BT-Drucksache 16/7471

Gesundheitsförderung und Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgaben stärken - Gesellschaftliche Teilhabe für alle ermöglichen

Vom 12. Dezember 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7471
16. Wahlperiode 12. 12. 2007

Antrag
der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Diana Golze, Katja Kipping,
Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Gesundheitsförderung und Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgaben
stärken – Gesellschaftliche Teilhabe für alle ermöglichen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Eine zentrale Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe und Selbst-
bestimmung jedes Einzelnen ist Gesundheit. Sie wird nicht nur durch eigenver-
antwortliches Handeln erhalten und gefördert, sondern ist auch ganz wesentlich
ein Produkt der gesellschaftlichen und ökologischen Rahmenbedingungen.

Einen entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit hat die soziale Lage. Es ist
bekannt, dass Personen mit einer geringeren Bildung, einer niedrigen beruf-
lichen Stellung und/oder einem geringen Einkommen in der Regel früher ster-
ben. Gleichzeitig leiden sie häufiger an chronischen Erkrankungen und den da-
mit verbundenen Auswirkungen auf die Lebensqualität. Je höher die soziale
Schicht, desto geringer ist dagegen die Wahrscheinlichkeit, frühzeitig zu erkran-
ken bzw. zu sterben (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwick-
lung im Gesundheitswesen: Gutachten 2007).

Eine Trendwende ist unter den gegebenen Bedingungen nicht zu erwarten. Ganz
im Gegenteil: Die Schere zwischen Arm und Reich geht sogar zunehmend
auseinander mit den damit verbundenen Auswirkungen auf die Gesundheits-
chancen. Äußerst bedenklich ist, dass vor allem Kinder von Armut betroffen
sind und einem immer höheren Armutsrisiko unterliegen.

Die Aufgabe, die soziale Ungleichheit der Gesundheitschancen zu verringern,
kann von der Gesundheitspolitik nicht allein bewältigt werden: Gesundheits-
politik kann immer nur einen Teil der sozial bedingten ungleichen Gesund-
heitschancen kompensieren. Die Einflüsse des Arbeitsmarktes, der Einkom-
mensverteilung und der Bildungspolitik sind so groß, dass Prävention allenfalls
nur Gegenakzente setzen kann. Nur eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik
vermag es, sichere, anregende, befriedigende und angenehme Arbeits- und
Lebensbedingungen herzustellen und Wohlbefinden umfassend zu fördern. Ge-

sundheitsförderung muss daher eine Aufgabe aller Politikbereiche sein und vor
allem in der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Sozial-, Bildungs-,
Sport-, Umwelt-, Verkehrs- und Wohnungspolitik umgesetzt werden.

Es sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, die verändert werden müssen, um
die zentralen Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit beseitigen zu können. Ein
wichtiger Bestandteil einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik ist ein mo-
dernes und vorausschauendes Gesundheitswesen. Die Bundesrepublik Deutsch-

Drucksache 16/7471 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

land verfügt zwar über eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung,
jedoch ist das Gesundheitswesen bislang zu einseitig auf Akutmedizin ausge-
richtet. Chronische Krankheiten und ihre Entstehungsmechanismen werden
vom bundesdeutschen Gesundheitswesen dagegen viel zu wenig bekämpft. Die
Stärkung der Prävention ist daher dringend erforderlich, um dieser Entwicklung
entgegenwirken zu können.

Ein Präventionsgesetz ist längst überfällig. Es gibt zahlreiche Modellprojekte,
Initiativen, Programme und Aktionen im Bereich der Prävention. Doch die dort
gewonnenen Erkenntnisse und positiven Erfahrungen werden meist nicht bzw.
nur ungenügend genutzt und weiterentwickelt. Es fehlt an Koordinierung und
Nachhaltigkeit. Für eine wirksame Präventionspolitik muss endlich eine funk-
tionsfähige, flächendeckende Infrastruktur geschaffen werden, um vom Aktio-
nismus hin zur Verstetigung zu kommen. Gesundheitsförderung und Prävention
sind zur ersten Säule der Gesundheitssicherung auszubauen und der Kuration,
Rehabilitation und Pflege voranzustellen.

Prioritäres Ziel eines Präventionsgesetzes muss sein, die sozial-, geschlechts-
und migrationsbedingte Ungleichheit der Gesundheitschancen zu verringern.
Eine zentrale Voraussetzung hierfür ist, dass Gesundheitsförderung und Präven-
tion so früh wie möglich ansetzen. Denn die Ursachen der meisten Krankheiten
liegen in früheren Lebensjahren, sodass die gesundheitliche Lage im Kindesalter
langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit eines Menschen haben kann.

