BT-Drucksache 16/7136

Finanzielle Nachhaltigkeit und Stärkung der Verbraucher - Für eine konsequent nutzerorientierte Pflegeversicherung

Vom 14. November 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7136
16. Wahlperiode 14. 11. 2007

Antrag
der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Nicole Maisch, Birgitt Bender,
Dr. Harald Terpe, Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, Kai Gehring, Markus Kurth,
Brigitte Pothmer, Christine Scheel, Irmingard Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Finanzielle Nachhaltigkeit und Stärkung der Verbraucher –
Für eine konsequent nutzerorientierte Pflegeversicherung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Nach wiederholten Verschiebungen hat die große Koalition der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD die bereits für 2006 angekündigte Reform der Pflegeversi-
cherung auf die Tagesordnung gesetzt. In Anbetracht eines erneuten für 2007 zu
erwartenden Jahresdefizits der Sozialen Pflegeversicherung (SPV), des weiteren
Anstiegs der Zahl Pflegebedürftiger und des gleichzeitigen Rückgangs des in-
formellen Pflegepotentials ist eine Reform der Pflegeversicherung längst über-
fällig. Schon heute erweisen sich die Leistungen der SPV als unzureichend und
widersprechen zudem oft dem Bedarf der Pflegebedürftigen und ihrer Bezugs-
personen. Die starren und unflexiblen Leistungsangebote sind nicht geeignet,
Pflege nachhaltig und am Bedarf orientiert zu gestalten. Da die Leistungssätze
seit Einführung der SPV nicht angepasst wurden, ergibt sich ein schleichender
Wertverlust, der sich bis heute auf ca. 13 Prozent beläuft. Die Situation hat sich
für viele Pflegebedürftige und auch für deren pflegende Bezugspersonen nach-
teilig entwickelt.

Der Reformbedarf, der sich aus diesen Entwicklungen ergibt, bezieht sich auf
eine grundlegende Finanzierungsreform wie auch auf eine Anpassung und Er-
weiterung der Leistungsinhalte. Auch nachfolgende Generationen müssen bei
sich verändernden Bedarfslagen im Falle von Pflegebedürftigkeit abgesichert
sein. Eine Pflegereform muss sich konsequent an den Bedürfnissen und Bedar-
fen der Nutzerinnen und Nutzer orientieren, ihre Rolle im Pflegesektor stärken
und ihre Rechte und Würde schützen. Hierzu bedarf es eines Gesamtkonzeptes,
in dem verschiedene Maßnahmen ineinander greifen. Daran wird sich die bevor-
stehende Pflegereform messen lassen müssen.

Erkennbar wird inzwischen, dass die Koalition aus CDU, CSU und SPD diese
grundlegende Ausrichtung einer Pflegeversicherungsreform hinsichtlich der

Finanzierung nicht und mit Blick auf die Inhalte nur halbherzig berücksichtigt.
Bereits von der CDU/CSU und der SPD eingestanden ist die Tatsache, dass sie
an ihrem in der Koalitionsvereinbarung formulierten Vorhaben gescheitert ist,
die Pflegeversicherung auf ein solides und nachhaltig finanzielles Fundament zu
stellen. Weder wird die Bundesregierung einen Finanzausgleich zwischen So-
zialer und Privater Pflegeversicherung noch die Schaffung einer Demografie-
reserve realisieren. Eine geringfügige Beitragssatzerhöhung ohne weitere Maß-

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nahmen stellt weder eine nachhaltige noch eine generationengerechte Finanzie-
rungskonzeption dar.

Einige der zu diesem Zeitpunkt erkennbaren Ansätze für Strukturreformen sind
im Grundsatz durchaus zu begrüßen, wie beispielsweise die Schaffung einer ge-
setzlichen Pflegezeit, die Errichtung von Pflegestützpunkten oder die Bemühun-
gen zur Verbesserung der Pflegequalität. In der Umsetzung jedoch erfüllen sie
nicht den Anspruch einer konsequenten Nutzerorientierung. Zentrale Elemente
des Verbraucherschutzes und der Stärkung der Position der Nutzerinnen und
Nutzer, die im Pflegesektor von besonderer Bedeutung sind, finden zu wenig
Beachtung oder werden gar konterkariert. So wird etwa der Anspruch an die
Schaffung unabhängiger und neutraler Beratungs- und Begleitungsstrukturen
nicht erfüllt. Der an sich unterstützungswürdige Ansatz der Vernetzung von Ver-
sorgungsstrukturen scheitert im Grunde auf der politischen Ebene durch den
weitgehenden Ausschluss von Ländern und Kommunen an der Ausgestaltung
dieser Strukturen.

