestag erkennt das Potential von Medien an, sieht aber auch
die Abhängigkeitsgefahren. Die Auslöser, Mechanismen und Symptome glei-
chen denen anderer nicht stoffgebundener Suchterkrankungen: Durch den Kon-
sum bestimmter Medienangebote wird das körpereigene Belohnungssystem in
Gang gesetzt. Der damit einhergehende Dopaminausstoß führt zu einem gefühl-
ten Erfolgserlebnis, auf das manche nicht mehr verzichten können. Zu den typi-
schen Abhängigkeitssymptomen gehören ein unkontrollierter, stundenlanger
Konsum, die stetige Erhöhung der „Dosis“, eine ständige gedankliche Beschäf-
tigung mit dem Suchtverhalten, misslingende Reduzierungsversuche sowie Ent-
zugserscheinungen beispielsweise in Form von Aggressivität, wenn das Sucht-
mittel einmal nicht zur Verfügung steht. Die negativen Folgen einer Medienab-
hängigkeit sind – wie bei anderen Abhängigkeitserkrankungen auch – nicht nur
psychischer Natur, sondern erstrecken sich auch auf die körperliche Gesundheit
und das soziale Umfeld der Betroffenen: Die Betroffenen vernachlässigen ihre

eigenen Bedürfnisse, ihre beruflichen bzw. schulischen Verpflichtungen und
ihre sozialen Kontakte. Sie verheimlichen und bagatellisieren das eigene Sucht-
verhalten und geraten mitunter sogar in finanzielle Verschuldung.

In Gesellschaft und Wissenschaft wird Medienabhängigkeit bislang nur unzu-
reichend thematisiert. Sie ist kaum Bestandteil wissenschaftlicher Forschung.
Medienabhängigkeit ist nicht als eigenständige Suchtform anerkannt. Nur we-

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nige Einrichtungen bieten Beratungen und Therapiemöglichkeiten für Betrof-
fene an.

Der Deutsche Bundestag betrachtet Medienabhängigkeit als eine eigenständige,
nicht stoffgebundene Suchtform und hält daher eine Anerkennung als Erkran-
kung nach dem Diagnoseschlüssel ICD der Weltgesundheitsorganisation für
notwendig. Darüber hinaus bedarf es einer umfassenden Erforschung des
Krankheitsbildes.

Der Deutsche Bundestag sieht diejenigen, die solche Medieninhalte konzipieren
und anbieten, die Abhängigkeit verursachen oder zumindest fördern können,
auch in der Pflicht, Maßnahmen zum Schutz vor diesen Abhängigkeiten zu er-
greifen. Eine besondere Abhängigkeitsgefahr sieht der Deutsche Bundestag in
Online-Rollenspielen. Suchtpotential haben vor allem der ununterbrochene
Spielverlauf und die Spielkonzeption, die ein Weiterkommen der Spielerinnen
und Spieler nur ermöglicht, wenn sie in Form von Gilden agieren. So wird eine
Bindung an das Spiel hergestellt, der sich insbesondere jüngere Menschen oft
nur schwer entziehen können. Daher bedarf es nach Ansicht des Deutschen Bun-
destages eines Bündels von Maßnahmen, die das Bewusstsein über den Spiel-
konsum schärfen. Dazu gehören Warnhinweise, die auf das Suchtpotential hin-
weisen, sowie verpflichtende Spieldauereinblendungen, die die Spielerinnen
und Spieler regelmäßig auf die bereits verstrichene Spielzeit hinweisen. Er-
wachsene sollten die Möglichkeiten erhalten, eigene Spielzeitkontingente für
sich und ihre Kinder festzulegen. Für Minderjährige sollte die wöchentliche
Spielzeit aus Gründen des Jugendschutzes begrenzt werden.

