BT-Drucksache 16/7789

Arbeitskampfrecht in Deutschland

Vom 16. Januar 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7789
16. Wahlperiode 16. 01. 2008

Große Anfrage
der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Dr. Karl Addicks, Christian
Ahrendt, Uwe Barth, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Mechthild
Dyckmans, Jörg van Essen, Ulrike Flach, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth),
Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß, Dr. Christel
Happach-Kasan, Heinz-Peter Haustein, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer,
Michael Kauch, Hellmut Königshaus, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Heinz
Lanfermann, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Horst Meierhofer, Hans-Joachim Otto
(Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Jörg Rohde, Frank Schäffler, Marina
Schuster, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Rainer Stinner, Florian Toncar, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Martin Zeil, Dr. Guido
Westerwelle und der Fraktion der FDP

Arbeitskampfrecht in Deutschland

Die Streiks der jüngsten Zeit und Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts zur
Zulässigkeit von Sympathiestreiks vom 19. Juni 2007 und zur Zulässigkeit von
Streiks um tarifliche Sozialpläne vom 24. April 2007 haben grundsätzliche Fra-
gen des Streikrechts aufgeworfen.

Das Bundesarbeitsgericht hat in seiner Entscheidung zu den Streiks um tarif-
liche Sozialpläne den Gewerkschaften zugestanden, einen tariflichen Sozialplan
zu fordern mit dem die wirtschaftlichen Nachteile einer Standortverlagerung
oder Betriebsschließung ausgeglichen werden sollen. Diese dürfen im Gegen-
satz zu den Betriebsräten für die Durchsetzung dieser Forderung auch zum
Streik aufrufen. Konsequenz für die betroffenen Unternehmen wird sein, dass
die Umsetzung von Standortentscheidungen zukünftig teurer und langwieriger
wird.

Mit seiner Entscheidung zu der Zulässigkeit von Sympathiestreiks hat das Bun-
desarbeitsgericht den Gewerkschaften zugestanden, in Betrieben zu Streiks auf-
zurufen, die nur der Unterstützung eines Arbeitskampfes in einem anderen Un-
ternehmen dienen. Damit ist das Bundesarbeitsgericht von seinen bisherigen
Grundsätzen zum Sympathiestreik abgewichen, nach denen Sympathiestreiks in
der Regel als rechtswidrig beurteilt wurden, da sie sich nicht gegen den Tarif-
partner richten, mit dem ein Tarifvertrag abgeschlossen werden solle.
Es stellt sich grundsätzlich die Frage, ob das deutsche Tarifrecht grundlegend
überarbeitet und reformiert werden muss.

Drucksache 16/7789 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

I. Zur Entwicklung des Streikgeschehens in der Bundesrepublik
Deutschland

1. Wie hat sich das Streikgeschehen in den letzten zehn Jahren in der Bundes-
republik Deutschland entwickelt?

2. Wie ist diese Entwicklung im internationalen Vergleich zu bewerten?

3. Sind zwischen den Branchen Unterschiede zu erkennen?

4. Wie viele Arbeitnehmer haben in den letzten zehn Jahren jeweils auf das
Jahr betrachtet an Arbeitskampfmaßnahmen teilgenommen?

5. Wie häufig kam es zu Aussperrungen als Reaktion der Arbeitgeber auf einen
Streik?

6. Falls von der Möglichkeit der Aussperrung in den letzten Jahren seltener
Gebrauch gemacht wurde, worauf führt die Bundesregierung die geringe
Bereitschaft der Unternehmen zurück, im Rahmen von Arbeitskämpfen zu
Aussperrungen zu greifen?

7. Wie häufig sind nicht unmittelbar bestreikte Unternehmen von Arbeits-
kämpfen betroffen?

8. Hat sich die Betroffenheit nicht unmittelbar bestreikter Unternehmen in den
letzten zehn Jahren verändert?

9. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die in den letzten Jahren ge-
führten Arbeitskämpfe als letztmögliches Mittel („Ultima Ratio“) genutzt
wurden, wie es die Rechtsprechung fordert?

