BT-Drucksache 16/7194

Überwindung der "Hartz IV"-Abhängigkeit von Kindern und Eltern durch den Kinderzuschlag

Vom 12. November 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7194
16. Wahlperiode 12. 11. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Dr. Barbara Höll, Katja Kipping, Katrin
Kunert, Elke Reinke, Frank Spieth, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Überwindung der „Hartz IV“-Abhängigkeit von Kindern und Eltern durch
den Kinderzuschlag

Im Rahmen des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeits-
markt („Hartz IV“-Gesetzgebung) wurde zum 1. Januar 2005 mit § 6a Bundes-
kindergeldgesetz (BKGG) der Kinderzuschlag eingeführt. Mit diesem Sozial-
transfer sollen gering verdienende Eltern, die mit ihren Einkünften zwar ihren
eigenen Unterhalt finanzieren können, nicht aber den Unterhalt ihrer Kinder,
einen Kinderzuschlag von bis zu 140 Euro pro Monat erhalten. Dieser Kinder-
zuschlag wird von der Bundesregierung als wichtiger Schritt zur Bekämpfung
von Kinderarmut angesehen, damit Kinder und deren Familien aus dem Bezug
von Arbeitslosengeld II herausgeholt werden können. Doch bislang ist der Kin-
derzuschlag in seiner derzeitigen Ausgestaltung als Instrument zur Verhinde-
rung von Kinderarmut unzureichend. Notwendig wäre neben einer deutlichen
Leistungsausweitung die Erweiterung des Kreises der Anspruchsberechtigten.

Die Ausweitung des Berechtigtenkreises auf erwachsene unverheiratete Kinder
im Alter von unter 25 Jahren seit April 2006 hat die Zahlen etwas erhöht; zu
Beginn des Jahres 2007 bezogen ca. 60 000 Familien mit ca. 150 000 Kindern
den Kinderzuschlag. Derzeit verhindert der Kinderzuschlag demnach die
„Hartz IV“-Abhängigkeit von maximal 270 000 Eltern und Kindern (vgl.
Johannes Steffen, Arbeitnehmerkammer Bremen, Überwindung der „Hartz IV“-
Abhängigkeit von Kindern und deren Eltern, Bremen 10/2007, S. 4).

Im Mai 2007 befanden sich laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit
allerdings immer noch deutlich mehr als 2,2 Millionen Minderjährige im SGB
II-Leistungsbezug; hiervon erhielten 1,9 Millionen unter 15-Jährige Sozialgeld
und rund 330 000 Minderjährige bezogen ALG II. Fast die Hälfte der „Hartz
IV“-Kinder lebte in Bedarfsgemeinschaften mit gut 660 000 Alleinerziehenden;
die andere Hälfte der „Hartz IV“-Kinder lebte in Bedarfsgemeinschaften mit
gut 1,3 Millionen Eltern bzw. einem Elternteil und dessen Lebenspartner/-part-
nerin. Die Zahl der auf SGB II-Leistungen angewiesenen armen Eltern und de-
ren Kinder belief sich somit im Mai 2007 auf insgesamt über 4,2 Millionen Per-
sonen. Bei rund 58 Prozent der SGB II-Leistungsbeziehenden handelte es sich
demzufolge um Familien mit minderjährigen Kindern (ebd.). Nicht unbeacht-

lich ist darüber hinaus die Dunkelziffer derjenigen bis zu 1,9 Millionen Gering-
verdiener/-verdienerinnen, die zwar Anspruch auf aufstockende SGB II-Leis-
tungen hätten, diesen Anspruch aber aus unterschiedlichen Gründen nicht
geltend machen (vgl. Irene Becker, Armut in Deutschland, Bevölkerungs-
gruppen unterhalb der ALG II-Grenze, Forschungsbericht im Auftrag der Hans-
Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2006).

Drucksache 16/7194 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom November 2005 hält
fest: „Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren und hierzu den Kinderzu-
schlag mit Wirkung ab dem Jahr 2006 weiterentwickeln. Ausstiegsanreize aus
der Arbeitslosigkeit und eine systematische Integration müssen verstärkt wer-
den. Der Kinderzuschlag erfüllt diese Anforderungen und erreicht seine Ziel-
gruppe unter der Voraussetzung einer Weiterentwicklung und Ausweitung, da
immer noch mehr als 90 Prozent der Anträge abgelehnt werden müssen (…) Wir
wollen den Berechtigtenkreis ausweiten, um weitere Kinder zu erreichen und ih-
ren Eltern zu ermöglichen, ohne Bezug von ALG II für sie zu sorgen. Dazu be-
darf es einer Flexibilisierung des Instruments in den jetzigen Grenzbereichen
seiner Anwendung, zum Beispiel durch eine Wahlmöglichkeit zu ALG II, und
einer Vereinfachung bei Antragsverfahren und -bearbeitung.“ (Gemeinsam für
Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit, Koalitionsvertrag zwischen CDU,
CSU und SPD vom 11. November 2005, S. 101). Eine Weiterentwicklung des
Kinderzuschlags ist allerdings – außer seiner Entfristung im Rahmen des
Sondervermögen „Kinderbetreuung“ (Bundestagsdrucksache 16/3183) – bis-
lang unterblieben und nunmehr für 2008 in Aussicht gestellt.