Aufklärung, Information und Beratung allein reichen für eine erfolgreiche Prä-
ventionspolitik nicht aus. Sie appellieren zumeist an die Eigenverantwortung der
Menschen, blenden zum Teil den Alltag und die Realität der Menschen aus und
gehen dadurch zentrale Ursachen von Gesundheitsrisiken und -chancen nicht an.

Viele Einflüsse auf die persönliche Gesundheit gehen von der alltäglichen Um-
welt aus. Gefragt sind daher Ansätze, die in den Lebenswelten der Menschen
wirken. Damit die Attraktivität der jeweiligen Angebote erhöht und ihre Wirk-
samkeit und Nachhaltigkeit gewährleistet werden, müssen die Menschen an der
Planung, Gestaltung und Umsetzung aktiv beteiligt werden. Partizipation wird
damit zur Schlüsselgröße von Gesundheitsförderung und Prävention.

Damit Gesundheitsförderung und Prävention zum Fundament der Gesundheits-
politik werden, ist ein Präventionsgesetz dringend erforderlich. Obwohl die
Bundesministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt, Ende November 2007 den
Bundestagsfraktionen einen Referentenentwurf für ein Präventionsgesetz zuge-
leitet hat, dauern die Streitigkeiten innerhalb der Koalition weiter an. Eine Eini-
gung ist nicht in Sicht und ein Scheitern des Präventionsgesetzes nicht mehr aus-
zuschließen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. schnellstmöglich einen Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Gesund-
heitsförderung und Prävention vorzulegen, der folgende Eckpfeiler umfasst:

a) eine Ziel- und Umfangsbestimmung von Gesundheitsförderung und Prä-
vention in folgendem Sinne:

● Gesundheitsförderung und Prävention werden als gesamtgesellschaft-
liche Aufgaben anerkannt und dementsprechend ausgestaltet.

Der Aufbau einer neuen, ersten Säule „Gesundheitsförderung und Prä-
vention“ der Gesundheitssicherung, die der Kuration, Rehabilitation
und Pflege vorangestellt wird, ist zu gewährleisten.

● Die Strategie des Gender Mainstreamings ist verbindlich in der Ge-

sundheitsförderung und Prävention zu verankern.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/7471

● Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention sollen die Ge-
sundheitschancen der gesamten Bevölkerung verbessern, aber prioritär
dazu beitragen, die sozial-, geschlechts- und migrationsbedingte Un-
gleichheit von Gesundheitschancen zu verringern; dazu sind konkrete
quantitative Zielvorgaben festzulegen.

● Alle Präventionsmaßnahmen sind an bundeseinheitlichen Präventions-
zielen auszurichten und für alle an der Prävention Beteiligten verbind-
lich.

● Die Unterstützung von Leistungen der Verhaltensprävention ist davon
abhängig zu machen, ob ihre Wirksamkeit wissenschaftlich hinrei-
chend belegt ist.

● Eine deutliche Stärkung der lebensweltbezogenen Prävention ist vor-
zunehmen. Zwei Drittel der Ausgaben für nichtmedizinische Primär-
prävention müssen in Projekte und Programme der lebensweltbezoge-
nen Prävention fließen.

● Zu berücksichtigen ist, dass Gesundheitsförderung und Prävention so
früh wie möglich ansetzen müssen, da im Kindes- und Jugendalter die
zentralen Weichenstellungen für die gesundheitliche Entwicklung im
weiteren Lebenslauf gestellt werden. Dennoch sollte Gesundheitsför-
derung und Prävention von jung bis alt organisiert werden.

● Die Qualitätssicherung muss verbindlich werden: ihre Befunde sind
zentral zur Qualitätsverbesserung und Wirkungsmessung auszuwerten;

b) eine Organisationsstruktur in folgender Richtung:

● Es ist eine Koordinierungs- und Entscheidungsstelle auf Bundesebene
zu schaffen, die organisatorisch an die Bundeszentrale für gesundheit-
liche Aufklärung angebunden wird und über eigene finanzielle Mittel
im Rahmen eines Fonds verfügt. Dem Gremium gehören Vertreterin-
nen und Vertreter der Wissenschaft, aller Finanzierungsträger, der
Ärzteschaft, des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), des
Bundesrats, der kommunalen Spitzenverbände sowie von Patienten-
und Selbsthilfeorganisationen an. Zentral werden so bundeseinheit-
liche und verbindliche Präventionsziele festgelegt, Empfehlungen für
die Weiterentwicklung der Präventionsforschung gegeben und die
Qualitätsberichte zusammengeführt.