Konsequente Nutzerorientierung bedeutet auch, diejenigen zu unterstützen und
zu stärken, die Verantwortung für pflegebedürftige Menschen übernehmen. Die
Anerkennung ihrer geleisteten Arbeit wie auch ihre Entlastung sind elementare
Aspekte für den Erhalt ihrer Pflegebereitschaft. Ohne diese Bereitschaft ist un-
sere Gesellschaft mit der Sorge um pflegebedürftige Menschen materiell und
immateriell überfordert. Gemessen am gesellschaftlichen Wert der Pflegebereit-
schaft von Bezugspersonen sind die geplanten Maßnahmen halbherzig. Zudem
werfen sie die Gefahr der sozialen Ungleichheit in der Pflege auf.

II. Vor diesem Hintergrund fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregie-
rung auf,

gesetzgeberische Maßnahmen einzuleiten, die darauf abzielen, eine solidari-
sche, nachhaltige und generationengerechte Finanzierungsgrundlage für die
SPV zu schaffen, Leistungsinhalte konsequent nutzerorientiert zu gestalten und
pflegende Angehörige wirkungsvoll zu entlasten. Dazu zählen folgende Eck-
punkte:

1. Pflege-Bürgerversicherung
Die Soziale und Private Pflegeversicherung werden in einer Pflege-Bürger-
versicherung zusammengefasst. Dadurch werden alle Bürgerinnen und Bür-
ger gemäß ihrer Leistungsfähigkeit in den Solidarausgleich einbezogen. Im
Rahmen der Pflege-Bürgerversicherung werden alle Einkommensarten zur
Beitragsbemessung herangezogen. Reichen die finanziellen Mittel durch die
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage in der Pflegeversicherung nicht aus,
ist die Erhöhung des Beitragssatzes in der Pflege-Bürgerversicherung kein
Tabu.

2. Solidarische Demografiereserve
Es wird eine Demografiereserve zur Abfederung steigender finanzieller Be-
lastungen geschaffen. Dazu wird im Solidarsystem über einen zusätzlichen
zweckgebundenen Beitrag eine Kollektivreserve aufgebaut, deren Vermögen
vor politischem Zugriff geschützt ist.

3. Regelgebundene Dynamisierung
Die Leistungen der Pflege-Bürgerversicherung werden jährlich regelgebun-
den dynamisiert. Die Dynamisierungsschritte bedürfen aufgrund der Regel-
gebundenheit keiner Rechtsverordnung und werden somit nicht zum Gegen-
stand politischer Entscheidungsprozesse.

4. Unabhängiges und neutrales Case-Management
Alle Versicherten erhalten einen Anspruch auf individuelle Pflege- und

Wohnberatung, Aufklärung, Unterstützung und Begleitung durch ein neutra-

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les und unabhängiges Case-Management (Fall-Management). Ziel ist die
möglichst individuelle Abstimmung, Bündelung und Koordination von Leis-
tungen für die Betroffenen. Das Case-Management wird getragen von einer
regionalen kooperativen Versorgungsstruktur, in die alle Kosten- und Leis-
tungsträger, Leistungserbringer sowie auch Organisationen der Selbsthilfe,
des ehrenamtlichen/bürgerschaftlichen/freiwilligen Engagements und Ver-
braucherinnen/Verbraucher-Vertretung verpflichtend und gleichberechtigt
eingebunden sind.

5. Gesetzliche Pflegezeit/ Unterstützungssysteme
Es werden gezielte Maßnahmen zur Stärkung und zum Erhalt der privaten
und informellen Pflegebereitschaft ergriffen. Dazu zählt die Einführung einer
maximal dreimonatigen gesetzlichen Pflegezeit für Frauen und Männer zur
Organisation – nicht der Übernahme – der notwendig gewordenen Pflege
oder einer Sterbebegleitung. Die Pflegezeit ist mit einem Anspruch auf eine
steuerfinanzierte Lohnersatzleistung verbunden. Anspruch auf die Pflegezeit
haben dabei nach einem erweiterten Familienbegriff auch Personen ohne ver-
wandtschaftliche Beziehung, wenn sie bereit sind, Verantwortung für die
Pflegebedürftige/den Pflegebedürftigen zu übernehmen. Des Weiteren zäh-
len dazu der Aufbau und die gezielte Förderung solidarischer Unterstüt-
zungssysteme im Sinne eines individuellen Pflege- und Hilfe-Mixes. Dies
beinhaltet auch die Flexibilisierung und den Ausbau komplementärer und
haushaltsnaher Dienstleistungsangebote.