10. Wie beurteilt die Bundesregierung die so genannten Warnstreiks unter dem
Gesichtspunkt des Ultima-Ratio-Prinzips?

II. Zu den wirtschaftlichen Auswirkungen von Arbeitskämpfen

11. Haben Arbeitskämpfe eine zunehmende gesamtwirtschaftliche Relevanz?

12. Liegen Informationen über Schäden nicht unmittelbar Betroffener (sog.
Drittschäden) vor?

13. Wie hoch ist der durch Arbeitskämpfe verursachte volkswirtschaftliche
Schaden?

14. Gibt es Erkenntnisse über das Verhältnis der durch Arbeitskämpfe verur-
sachten unmittelbaren und mittelbaren Kosten und dem durch die Arbeits-
kampfmaßnahme erzielten Tarifergebnis?

III. Zum rechtlichen Rahmen des Arbeitskampfrechts in der
Bundesrepublik Deutschland

15. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass das Fehlen gesetzlicher Rege-
lungen der Bedeutung von Arbeitskonflikten gerecht wird?

16. Entspricht es der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Arbeitskampfrechts,
seine Ausgestaltung ausschließlich den Gerichten zu überlassen?

17. Falls Arbeitskämpfe zugenommen haben – könnte diese Entwicklung durch
gesetzliche Regelungen begrenzt werden?

18. Wie viele Arbeitskämpfe sind Gegenstand von gerichtlichen Verfahren
(einstweiliger Rechtsschutz/Hauptsacheverfahren) innerhalb der letzten

zehn Jahre?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/7789

19. Bietet die Rechtsprechung noch ausreichend Rechtssicherheit hinsichtlich
der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen?

20. Wie wirkt sich nach Ansicht der Bundesregierung die Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts zu den Unterstützungsstreiks bzw. zum Streik um
einen Sozialplantarifvertrag auf das System des Flächentarifvertrages aus?

21. Hat die Rechtsprechung die Arbeitskampfparität zulasten der Arbeitgeber
verschoben,

a) durch den engen rechtlichen Rahmen zur Zulassung von Abwehrmaß-
nahmen, insbesondere der Aussperrung;

b) durch den großzügigen Umgang mit dem Grundsatz der Verhältnismä-
ßigkeit;

c) durch die Zulassung von Unterstützungsstreiks;

d) durch die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts, dass Tarifforderungen
der Gewerkschaften grundsätzlich keiner Kontrolle unterworfen sind?

IV. Auftreten neuer Formen von Gewerkschaften

22. Sieht die Bundesregierung eine zunehmende Bestrebung von einzelnen Be-
rufsgruppen, sich in Spartengewerkschaften zu organisieren?

23. Gefährden Arbeitskämpfe von Spartengewerkschaften die Tarifautonomie?

24. Kann der durch Spartengewerkschaften verursachte Arbeitsausfall erfasst
werden?

25. Hat es für die Bundesregierung Einfluss auf die Verhältnismäßigkeit des
Streiks einer Spartengewerkschaft, dass nur für einen zum Teil sehr kleinen
Kreis der Beschäftigten eines Unternehmens ein Tarifabschluss angestrebt
wird?

26. Sollten Arbeitskämpfe als unverhältnismäßig gelten, wenn bereits ein alle
Beschäftigten erfassender Tarifvertrag besteht?

27. Sollte eine gesetzliche Regelung vorsehen, dass Arbeitskämpfe spezialisier-
ter Spartengewerkschaften, deren Ergebnis nur einer Minderheit der Beleg-
schaft zugute kommt, unverhältnismäßig sind?

28. Ist die gesetzliche Klarstellung des richterrechtlichen Grundsatzes der Tarif-
einheit erstrebenswert?

V. Zu weiteren Regelungen im Arbeitskampfrecht

29. Ist die gesetzliche Regelung einer Abkühlungsphase vor bzw. während
eines Arbeitskampfes („cooling off“ Phase) sinnvoll?