● Es sind Strategien zu entwickeln, wie partizipative Entscheidungs-
strukturen von der Konzeption von Projekten und Programmen der
Gesundheitsförderung und Prävention bis hin zur Qualitätssicherung
gewährleistet werden können.

● Vorhandene bewährte Strukturen auf Landes- und kommunaler Ebene
sind so weiterzuentwickeln, dass sinnvolle und integrierende Präven-
tionsmaßnahmen verstetigt und damit institutionell anerkannt werden
können. Der Grad der Vernetzung ist zu erhöhen.

● Ein Präventionsbericht ist von der Koordinierungs- und Entschei-
dungsstelle auf Bundesebene alle vier Jahre dem Bundestag und Bun-
desrat vorzulegen;

c) folgende Prämisse in der Finanzierung:

● Die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Gesundheitsförderung
und Prävention muss in der Finanzierung zum Ausdruck kommen.
Bund, Länder und Kommunen müssen sich ebenso wie die Sozialver-
sicherungszweige und die Private Kranken- und Pflegeversicherung

Drucksache 16/7471 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

beteiligen. Zusätzlich sind zum Start aus dem Bundeshaushalt in den
nächsten vier Jahren jeweils 1 Mrd. Euro an den Fonds zu überweisen.

● Von den Gesamtmitteln können 75 Prozent von der kommunalen Ebene
abgerufen werden, das entspricht dem Ansatz, die Entscheidungen im
Gesundheitswesen zu demokratisieren. Die Landes- und kommunalen
Mittel sind generell zur Kofinanzierung einzusetzen.

● Nach Abschluss der Aufbauphase ist der Finanzierungsbeitrag des
Bundes für die Folgejahre festzulegen.

● Zu prüfen ist, ob über eine zweckgebundene Abgabe die (Verur-
sacher-)Industrie beteiligt werden kann;

2. eine umfassende und systematische Forschungsstrategie zur Verringerung
der gesundheitlichen Ungleichheit zu entwickeln, deren Programme finan-
ziell abgesichert und mit hoher Qualität und Transparenz durchgeführt wer-
den;

3. für das Ziel einer gesundheitlichen Chancengleichheit eine gesundheitsför-
derliche Gesamtpolitik zu entwickeln, die darauf zielt, die Ursachen sozialer
Ungleichheit und Armut zu beseitigen. Gleichzeitig sind die Gesetzentwürfe,
die einen Einfluss auf die Gesundheit haben könnten, einer Prüfung hinsicht-
lich ihrer Auswirkungen auf die gesundheitliche Ungleichheit zu unterzie-
hen.

Berlin, den 11. Dezember 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Auf dem Gebiet der primären Prävention besteht in Deutschland eine erhebliche
Unterversorgung. Dies hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Ent-
wicklung im Gesundheitswesen bereits in seinen früheren Gutachten konstatiert
und sich in seinem diesjährigen Gutachten für die Verabschiedung eines Präven-
tionsgesetzes in dieser Legislaturperiode ausgesprochen. Seines Erachtens soll-
ten Interventionen in der Regel fünf Anforderungen genügen. Sie sollten

1. sich nicht nur darauf konzentrieren, gesundheitliche Belastungen zu senken,
sondern auch gesundheitliche bzw. gesundheitsdienliche Ressourcen stärken,

2. nicht nur krankheitsspezifische, sondern auch unspezifische Belastungen und
Ressourcen beeinflussen,

3. auf eine Veränderung der Lebenswelten in Richtung Gesundheitsförderlich-
keit zielen und

4. die Zielgruppen so umfassend wie möglich von der Konzeption bis zur Qua-
litätssicherung beteiligen.

Schließlich sollen im Falle von komplexen Präventionsprojekten in Lebenswel-
ten auch „viel versprechende“ Interventionen gefördert werden.