6. Persönliches Budget
Das integrierte Budget für Menschen mit Behinderungen wird in ein träger-
übergreifendes persönliches Budget nach SGB IX überführt. Darin sind Pfle-
geleistungen anstelle von Gutscheinen als echte Budgetleistung integriert.
Des Weiteren wird das persönliche Pflegebudget in die Regelversorgung
überführt. Es wird durch ein unabhängiges Case-Management flankiert. Es
ergänzt die bestehenden Leistungsarten (Sach-, Geld- und Kombinationsleis-
tung) als weitere Wahlmöglichkeit und wird in Höhe der Sachleistungsbe-
träge gewährt.

7. Transparenz und Qualitätssicherung
Für die Nutzerinnen und Nutzer werden öffentlich zugängliche, verständlich
formulierte, vergleichbare und neutrale Informationen zu Preisen, Leistungen
und Qualität von Pflegeangeboten bereitgestellt. Verbindliche Kriterien und
Standards zur Definition und Bewertung ambulanter und stationärer Pflege-
qualität werden in einem transparenten Verfahren entwickelt. Es wird eine
unabhängige und multidisziplinär besetzte Instanz für Qualität in der Pflege
errichtet. Die Mitwirkung von Organisationen für die Wahrnehmung der In-
teressen und der Selbsthilfe von pflegebedürftigen und behinderten Men-
schen wird über eindeutige Regelungen zu Beteiligungs-, Anhörungs- und
Antragsrechten analog den Regelungen zur Patientinnen- und Patientenbetei-
ligung im SGB V gesichert.

Berlin, den 14. November 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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Begründung

Zu II.1 bis II.3 Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit

Eines der wichtigsten Ziele einer Pflegereform ist die nachhaltige Finanzierung
der Pflegeversicherung. Das Solidarsystem mit einkommensabhängigen Beiträ-
gen findet in der Bevölkerung nach wie vor breite Zustimmung. Kernelement
der Sozialen Pflegeversicherung soll daher auch weiterhin die solidarische, so-
zial gerechte Umlagefinanzierung sein. Die Trennung zwischen Sozialer und
Privater Pflegeversicherung ist unsolidarisch und fachlich nicht zu begründen.
Es ist nicht einzusehen, dass sich die in der Regel einkommensstärksten zehn
Prozent der deutschen Bevölkerung nicht an der solidarischen Finanzierung der
Pflege beteiligen. Die Pflege-Bürgerversicherung ist deshalb unabdingbar. Alle
Bürgerinnen und Bürger, ob Beamte bzw. Beamter, Selbständige bzw. Selbstän-
diger oder Politikerin bzw. Politiker, sollen gemäß ihrer Leistungsfähigkeit in
die Versicherung einzahlen. Zugleich werden alle Einkommensarten zur Bei-
tragsbemessung herangezogen. Dadurch wird die Solidaritäts- und Gerechtig-
keitslücke auch in der Pflegeversicherung geschlossen. Da die private Pflege-
pflichtversicherung nach den gleichen Prinzipien wie die soziale konstruiert ist,
ist die Bürgerversicherung konzeptionell geboten.

Die Pflegeversicherung erlebt zudem seit ihrem Bestehen eine schleichende
Leistungskürzung dadurch, dass die Leistungssätze der allgemeinen Preis- und
Lohnentwicklung nicht angepasst werden. Bereits heute steigt die Zahl der so-
zialhilfeabhängigen Pflegebedürftigen wieder, weil die Leistungen der Pflege-
versicherung einen um ca. 13 Prozent geringeren Gegenwert haben als noch
1995. Soll die Pflegeversicherung durch solche Entwicklungen also nicht ihre
Legitimität verlieren, müssen die Leistungen jährlich angepasst (dynamisiert)
werden. Die Dynamisierung muss jährlich nach einer bestimmten Formel regel-
gebunden erfolgen. Somit werden alljährliche Rechtsverordnungen zu den Dy-
namisierungsschritten, wie sie nach derzeitigem Stand das Konzept der Bundes-
regierung vorsieht, unnötig und politische Entscheidungsprozesse vermieden.