Inzwischen gibt es einen Vorschlag zur Überwindung der „Hartz IV“-Abhängig-
keit von Kindern und deren Eltern (vgl. Johannes Steffen, a. a. O.). Dabei geht
es vor allem um eine Erhöhung des maximalen Kinderzuschlags, den Wegfall
der Mindest- und Höchsteinkommensgrenze sowie Veränderungen bei der
Wohngeldberechnung und einem eventuellen Mietzuschlag. Ziel ist es, mit vor-
gelagerten staatlichen Hilfesystemen wie etwa dem Kinderzuschlag oder dem
Wohngeld Familien so zu unterstützen, dass Bedürftigkeit im Sinne von
„Hartz IV“ vermieden wird.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Anträge auf Kinderzuschlag sind seit dem 1. Januar 2005 gestellt
worden?

Wie hoch ist der Anteil der bewilligten Anträge?

Wie hoch ist der durchschnittlich geleistete Kinderzuschlag?

a) Wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Tat-
sache, dass bislang nur sehr wenige der bundesweit gestellten Anträge auf
Kinderzuschlag bewilligt wurden?

Welche Konstruktionselemente des aktuellen Kinderzuschlags sind für
den geringen Bewilligungsanteil verantwortlich?

b) Wie bewertet die Bundesregierung die Effektivität und Effizienz des Kin-
derzuschlags?

c) Wie hoch sind die prozentualen Verwaltungskosten an den Gesamtaus-
gaben des Kinderzuschlags?

d) Wie haben sich die Verwaltungskosten des Kinderzuschlags seit 2005 bis
heute entwickelt?

e) Wie hoch sind die prozentualen Verwaltungskosten für die Vergabe des
Kindergelds?

f) Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dieser Tatsache für
die Reform des Kinderzuschlags, und wann ist damit zu rechnen?

g) Werden die Ziele der Vermeidung von Bedürftigkeit und die Vermeidung
von Kinderarmut durch das Instrument Kinderzuschlag erreicht (bitte
nach verschiedenen Haushaltskonstellationen differenzieren)?

h) In welchem Maße konnte die Bedürftigkeit und Kinderarmut in Ein-

Elternteil-Familien durch den Kinderzuschlag bekämpft werden?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/7194

i) Welche konkreten Pläne hat die Bundesregierung für Veränderungen die-
ses Instrumentes unter Berücksichtigung der im Koalitionsvertrag verein-
barten Vorgaben?

j) Welche der von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag angekündigten
Maßnahmen zur Weiterentwicklung des Kinderzuschlags sind inzwischen
durchgeführt worden?

Zu welchen Erkenntnissen gelangt die Bundesregierung hinsichtlich der
Auswirkungen dieser Maßnahmen?

Welche Aussagen kann die Bundesregierung zur Effizienz und Zielgenau-
igkeit des Instrumentes „Kinderzuschlag“ inzwischen treffen?

k) Welche Erfolge konnten gegen die sog. verdeckte Armut erzielt werden
(d. h. die Dunkelziffer derjenigen bis zu 1,9 Millionen Geringverdiener,
die zwar Anspruch auf aufstockende SGB II-Leistungen hätten, diesen
Anspruch aber aus unterschiedlichen Gründen nicht geltend machen)?

2. Wie bewertet die Bundesregierung die grundlegende Prämisse, dass erwerbs-
tätige Personen – vor allem mit Kindern – in der Regel nicht auf ergänzende
SGB II-Leistungen verwiesen werden sollten?

3. Was hält die Bundesregierung davon, durch die vorgelagerten Erwerbs- und
Transfersysteme eine strukturelle Unabhängigkeit von ergänzend erforder-
licher Fürsorge zu gewährleisten?

4. Welchen Stellenwert misst die Bundesregierung in diesem Zusammenhang
der Einführung von Existenz sichernden Mindestlöhnen bei?

Welche Höhe müsste ein Mindestlohn nach Ansicht der Bundesregierung
haben, um Bedürftigkeit in der Regel zu vermeiden?

a) Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zu den Anstrengungen
von Eltern vor, mittels Erwerbstätigkeit plus Kinderzuschlag aus dem
„Hartz IV“-Bezug zu gelangen?

b) Was kann die Bundesregierung zu den diesbezüglichen Chancen von
Kindern ab dem vollendeten 14. Lebensjahr und jüngeren Kindern, von
Kindern verheirateter und nicht verheirateter Paare sowie von Kindern
von Alleinerziehenden mit unterschiedlichem Lebensalter und verschie-
dener Geschwisterzahl sagen?