Auf der Grundlage dieser Empfehlungen soll der quantitative und qualitative
Ausbau von Gesundheitsförderung und Prävention erfolgen. Während die Pri-
märprävention Maßnahmen und Strategien bezeichnet, die darauf zielen, be-
stimmte Erkrankungen zu vermeiden bzw. ihre Eintrittswahrscheinlichkeit zu

senken, unterstreicht der Begriff der Gesundheitsförderung ausdrücklich den

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/7471

Aspekt der Ressourcenstärkung. Gemäß der Ottawa-Charta von 1986 zielt die
Gesundheitsförderung in ihrer Gesamtheit auf die Förderung umfassenden
Wohlbefindens und verdeutlicht damit das Erfordernis einer integrierten Hand-
lungsstrategie. Angesichts des engen Zusammenhangs von Gesundheit und
sozialer Ungleichheit sind die sozialen Determinanten von Gesundheit in den
Blick zu nehmen.

Diese Erkenntnis wird auch von der Bundesregierung weitgehend ausgeblendet.
Sie bekämpft nicht die zentralen Ursachen der stark unterschiedlichen Gesund-
heitschancen. Ganz im Gegenteil: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verdie-
nen gegenwärtig real gerade so viel wie vor 15 Jahren. Die Lohnquote sinkt seit
Jahren. Zudem schützt Erwerbstätigkeit nicht mehr ausreichend vor Armut: So
sind immer mehr Vollzeiterwerbstätige ergänzend zu ihrem Einkommen auf
Arbeitslosengeld II angewiesen. Die Armutsrisikoquote weist – so der zweite
Armuts- und Reichtumsbericht – einen kontinuierlichen Anstieg auf. Betroffen
sind vor allem Kinder. Rund 2,6 Millionen von ihnen leben bereits in Armut.
Gleichzeitig findet eine starke Vermögenskonzentration statt, wie eine Studie
des DIW Berlin vom November 2007 aufzeigt. Demnach verfügen rund zwei
Drittel der Bevölkerung ab 17 Jahren über kein oder nur ein sehr geringes Ver-
mögen, während 10 Prozent der Bevölkerung fast zwei Drittel des Vermögens
besitzen. Zudem sind wir von einer Chancengleichheit im Bildungssystem weit
entfernt: In keinem anderen Industrieland entscheidet die soziale Herkunft so
stark über die Bildungschancen und damit sowohl über die späteren Lebens- und
Arbeitsbedingungen als auch über die Gesundheitschancen wie in Deutschland.

In welchem Umfang bereits zum heutigen Zeitpunkt prekäre Lebensbedingun-
gen einen entscheidenden Einfluss auf den Gesundheitszustand haben, hat zu-
letzt der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS) aufgezeigt. Doch an-
gesichts der gegenwärtigen Wirtschafts-, Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Sozial-
politik ist künftig eher mit einer Zunahme der sozial bedingten Ungleichheit von
Gesundheitschancen zu rechnen. Eine stetige Zunahme psychischer Erkrankun-
gen ist bereits zu verzeichnen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat be-
reits im letzten Jahr die seelische Gesundheit als die neue Herausforderung iden-
tifiziert. Sie schätzt, dass psychische Erkrankungen im Jahr 2020 die am häu-
figsten auftretenden Krankheiten sein werden.

Ein Präventionsgesetz allein kann also die bestehende soziale Chancenungleich-
heit nicht ausgleichen, sondern lediglich Gegenakzente setzen und zumindest
dazu beitragen, das Thema der sozial bedingten Ungleichheit der Gesund-
heitschancen auf der Agenda zu halten. Entscheidend ist daher, dass Gesund-
heitsförderung in allen Politikfeldern umgesetzt wird. Ein wesentlicher Ansatz-
punkt hierfür ist, alle Gesetzentwürfe, die Auswirkungen auf die Gesundheit
haben könnten, hinsichtlich ihrer Wirkungen auf die gesundheitliche Ungleich-
heit zu überprüfen. Ein Präventionsgesetz schafft aber insbesondere die Voraus-
setzungen dafür, Menschen vor Ort unmittelbar erreichen und unterstützen zu
können. Deshalb müssen die Maßnahmen der nichtmedizinischen Primärprä-
vention hauptsächlich in den Lebenswelten der Menschen ansetzen. Damit die
so genannten Setting-Ansätze nachhaltig gestärkt werden, sind hierfür zwei
Drittel der Mittel für die nichtmedizinische Primärprävention vorgesehen. Im
Unterschied zur Verhaltensprävention sind die gesundheitlichen Wirkungen an-
spruchsvoller, komplexer Interventionen wie den Setting-Projekten in Stadt-
teilen, Schulen etc. nicht leicht messbar. Vor Aufnahme der Intervention sollte
daher ein konsensfähiges Konzept der Qualitätssicherung vorgelegt werden. Die
Informationen und Befunde hinsichtlich ihrer Qualität und Wirksamkeit sind
zentral zusammenzuführen und auszuwerten. Insgesamt ist der Ausbau der For-
schung eine wesentliche Voraussetzung für die notwendige Weiterentwicklung
der Primärprävention. Ein besonderer Fokus ist auf Vorhaben zu sozial Benach-

teiligten zu legen, wie vom Sachverständigenrat in seinem aktuellen Gutachten
empfohlen.

