BT-Drucksache 16/692

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung -15/6000- Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2005

Vom 15. Februar 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/692
16. Wahlperiode 15. 02. 2006

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Roland Claus, Dr. Dietmar Bartsch,
Dr. Lothar Bisky und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksache 15/6000 –

Jahresbericht der Bundesregierung
zum Stand der Deutschen Einheit 2005

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit dem Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit
2005 wird bestätigt, dass der „Aufbau Ost“ erheblich ins Stocken gekommen
ist. Im Jahresbericht genannte zentrale Entwicklungsdaten wie etwa das Wachs-
tum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sagen aus, dass bereits seit dem Jahre
1997 von einem Aufholprozess Ostdeutschlands und damit einer Verringerung
der Kluft zwischen Ost und West nicht mehr die Rede sein kann. Im Gegenteil:
In den Jahren 2000, 2001 und 2004 blieb das Wachstum Ost hinter dem Wachs-
tum West zurück, womit die Schere sich wieder öffnete. Und während die Pro-
duktivität im produzierenden Gewerbe Ost sich in kleinen Schritten an die im
produzierenden Gewerbe West annähert und gegenwärtig bei etwa 86 Prozent
liegt, sind die Arbeitnehmerentgelte je Beschäftigten im Osten von 75,1 Pro-
zent des entsprechenden Wertes im Westen im Jahre 2002 auf 73,9 Prozent im
Jahre 2004 zurückgegangen. Die Arbeitslosenquote im Osten liegt unverändert
bei knapp 20 Prozent und beträgt damit noch immer mehr als das Doppelte des
Wertes in den alten Bundesländern. Die Folgen dieser Entwicklungen sind hoch
komplex und laufen, wenn ihnen nicht entschieden Einhalt geboten wird, auf
ein dauerhaftes Abhängen vieler Regionen Ostdeutschlands hinaus. So hat die
Abwanderung junger Menschen von Ost nach West nach einem Tiefstand 1997
(rund 160 000 Abgewanderte) in den Jahren 2001 und 2002 mit über 200 000
Abwanderungen wieder einen Stand wie 1992 erreicht. Der Saldo aus den Wan-
derungsbewegungen weist für Ostdeutschland wieder ein Minus von 75 000 bis
80 000 Menschen pro Jahr aus. Der Kinder- und Jugendquotient sank im Osten

von 40,1 Prozent im Jahre 1991 auf 28,1 Prozent im Jahre 2004. Die Prognosen
für die nächsten Jahre sind desaströs, viele Dörfer werden gänzlich von der
Landkarte verschwinden, Städte rasant schrumpfen, der ländliche Raum wird
auf eine Weise ausgedünnt, die ihm kaum noch Entwicklungschancen bietet.

Drucksache 16/692 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Es ist angesichts all dessen unübersehbar, dass die bisher zum Aufbau Ost in
Ansatz gebrachten Instrumente trotz gewaltiger West-Ost-Finanztranfers nicht
zum angestrebten Erfolg – der stetigen Verringerung der Kluft in der wirt-
schaftlichen Leistungsfähigkeit und der Angleichung der Lebensverhältnisse
zwischen Ost und West – geführt haben. Erfolglose Instrumente aber müssen
durch Erfolg versprechende ersetzt werden. Der Weg, den die Bundesregierung
mit ihrem Koalitionsvertrag geht und der darin besteht, die bisherigen Instru-
mente unverändert zu lassen, ist der falsche Weg.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
folgenden Neuansatz zu verwirklichen:

