BT-Drucksache 16/7110

Mitbestimmungsrechte von Kindern und Jugendlichen erweitern - Partizipation umfassend sichern

Vom 14. November 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7110
16. Wahlperiode 14. 11. 2007

Antrag
der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, Katja Kipping,
Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Jörn
Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Mitbestimmungsrechte von Kindern und Jugendlichen erweitern – Partizipation
umfassend sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Soziale Absicherung ist die Grundvoraussetzung jeglicher Beteiligung an demo-
kratischen Entscheidungsprozessen. Entsprechend der UN-Kinderrechtskonven-
tion und dem Kinder- und Jugendhilfegesetz sind Kinder und Jugendliche als
Bevölkerungsgruppe mit eigenen Interessen und Rechten wahr und ernst zu neh-
men. Statt eines bloßen Versprechens zu mehr Partizipation sollten konkrete Mit-
bestimmungsrechte für Kinder und Jugendliche rechtsförmig verankert werden.
In diesem Zusammenhang ist der Gedanke an die Aufnahme von Kinderrechten
ins Grundgesetz erwägenswert.

Wer die Rechte von Kindern und Jugendlichen stärken will, muss an den Orten
ansetzen, wo sich Kinder und Jugendliche in der Regel aufhalten: in Kinder-
krippen, -gärten und -tagesstätten, Schulen, Horten, Jugendklubs und -zentren,
am Ausbildungsplatz oder im Studium.

Entscheidend für die Quantität und Qualität von Partizipationsrechten sind im-
mer auch die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen des Aufwach-
sens von Kindern und Jugendlichen. Bildungs- und Gesundheitschancen sowie
Schutzrechte wirken hierbei genauso stark auf die Lebenslagen junger Men-
schen ein wie Ausgrenzung, Benachteiligung und Armut.

Häufig wird in diesem Zusammenhang das Konzept der „Generationengerech-
tigkeit“ missbraucht, um einen angeblichen Kampf zwischen den Generationen
auszurufen. Dabei berücksichtigt man nicht, dass die wirklichen Widersprüche in
der Gesellschaft nicht zwischen Alt und Jung liegen, sondern zwischen Arm und
Reich. Deshalb ist „Generationengerechtigkeit“ auch kein Ersatz für soziale Ge-
rechtigkeit, sondern nur ein ideologischer Versuch zur Instrumentalisierung der
Generationen, um die Privatisierung der Sozialversicherungssysteme voranzu-
treiben. Damit werden gerade junge Generationen durch Sozialstaatsabbau und

Rentenkürzungen mehr und nicht weniger belastet.

Ebenso fragwürdig sind demografische Krisenszenarien, welche auf Basis zwei-
felhafter Prognosen Sachzwänge zum Abbau solidarischer Sicherungssysteme
suggerieren. Kinder und Jugendliche dürfen nicht als bloße „Humankapital-
reserve“ für Wirtschaft und soziale Sicherung instrumentalisiert werden.

Drucksache 16/7110 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Länder in den Stand zu versetzen, gebührenfreie Ganztagskinderbetreu-
ung als ein soziales Recht zu realisieren;

2. die bewährten Strukturen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe abzu-
sichern und zu fördern. Eine Wiederbelebung der außerschulischen Kinder-
und Jugendarbeit muss durch ein deutliches Förder-Programm des Bundes
in Höhe von 100 Mio. Euro angeregt werden;

3. die Länder dazu zu bewegen, die Stärkung von Schülerinnen- und Schüler-
Vertretungen (SV) gesetzlich zu verankern, wobei besonders Schülerinnen
und Schüler der Berufsschulen mit Partizipationsrechten ausgestattet wer-
den müssen;

4. durch die Stärkung von Kinder- und Jugendparlamenten außerbetriebliche
und außerschulische Demokratie für Kinder und Jugendliche lebbar werden
zu lassen. Dabei müssen die Länder zur Verankerung dieser Strukturen in
Kommunalverfassungen angeregt werden;

5. die Jugendverbandsarbeit als wichtigen Ort der Mitbestimmung junger
Menschen zu stärken durch höhere finanzielle Förderung der Jugendver-
bände sowie deren Einbindung und Mitwirkung bei politischen Entschei-
dungsprozessen;

6. gemeinsam mit den Ländern Schulsozialarbeit sowie Maßnahmen gegen
Schulverweigerung und Schulabbruch zu fördern;

7. die Integration und Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinde-
rungen umfassend zu sichern und Barrierefreiheit zu gewährleisten;

8. die Übernahme der Kosten für die Schülerbeförderung durch die öffentliche
Hand zu garantieren;

9. eine grundlegende Verbesserung des Jugendarbeitsschutzes vorzunehmen,
da der gesetzliche Jugendarbeitsschutz ungenügend ist;

10. eine Stärkung der Jugend- und Auszubildendenvertretungen (JAV) im Be-
triebsverfassungsgesetz (BetrVG) zu verankern, damit Mitbestimmung und
Partizipation von jungen Menschen im Berufsleben gestärkt werden;