Drucksache 16/7471 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Es ist ein Koordinierungs- und Entscheidungsgremium auf Bundesebene zu
schaffen, damit die für die nichtmedizinische Primärprävention zur Verfügung
gestellten Mittel über ein zentrales Gremium gebündelt und zielgerecht zur Ver-
fügung gestellt werden können. Zudem ist es ein Gebot des Grundgesetzes, ein-
heitliche Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland zu gestalten.
Die Präventionsziele sollten daher auf Bundesebene entwickelt und verbindlich
festgelegt werden. Die organisatorische Anbindung des Gremiums an die Bun-
deszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ermöglicht eine Vernetzung
mit dem dort betreuten bundesweiten Kooperationsverbund „Gesundheitsförde-
rung bei sozial Benachteiligten“. Das bundesweite Gremium kann auf Ebene der
Länder auf vorhandene Strukturen aufbauen, insbesondere auf die jeweiligen
Landesvereinigungen für Gesundheit und die dort angesiedelten Regionalen
Knoten als Vernetzungs- und Koordinierungsstellen. Dies erfordert gleichzeitig,
dass solche bestehenden integrierenden Strukturen verstetigt und weiter gestärkt
werden. Erfolgreiche Modellprojekte wie beispielsweise das Projekt „gesund
leben lernen“ der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen sind eben-
falls in den Regelbetrieb zu überführen.

Gesundheitsförderung und Prävention sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben.
Eine Mischfinanzierung ist daher zu verwirklichen: Die öffentlichen Haushalte
von Bund, Ländern und Kommunen, alle Sozialversicherungszweige sowie die
Private Kranken- und Pflegeversicherung müssen einen spürbaren Beitrag leis-
ten. Es ist unbedingt zu verhindern, dass der Staat sich auf Kosten der Sozialver-
sicherungsträger von seinen präventiven Aufgaben „entlastet“. Neben der ge-
setzlichen Krankenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung, der Unfall-
versicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung ist die Arbeitslosenver-
sicherung auf jeden Fall einzubeziehen. Denn Langzeiterwerbslose sind im
Durchschnitt einem ungefähr doppelt so hohen Risiko ausgesetzt, ernsthaft zu
erkranken oder vorzeitig zu sterben als Menschen, die berufstätig sind. Es ist zu
prüfen, ob über eine zweckgebundene Abgabe die (Verursacher-)Industrie betei-
ligt werden kann. Dies wäre nur folgerichtig, wenn die beträchtlichen gesund-
heitlichen Risiken, die anerkanntermaßen beispielsweise der Alkohol- und Ziga-
rettenkonsum hervorruft, bedacht werden. Nicht zu übersehen sind die Risiken,
die moderne Freizeitgeräte für die Bewegungsarmut oder ungesunde Nahrungs-
und Genussmittel für Übergewicht mit sich bringen.

Für einen Paradigmenwechsel in Richtung eines präventiven Gesundheits-
wesens sind erhebliche finanzielle Mittel erforderlich. Deshalb wird der Anteil
der Steuermittel auf 1 Mrd. Euro für die nächsten vier Jahre festgelegt, damit
eine finanzielle Grundlage für die Errichtung einer neuen, starken Säule „Ge-
sundheitsförderung und Prävention“ geschaffen wird. Um die einseitige Aus-
richtung auf die Akutmedizin langfristig zugunsten eines modernen Gesund-
heitswesens zu überwinden, ist nach Abschluss der Aufbauphase ein jährlicher
Finanzierungsbeitrag des Bundes gefordert. Die Kofinanzierungsanteile von
Ländern und Kommunen sind im Gesetz auszugestalten. Je nach Projekt- oder
Maßnahmenart kann das mit einem Beteiligungskorridor beispielsweise von
1 bis 20 Prozent geschehen. Eine umfassende Stärkung von Gesundheitsförde-
rung und Prävention kostet zunächst Geld, mittel- bis langfristig lässt sich
jedoch ein erhebliches Einsparpotential im Bereich der Gesundheitsausgaben
erschließen.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.