Aufgrund der demografischen Entwicklung werden die kommenden Generatio-
nen die höchsten Belastungen der Pflegesicherung zu tragen haben. Ohne eine
grundlegende Kurskorrektur werden die heute jungen oder noch ungeborenen
Generationen mit immer weiter steigenden Beitragssätzen belastet sein. Um
diese zukünftigen Belastungen gleichmäßig und generationengerecht auf alle
Schultern zu verteilen, ist die Bildung einer Demografiereserve im Sinne einer
Rücklage daher unumgänglich. Diese Aufgabe muss die Solidargemeinschaft
leisten. Deshalb sollte im bestehenden System eine solidarische Kollektiv-
Reserve aufgebaut werden. Denkbar ist dies über einen zusätzlichen prozentua-
len Beitrag. Dieser fließt zweckgebunden in ein geschütztes Sondervermögen,
das vor politisch motiviertem Zugriff geschützt sein muss. Zu prüfen ist zudem,
inwieweit bei der Zusammenführung zu einer Pflege-Bürgerversicherung die er-
heblichen Altersrückstellungen der Privaten Pflegeversicherung in den Aufbau
der Reserve einfließen können. Erst zu einem fixierten Zeitpunkt in der Zukunft
wird die Reserve genutzt, um die Spitzen der demografischen Belastungen ab-
zufedern.

Zu II.4 Unabhängigkeit und Neutralität von Beratungsstrukturen

Der deutsche Pflegemarkt in seiner heutigen Form erschwert den Pflegebedürf-
tigen und ihren Bezugspersonen oftmals die Orientierung, die notwendig ist, um
ein gelingendes und tragfähiges Pflegearrangement zusammenzustellen. Um ein
Pflegearrangement individuell und zielorientiert planen und etablieren zu kön-
nen, brauchen sie Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner, die ihnen fach-
lich qualifiziert mit Rat und Tat zur Seite stehen. Besonders in fragilen Lebens-

situationen, wie sie infolge von Pflegebedürftigkeit entstehen, brauchen die Be-

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troffenen einen Anspruch auf niedrigschwellige, verlässliche und vertrauens-
würdige Beratung und Aufklärung, auf die sie sich verlassen und der sie
uneingeschränkt vertrauen können. Deshalb muss beides dem Grundsatz der
Neutralität und Unabhängigkeit folgen. Das gilt nicht nur für den Bereich der
allgemeinen Pflege- und Wohnberatung, sondern auch und vor allem für den Be-
reich der Einzelfallberatung.

Individuelle Beratung, Unterstützung und Begleitung sollte sich dabei am Kon-
zept des Case-Managements (Fall-Managements) orientieren. Das Fall-Ma-
nagement ist eine begleitende und beratende Instanz, die quasi-anwaltschaftlich
und in enger Abstimmung mit ihren „Mandantinnen und Mandanten“ Unterstüt-
zung bei der Auswahl, Bündelung und Koordination der notwendigen pflegeri-
schen Leistungen ermöglicht. Diese Instanz muss zwingend unabhängig sein
und entscheidet auf der Grundlage des erfassten und notwendigen Bedarfs des
Einzelfalls. Dadurch würden auch einige der von der Bundesregierung für die
„Pflegstützpunkte“ vorgesehenen Aufgaben obsolet. Damit wird für ein hohes
Maß an Versorgungskontinuität und -qualität sowie für die Wahrung von Ver-
braucherschutzrechten gesorgt. Von untergeordneter Bedeutung oder sogar kon-
traproduktiv ist dabei die Diskussion oder gar voreilige Entscheidung darüber,
welche Berufsgruppen diese Aufgabe übernehmen sollten. Entscheidend ist,
dass das Case-Management qualitätsgesichert erfolgt, eine gezielte Aus- oder
Weiterbildung erfordert und Leitlinien folgt, wie sie beispielsweise die Deutsche
Gesellschaft für Care und Case-Management formuliert hat.