5. Wie beurteilt die Bundesregierung bei ihren Reformüberlegungen die Vor-
schläge der Arbeitnehmerkammer Bremen (ebd., S. 22ff.), wonach Änderun-
gen beim Kinderzuschlag als auch beim Wohngeld unumgänglich sind, um
erwerbstätige Hilfebezieherinnen und -bezieher aus der Bedürftigkeit nach
dem SGB II zu befreien?

a) Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorschlag, die Mindesteinkom-
mensgrenze als Zugangsvoraussetzung für den Kinderzuschlag entfallen
zu lassen und sie nur als Schwelle für den Beginn der linearen Kürzung zu
erhalten?

b) Wie bewertet die Bundesregierung den Ansatz, dass Anspruch auf den
Kinderzuschlag bestehen solle, sobald die Eltern ein überwiegend aus
mehr als geringfügiger Beschäftigung bzw. Tätigkeit stammendes Ein-
kommen erzielen und dessen anrechenbarer Teil zusammen mit dem
durch Elterneinkommen ungekürzten Kinderzuschlag sowie Kindergeld,
Wohngeld und eventuell Mietzuschlag zur Vermeidung von SGB II-Hilfe-
bedürftigkeit führt?

c) Wie beurteilt die Bundesregierung die Überlegung, die Höchsteinkom-
mensgrenze abzuschaffen und stattdessen die Kinderzuschlagsberech-

tigung im Zuge der Einkommensanrechnung enden zu lassen?

Drucksache 16/7194 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

d) Teilt die Bundesregierung den Vorschlag, dass eine Erhöhung des maxi-
malen Kinderzuschlags z. B. in Höhe von 200 Euro für unter 14-jährige
Kinder und 270 Euro für ab 14-jährige Kinder notwendig ist (falls eine
Erhöhung abgelehnt wird, bitte begründen)?

e) Wie betrachtet die Bundesregierung den Vorschlag, den heutigen Mehr-
bedarfszuschlag für Alleinerziehende im Falle der Kinderzuschlags-
Berechtigung als Erhöhungsbetrag zum Kinderzuschlag zu gewähren?

6. Wie beurteilt die Bundesregierung die Wohngeldreformvorschläge der
Bremer Arbeitnehmerkammer?

Aus welchen Gründen könnten sich diese Konzepte als vorteilhaft bzw.
nachteilig erweisen?

a) Welche Auswirkungen hat es, wenn bei der Bestimmung des Jahresein-
kommens nach dem Wohngeldgesetz ein pauschaler Abzug von 30 Pro-
zent auch in den Fällen erfolgt, in denen keine Steuern zu entrichten sind,
sofern das wohngeldrelevante Haushaltseinkommen überwiegend aus
mehr als geringfügiger Beschäftigung oder Tätigkeit resultiert?

b) Welche Wirkungen erzeugen beim Jahreseinkommen bis zur Höhe der
gesetzlichen Unterhaltsvorschussleistungen nicht berücksichtigte Unter-
haltsvorschussleistungen, wenn im Gegenzug auf den derzeitigen Abzug
der 50 Euro vom wohngeldrelevanten Brutto pro Kind unter 12 Jahre bei
Alleinerziehenden verzichtet wird?

c) Was hält die Bundesregierung von dem Vorschlag, Erwerbstätigen, die
laufende Steuern vom Einkommen zu entrichten haben, einen Miet-
zuschlag bis zur Höhe der fälligen Lohnsteuer (inkl. Solidarbeitrag) zu-
kommen zu lassen, sofern und solange dieser – unter Berücksichtigung
eines eventuellen Kinderzuschlags – zur Überwindung der Hilfebedürf-
tigkeit nach SGB II erforderlich ist?

7. Welche Auswirkungen ließen sich durch diese Maßnahmen gegenüber ver-
deckt Armen erzielen?

8. Wie sähen die Effekte der obigen Reformüberlegungen für die Kommunen
aus, die bislang infolge der Anrechnungsregelung des § 19 SGB II die finan-
zielle Hauptlast für erwerbstätige „Aufstocker“ zu tragen haben?

9. Welche Überlegungen hat die Bundesregierung zur drastischen Absenkung
der für die Vermeidung von Hilfebedürftigkeit durch die Eltern zu überwin-
denden Bruttoentgeltschwelle?

10. Welche anderen, von der Bundesregierung geplanten Reformmaßnahmen
zum Kinderzuschlag könnten die Chancengleichheit zwischen Kindern un-
terschiedlichen Alters unabhängig vom Familienstand ihrer Eltern stärken?

11. Stimmt die Bundesregierung der Aussage zu, dass eine Verbesserung des
Kinderzuschlags lediglich den Familien mit hilfebedürftigen Erwerbstäti-
gen nutzt?

Wie hoch wäre der Anteil der Kinder im SGB II-Bezug, denen durch eine
solche Maßnahme geholfen wird?

12. Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung für die Kinder im SGB II-
Bezug, deren Eltern nicht im erforderlichen Maße erwerbstätig sind?

13. Strebt die Bundesregierung Leistungserhöhungen für Kinder im SGB II-Be-
zug in Form eines erhöhten Sozialgeldes oder der Gewährung von Sonder-
bedarfen (z. B. Schulmittel) für das Jahr 2008 an?

Berlin, den 8. November 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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