11. die Rechte der nach den §§ 51 f. des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) mög-
lichen Interessenvertretungen (IV) für Auszubildende in sonstigen Berufs-
bildungseinrichtungen außerhalb der schulischen und betrieblichen Berufs-
bildung abzusichern. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
muss umgehend von der Verordnungsermächtigung nach § 52 BBiG
Gebrauch machen. Die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte von Aus-
zubildenden in den betreffenden Einrichtungen müssen sich an den Rechten
der Jugend- und Auszubildendenvertretungen nach dem Betriebsverfas-
sungsgesetz orientieren;

12. zur Überwindung der hohen offenen und verdeckten Jugendarbeitslosigkeit
und des Ausbildungsplatzmangels die Einführung einer Ausbildungsplatz-
umlage vorzunehmen, damit sich die Unternehmen, die dazu in der Lage
sind, an der Ausbildung zukünftiger Fachkräfte beteiligen;

13. die erfolgten Kindergeldkürzungen durch die Senkung der Altersgrenze von
27 auf 25 Jahre zurückzunehmen;

14. eine konsequente Beseitigung der materiellen Kinderarmut zur Absicherung
von Partizipations- und Mitbestimmungschancen zu betreiben, die insbeson-
dere eine Erhöhung und Verbesserung des Kindergeldes, Kinderzuschlags
und deren Ausbau zu einer bedarfsabhängigen Kindergrundsicherung be-

inhaltet;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/7110

15. die Einschnitte für Unter-25-Jährige im Zweiten SGB-II-Änderungsgesetz
(Zweites Buch Sozialgesetzbuch – SGB II) vom 24. März 2006 zurück-
zunehmen. Volljährige Menschen haben gleiche Rechte und Pflichten. Die
Reduktion der Regelleistung für bei den Eltern wohnende junge Erwach-
sene ist ebenso zu korrigieren wie der Genehmigungsvorbehalt bei einem
Auszug aus dem elterlichen Haushalt.

Berlin, den 13. November 2007

Dr. Gregor Gysi , Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Zur Förderung ihrer Mitbestimmung benötigen Kinder und Jugendliche zu-
nächst eine wirkungsvolle Existenzsicherung und die Stärkung ihrer sozialen
und demokratischen Rechte. Viele Jahre hat es gedauert, bis sich im vergange-
nen Jahrhundert durchgesetzt hat, dass Kinder und Jugendliche eigene Rechte
haben, die gesellschaftlich und politisch durchgesetzt werden müssen. Es ist
erforderlich, individuelle soziale Rechte von Kindern und Jugendlichen umfas-
send gesetzlich zu verankern. Die Handlungsspielräume von Kindern müssen
soweit geöffnet werden, dass sie unabhängig von ihrem familiären Hintergrund
befähigt sind, selbstständig als Akteure in politischen und sozialen Entschei-
dungsprozessen ihre Partizipationsrechte wahrzunehmen. Insbesondere ist der
an vielen Stellen auch schon gesetzlich verankerte individuelle Anspruch auf
öffentlich verantwortete Förderung umfassend zu realisieren. Kinderkrippen
und Kindergärten, die allen Kindern offenstehen, sind Orte der Bildung und
Erziehung, des gemeinsamen Lernens, Spielens und Entdeckens und damit
auch vorzüglich geeignet zur frühen Partizipation und demokratischen Mitbe-
stimmung. Deshalb erfordern sie best mögliche Bedingungen, wie kleine Grup-
pen, hohe Qualifikation der Fachkräfte und gute Ausstattung. So können sie am
Aufbau von mehr Chancengleichheit mitwirken. Aus dem gleichen Grunde
müssen die vorhandenen Partizipationselemente wie Schülerinnen- und Schü-
lervertretungen, Jugend- und Auszubildendenvertretungen, Jugendgemeinde-
räte und Jugendparlamente ausgebaut und rechtlich garantiert werden. Gerade
die Jugendhilfe als einer der wichtigsten Bausteine zur Realisierung von realer
Kinder- und Jugendpartizipation wurde mit der Föderalismusreform erheblich
geschwächt und finanzpolitisch ausgetrocknet. In einer offensiven Förderung
und sinnvollen Weiterentwicklung der bewährten Strukturen der Kinder- und
Jugendhilfe liegt dagegen eine wirkliche Chance, die Mitsprache- und Ent-
scheidungsmöglichkeiten entscheidend zu stärken. Dies ist nur möglich durch
den Erhalt und die Stärkung der Jugendämter und Jugendhilfeausschüsse, wo-
bei deren Schwächung durch die Folgen der Föderalismusreform rückgängig
gemacht werden muss. Nur wenn sich die Forderungen und Interessen junger
Menschen konkret und wiedererkennbar in der Politik widerspiegeln, kann von
einer wirksamen und glaubhaften Politik für und mit Kindern und Jugendlichen
die Rede sein.

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