Damit die Fall-Managerinnen/-Manager tatsächlich vernetzend und verzahnend
Leistungsangebote bündeln und koordinieren können, benötigen sie eine regio-
nale Versorgungsstruktur, in die alle an der Pflege beteiligten Akteure verpflich-
tend und gleichberechtigt eingebunden sind. Ohne diese Verpflichtung zur hier-
archiefreien Kooperation und Kommunikation bleibt das Einzelfallmanagement
wirkungslos. Erst durch die Einbeziehung aller regional tätigen Akteure im Feld
der Pflege und den angrenzenden Bereichen, kann die Pflege- und Altenhilfein-
frastruktur sinnvoll und nutzerorientiert weiterentwickelt werden. Die Anbin-
dung der allgemeinen und individuellen Beratung an einen einzelnen Träger
konterkariert die originären Ziele von Beratung und Verbraucherschutz. Nicht
zuletzt befördert eine solche einseitige Anbindung die Gefahr der Zerschlagung
bestehender Strukturen bzw. den Aufbau von Doppelstrukturen.

Zu II.5 Stärkung und Erhalt informeller Pflegebereitschaft

Eine wesentliche Aufgabe einer Reform der Pflegeversicherung muss die Stär-
kung und Entlastung derjenigen sein, die bereit sind Verantwortung für pflege-
bedürftige Menschen zu übernehmen. Diese informellen Pflege- und Hilfe-
potenziale müssen erhalten werden. Oberstes Ziel hierbei sollte sein, dass dieje-
nigen, die diese Verantwortung zu übernehmen bereit sind, sozial integriert blei-
ben, keine beruflichen Nachteile erfahren und finanziell nicht überfordert
werden. Fakt ist heute aber, dass pflegende Bezugspersonen oft unter Gefühlen
gesellschaftlicher Ausgrenzung und Isolation leiden und sich körperlich und
psychisch überfordert fühlen, was nicht selten zu massiven Gesundheitsstörun-
gen führt. Hierdurch kommt es vermehrt zu Versorgungsfehlern genauso wie zu
Gewalt in der Pflegebeziehung. Speziell für Frauen im arbeitsfähigen Alter geht
die Übernahme der Pflege vielfach mit einem zeitweisen oder völligen Ausstieg
aus dem Erwerbsleben einher. Hierdurch werden ihre beruflichen Entwick-
lungschancen gegenüber Männern deutlich verringert. Der Wiedereinstieg in
den Beruf verschärft sich zudem in Zeiten einer prekären Arbeitsmarktlage. In
der Folge einer solchen Belastungskette zerbrechen nicht selten familiäre Hilfe-
und Beziehungssysteme. Am Ende steht oft der Umzug der/des Pflegebedürf-
tigen in ein Pflegeheim, was häufig den pflegenden Angehörigen zum Vorwurf

gemacht wird und zusätzlich zu Schuldgefühlen führt. Mit den hier aufgezeigten

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Problemfeldern sind vielfach hohe gegenwärtige und zukünftige Folgekosten
verbunden.

Ob es gelingt, vorhandene informelle Pflege- und Hilfepotenziale zu erhalten
und neue zu erschließen, wird in besonderer Weise von Lösungsansätzen abhän-
gen, die die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf für Frauen und Männer ermög-
lichen. Seit längerer Zeit wird in diesem Kontext wiederholt über eine begrenzte
Pflegezeit diskutiert. Eine solche Pflegezeit ist – je nach Ausgestaltung – zu be-
grüßen. Bei der Pflegezeit sollte es weniger darum gehen, pflegenden Bezugs-
personen Raum für die direkte Pflege zu gewähren, sondern vielmehr darum,
ihnen Zeit zur Organisation der Pflege und zur Organisation ihrer eigenen Ent-
lastung zu ermöglichen. Da Pflegesituationen oft langwierig sind, würde eine
Pflegeübernahme den begrenzten Rahmen einer Pflegezeit sprengen. Da insbe-
sondere Frauen die Pflege übernehmen, würde sich hierdurch eine geschlechter-
bedingte Benachteiligung für Frauen am Arbeitsmarkt ergeben, die wiederum
die Gefahr sozialer Benachteiligung erhöht. Aus diesem Grund empfiehlt sich
eine Begrenzung der Pflegezeit auf bis zu drei Monate, die zur Organisation der
Pflege oder für eine Sterbebegleitung genutzt werden sollten.