1. Stabilisierung der wirtschaftlichen und sozialen Lage

Der Entwicklungstrend in Ostdeutschland muss umgekehrt werden. Dafür be-
darf es einer neuen Politik im Bund, die auf Arbeit und soziale Gerechtigkeit,
auf Investitionen und Innovationen, auf die Stärkung der Binnennachfrage und
politische Gestaltungskraft gegenüber dem Wildwuchs des Marktes setzt.
Hartz IV ist auch im Osten der denkbar falscheste Weg zur Lösung der Pro-
bleme, weil mit diesem Programm kein einziger Arbeitsplatz geschaffen, aber
Kaufkraftverlust und Armut festgeschrieben wird. Der Bund muss den ostdeut-
schen Ländern Planungssicherheit geben. Die ostdeutschen Länder brauchen
weiterhin ein Förderinstrument wie die Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“, allerdings in modernisierter Form. Länder mit
besonderen Struktur- und Haushaltsproblemen sollen nicht mehr die Hälfte,
sondern nur noch ein Viertel der Fördermittel kofinanzieren müssen. Die Mittel
müssen gezielter zur Förderung von wissensbasierter Produktion eingesetzt
werden können, also für Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten und für Per-
sonalentwicklung. Eine vernünftige Förderpolitik muss berücksichtigen, wel-
che Probleme die eigenkapitalschwachen ostdeutschen Unternehmen heute
haben. Bei ihnen steht nach der Privatisierung bzw. Gründung notwendig die
zweite Investitionswelle an. Existenzgründer sollen von überzogenen bürokra-
tischen Auflagen befreit werden und gezielte Angebote aus erster Hand erhal-
ten – auch über den Abschluss der Förderung hinaus. Mittels einer besonderen
leitbildbezogenen Regionalplanung, die zwischen Bund und Ländern zu verein-
baren ist, sollen in den strukturschwachen Regionen Verkehrsanbindung, Er-
reichbarkeit von Schulstandorten, ärztliche und andere Fragen der sozialen und
kulturellen Infrastruktur geregelt werden. Für junge Frauen und Familien müs-
sen Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf geschaffen
werden. Die flächendeckende Kinderbetreuung, die bereits heute ein wichtiger
Standortvorteil des Ostens ist, muss zum Standortvorteil für ganz Deutschland
ausgebaut werden.

2. Zukunft durch Innovation und Bildung

Der Osten braucht eine neue Art von Industrie- und Strukturpolitik, die vor
allem Zukunftsbranchen und Zukunftsunternehmen profiliert; die des Weiteren
dafür Sorge trägt, das Ostdeutschland von der EU-Erweiterung nicht überrollt
und abgehängt, sondern auf vielfältige Weise zur Drehscheibe, zum Dienst-
leister und zum Nutznießer der neuen europäischen West-Ost-Kooperation
wird; und die schließlich die Fördermöglichkeiten für Forschung und Entwick-
lung in kleinen und mittelständischen Unternehmen verbessert und diesen den
Zugang zu Fördermitteln erleichtert. Der Solidarpakt II muss stärker auf die
Förderung industrienaher Infrastruktur ausgerichtet werden, um Wachstums-
kerne zu stärken. Notwendig ist der Wissenschaftsausbau als Standortpolitik
mit verstärkter Bundesförderung.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/692

3. Ostdeutsche Potenziale nutzen

Die Kompetenzen und Leistungen der Ostdeutschen sind zu lange missachtet
worden, ihr Mitbestimmungspotenzial lag brach, ihre Erfahrungen wie auch die
Vielfalt ihrer Interessen wurden unzureichend beachtet. Das muss, wenn der
Aufbau Ost wieder auf den richtigen Weg gebracht werden soll, geändert wer-
den. Was auf der Ebene der Parteispitzen in der Regierungskoalition als offen-
sichtlich Erfolg versprechender Weg angesehen wird, muss nun auch auf allen
Ebenen des gesellschaftlichen Lebens zum Tragen kommen. Das wird für ganz
Deutschland von Vorteil sein. Der Bund muss die ostdeutschen Länder ermuti-
gen, gemeinsam zum Modell für eine moderne Verwaltung zu werden: Veral-
tete Bestimmungen aus den Zeiten der Industriegesellschaft, die nach Ost-
deutschland exportiert wurden, müssen abgeschafft, Antragsteller von überhol-
ten Nachweis- und Genehmigungspflichten entlastet, moderne Regelwerke für
eine wissensbasierte Gesellschaft entwickelt werden.

III. Der Deutsche Bundestag verständigt sich darauf,

dass er seinen Beitrag zum Aufbau Ost am konzentriertesten leisten kann, in-
dem er seine Kräfte für diese Aufgabe in einem speziellen Ausschuss für die
Angelegenheiten der neuen Länder und für andere strukturschwache Regionen
(vgl. Bundestagsdrucksache 16/130) bündelt.

Berlin, den 15. Februar 2006

Dr. Gesine Lötzsch
Roland Claus
Dr. Dietmar Bartsch
Dr. Lothar Bisky
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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