30. Ist die gesetzliche Einführung eines Zwangs zur Einlassung auf ein nicht
staatliches Schlichtungsverfahren (verstanden als Zwang zur Verhandlung,
nicht: Zwang zum Ergebnis) sinnvoll?

31. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass Arbeitskämpfe auch dann zu-
lässig sind, wenn sie eine erhebliche Beeinträchtigung für die Allgemeinheit
mit sich bringen (zum Beispiel in den Bereichen Bahn, Post, Telekommuni-
kation)?

32. Wie kann nach Auffassung der Bundesregierung eine Mindestversorgung in
folgenden Bereichen sichergestellt werden: Nahrung und Gesundheit, Ener-
gie und Wasser, Verkehr, Post, Fernmeldewesen, Rundfunk und Fernsehen,
Feuerwehr, Bestattung, Müllbeseitigung, Landesverteidigung und Innere

Sicherheit?

Drucksache 16/7789 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
33. Hält es die Bundesregierung für notwendig, bei Arbeitskämpfen eine ge-
setzliche Ankündigungsfrist vorzusehen von mindestens

a) sieben Tagen in den in Frage 32 genannten Bereichen,

b) drei Tagen in allen anderen Fällen?

34. Ist darüber hinaus eine gesetzliche Regelung zur Verpflichtung von Not-
stands- und Erhaltungsarbeiten im Rahmen eines Arbeitskampfes erforder-
lich?

35. Muss die Zulässigkeit von Arbeitskämpfen wegen des Gebots der Verhält-
nismäßigkeit an Belangen des Gemeinwohls gemessen werden?

36. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass Arbeitskämpfe nach Ablauf
der Friedenspflicht, aber noch während laufender Tarifverhandlungen
(„Warnstreiks“) verhältnismäßig sind?

37. Falls Frage 36 bejaht wird: Hält es die Bundesregierung für sinnvoll, für so
genannte Warnstreiks eine Begrenzung etwa der Dauer oder der Ausfall-
stunden vorzunehmen?

38. Bedarf es einer gesetzlichen Regelung, dass Sympathiestreiks/Unterstüt-
zungsstreiks unzulässig sind?

39. Ist nach Auffassung der Bundesregierung das in § 74 Abs. 2 Satz 1 des Be-
triebsverfassungsgesetzes (BetrVG) geregelte Streikverbot für Betriebsräte
ausreichend vor allem vor dem Hintergrund, dass Betriebsräte als Gewerk-
schaftsmitglieder bereits im Vorfeld eines Arbeitskampfes Informationen
weitergeben können?

40. Wie beurteilt die Bundesregierung eine Klarstellung der Beteiligungsrechte
des Betriebsrats dergestalt, dass ein Beteiligungsrecht des Betriebsrats dann
nicht besteht, wenn ein unmittelbarer oder mittelbarer Bezug zu einem be-
vorstehenden oder laufenden Arbeitskampf besteht?

41. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass zum Schutz der Tarifautono-
mie eine absolute Friedenspflicht sinnvoll ist und daher Arbeitskämpfe
wegen Haustarifverträgen oder unternehmensbezogenen Verbandstarifver-
trägen gegen Arbeitgeber, die Mitglied in einem tarifschließenden Arbeit-
geberverband sind, grundsätzlich untersagt werden müssen?

42. Falls die Bundesregierung der Auffassung ist, dass ein solcher Ausschluss
des Arbeitskampfes nicht gewollt ist, sollte im Betriebsverfassungsgesetz
eine Regelung aufgenommen werden, die für den Fall eines Arbeitskampfes
um einen Sozialplantarifvertrag die Rechte des Betriebsrates aus §§ 111 ff.
BetrVG suspendiert?

Berlin, den 16. Januar 2008

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.