Damit eine Pflegezeit nicht nur denjenigen zugute kommt, die sich einen mehr-
monatigen Verzicht auf ein Erwerbseinkommen leisten können, muss die Pfle-
gezeit finanziell abgesichert werden. So sollte für die Dauer der dreimonatigen
Pflegezeit eine Lohnersatzleistung in Höhe von 50 Prozent des Nettogehalts aus-
gezahlt werden, mindestens 300 Euro, maximal 1 000 Euro. Diese Lohnersatz-
leistung sollte aus Steuermitteln finanziert werden. Hierdurch kann soziale Un-
gleichheit vermieden werden.

Die Folgen der demografischen Entwicklung und anderer gesellschaftlicher
Wandlungsprozesse werden erhebliche Auswirkungen auf das informelle Pfle-
gepotenzial haben und sich in den kommenden Jahren noch verschärfen. Immer
weniger Menschen werden hierdurch auf langfristige und verlässliche Hilfe und
Unterstützung aus traditionellen Familiennetzwerken zurückgreifen können.
Das erfordert ein Umdenken auf vielen Ebenen, vor allem aber erfordert es eine
Neudefinition von „Familie“. Dabei sollte weniger der Verwandtschaftsgrad
entscheidend sein, als die Verantwortung die jemand bereit ist für einen anderen
Menschen zu tragen. Konsequent gedacht bedeutet das für die Pflegezeit, dass
sie all jenen zustehen sollte, die Verantwortung für einen pflegebedürftigen
Menschen übernehmen, unabhängig vom Verwandtschaftsgrad. Diese Personen
müssen eidesstattlich versichern, dass sie die Pflege im beantragten Zeitraum
organisieren. Ohne einen solchen Paradigmenwechsel wird die Pflegezeit von
gesellschaftlichen Entwicklungen überholt und als Entlastungskonzept ins
Leere laufen.

Neben der Weiterentwicklung und dem Ausbau entlastender Betreuungsange-
bote für Pflegebedürftige, der Entwicklung und Förderung haushaltsnaher und
komplementärer Dienstleistungen sowie der Förderung von Selbsthilfegruppen
pflegender Bezugspersonen sollten Konzepte für neu organisierte, solidarische
Unterstützungssysteme entwickelt werden. So wäre zur Entlastung der pflegen-
den Bezugspersonen aber auch mit Blick auf die wachsende Zahl alleinlebender
Pflegebedürftiger verstärkt darauf hinzuwirken, Pflege in Form eines Pflege-
und Hilfe-Mixes zu konzipieren. Das beinhaltet die Verbreiterung des bisherigen
Hilfe- und Unterstützungsnetzes. In diesem Netz sollten informelle, professio-
nelle, ehrenamtliche und niedrigschwellige Hilfen zusammenfließen und sich
ergänzen. Dieser Mix zielt darauf ab, die Aufgaben und die Verantwortung im
Pflegefall auf mehrere Schultern zu verteilen und damit den Einzelnen zu ent-
lasten. Hierdurch könnten Synergieeffekte erreicht werden und Wirtschaftlich-
keitsreserven erschlossen werden.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/7136

Zu II.6 Erhöhung der Nutzersouveränität

Für hilfe- und pflegebedürftige Menschen, die Leistungen verschiedener Leis-
tungsträger beziehen, muss im Sinne der „Leistung aus einer Hand“ ein träger-
übergreifendes persönliches Budget geschaffen werden. Darin sollten Pflege-
leistungen nicht wie bisher in Form von Gutscheinen ausgegeben werden, son-
dern als voll budgetfähige Leistung ausgezahlt werden, wie es bereits im inte-
grierten Budget derzeit erprobt wird.