Maßgeblich bei der Bekämpfung von Medienabhängigkeit bleibt aus Sicht des
Deutschen Bundestages die stetige Vermittlung von Medienkompetenz. Kinder
und Jugendliche lernen heute schon früh, Mediengeräte zu bedienen. Dieser
technischen Kompetenz steht in vielen Fällen aber keine ausreichende Kompe-
tenz im kritischen, selbstbestimmten Umgang mit Medien gegenüber. Auch Er-
wachsene sind sich oftmals des möglichen Schadens, der durch den exzessiven
Konsum bestimmter Medienformen ausgelöst wird, nicht bewusst. Eltern und
Erziehungsberechtigten fehlt mitunter die Fähigkeit oder der Wille, den Medien-
konsum von Kindern und Jugendlichen sinnvoll zu reglementieren. Deshalb
muss nach Meinung des Deutschen Bundestages die Vermittlung von Medien-
kompetenz schulisch und außerschulisch auch dort erheblich gesteigert werden,
wo dies noch nicht oder nur unzureichend passiert. Hier stehen Eltern, Bildungs-
einrichtungen und Arbeitgeber in der Pflicht: Eltern muss bewusst sein, dass sie
eine zentrale Rolle bei der Entwicklung des Medienkonsums ihrer Kinder spie-
len. Dafür ist es erforderlich, dass sie über Inhalt und technische Voraussetzun-
gen von Medienangeboten, wie z. B. Chats oder Computerspielen, Kenntnis
erlangen. Kindergärten, Schulen und Jugendeinrichtungen sollten die Vermitt-
lung von Medienkompetenz flächendeckend zum festen Bestandteil ihres Bil-
dungsauftrages machen. Auch Arbeitgeber sollten im Rahmen der Arbeitsplatz-
gestaltung und der beruflichen Weiterbildung die Medienkompetenz ihrer Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter stärken. Die Schulung von Suchtberaterinnen und
Suchtberatern sowie Therapeutinnen und Therapeuten, die den Betroffenen und
ihren Angehörigen zur Seite stehen, muss vorangetrieben werden, damit diese
Medienabhängigkeit besser erkennen und behandeln können.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Erforschung des Krankheitsbildes Medienabhängigkeit voranzutreiben
und entsprechende Haushaltsmittel dafür bereitzustellen;

2. sich gegenüber der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bei der Revision der
Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) für eine Aufnahme

des Krankheitsbildes Medienabhängigkeit einzusetzen;

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3. sich gegenüber den Bundesländern und Gemeinden für den Ausbau von Be-
ratungs- und Therapiemöglichkeiten für von Medienabhängigkeit Betroffene
einzusetzen;

4. sich dafür einzusetzen, dass das Krankheitsbild Medienabhängigkeit in die
Aus- und Weiterbildung von Suchtberaterinnen und Suchtberatern sowie
Therapeutinnen und Therapeuten integriert wird und diese entsprechend
fachlich und technisch geschult werden;

5. Maßnahmen zu ergreifen, die dem Suchtpotential von Online-Rollenspielen
entgegenwirken, und diese gegebenenfalls gesetzlich festzuschreiben. Hierzu
zählen:

a) verpflichtende Warnhinweise, die das Suchtpotential dieser Spiele deut-
lich machen,

b) verpflichtende Spieldauereinblendungen, die die Spielerinnen und Spieler
regelmäßig auf die bereits verstrichene Spielzeit hinweisen,

c) die Möglichkeit zur Festlegung eigener Spielzeitkontingente,

d) die Begrenzung der wöchentlichen Spielzeit für Minderjährige;

6. die Vermittlung von Medienkompetenz schulisch und außerschulisch dort
voranzutreiben, wo dies noch nicht geschieht, und auf die zuständigen Stellen
entsprechend einzuwirken. Dazu zählt:

a) auf die Bundesländer und Gemeinden einzuwirken, die Vermittlung von
Medienkompetenz verstärkt zum Bestandteil der Lerninhalte in Kinder-
gärten, Schulen und Jugendeinrichtungen zu machen,

b) die Vermittlung von Medienkompetenz verstärkt zum Bestandteil der
beruflichen Aus- und Weiterbildung zu machen.

Berlin, den 23. Januar 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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