Das seit 2004 in der Erprobung befindliche persönliche Pflegebudget in die
Regelversorgung zu überführen wäre ein bedeutsamer Schritt zur Erhöhung der
Nutzersouveränität und Gestaltungsmacht von Pflegebedürftigen. Zwar liegen
die abschließenden Ergebnisse des Modellprojektes derzeit noch nicht vor, die
aktuellen Diskussionen geben jedoch allen Anlass, darin ein Erfolg versprechen-
des Konzept zu sehen. Mit einem solchen Budget können pflegebedürftige Men-
schen Leistungen jenseits der starren Vorgaben des Pflegeversicherungsgesetzes
selbst auswählen und „einkaufen“. Hierdurch können sie verstärkt Einfluss auf
die Leistungsangebote am Pflegemarkt nehmen. Dadurch wiederum wird der
Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern im Sinne der Verbraucherinnen
und Verbraucher gefördert. Das persönliche Budget hat das Potenzial, indivi-
duell passgenauere und finanziell flexiblere Möglichkeiten der Ausgestaltung
häuslicher Pflegearrangements zu schaffen. Um für die Budgetnehmerinnen und
Budgetnehmer dabei das nötige Maß an Unterstützung zu gewährleisten, sollten
ihnen unabhängige Fall-Manager (Case-Manager) zur Seite gestellt werden.
Diese dienen nicht nur der Sicherung der Qualität der Leistung, sondern auch der
Qualität der notwendigen Aushandlungsprozesse. Das persönliche Budget sollte
als weitere Wahlmöglichkeit neben den heute schon bestehenden Geld-, Sach-
und Kombinationsleistungen angeboten und in Höhe der Sachleistungsbeträge
ausgezahlt werden.

Zu II.7 Transparenz und Qualitätssicherung

Um eine bessere Pflegequalität zu erreichen, ist grundsätzlich bei allen Reform-
bemühungen ein höheres Maß an Nutzerorientierung notwendig. Auch im enge-
ren Feld der Qualitätssicherung und - entwicklung sind heute jedoch Transpa-
renz- und Mitwirkungsdefizite gegenüber den Nutzerinnen und Nutzern bzw.
den sie vertretenden Organisationen zu beobachten. Pflegequalität ist dabei
nicht nur ein Ergebnis gezielter Regulationsmechanismen, wie etwa Qualitäts-
kontrollen. Von zentraler Bedeutung ist vielmehr, welche Kriterien und Stan-
dards ihr zugrunde liegen, in welchen Verfahren diese formuliert werden und in-
wieweit Informationen zur Pflegequalität öffentlich zugänglich und vergleich-
bar sind.

Notwendig sind daher Umsteuerungen auch in der Qualitätsentwicklung, denen
die Bundesregierung mit den geplanten Reformmaßnahmen nur unzureichend
gerecht wird. So ist etwa angesichts der steigenden Bedeutung ambulanter und
alternativer Wohn- und Versorgungsformen die Qualitätsentwicklung auch in
diesem Bereich zu befördern. Vorrangiges Ziel muss sein, dass Pflegebedürftige
und ihre Bezugspersonen Qualität beurteilen und nachvollziehen können. Dazu
brauchen sie öffentlich zugängliche, verständlich formulierte, vergleichbare und
neutrale Informationen zu Preisen, Leistungen und Qualität von Pflegeangebo-
ten. Die Veröffentlichung von Prüfberichten ist dazu ein wichtiger Schritt. Aller-
dings ist es nicht nur hierfür von entscheidender Bedeutung, dass die maßgeb-
lichen Interessen- und Selbsthilfe-Organisationen pflegebedürftiger und behin-
derter Menschen an der Formulierung der Kriterien beteiligt werden, nach denen
eine Veröffentlichung erfolgt. Dabei sollte man sich an den Regelungen zur
Patientinnen- bzw. Patientenbeteiligung im SGB V orientieren. Auch für die

Entwicklung verbindlicher Qualitätskriterien und -standards ist diese Form der
Mitwirkung unverzichtbar. In welchem institutionellen Rahmen diese Entwick-

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lung auch immer erfolgen mag, es bedarf eindeutiger Regelungen, die die Mit-
wirkung über Beteiligungs-, Anhörungs- und Antragsrechte sichern.

Notwendig ist außerdem die Formulierung von Qualitätsanforderungen auf
einer unabhängigen Ebene. Geeignet dafür wäre die Schaffung eines unabhän-
gigen Instituts oder Zentrums für Qualität in der Pflege. Nicht zuletzt muss bei
der Entwicklung von Qualitätsanforderungen Abstand von einer rein pflege-
fachlichen Perspektive genommen werden hin zur stärkeren Berücksichtigung
sozialer und teilhabeorientierter Aspekte. Dies setzt die bisher vernachlässigte
Einbeziehung weiterer Professionen und Disziplinen in die Qualitätsentwick-
lung voraus.

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