BT-Drucksache 16/672

Entbürokratisierung der Pflege vorantreiben - Qualität und Transparenz der stationären Pflege erhöhen

Vom 15. Februar 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/672
16. Wahlperiode 15. 02. 2006

Antrag
der Abgeordneten Heinz Lanfermann, Birgit Homburger, Daniel Bahr (Münster),
Dr. Konrad Schily, Jens Ackermann, Michael Kauch, Detlef Parr, Dr. Karl Addicks,
Uwe Barth, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Patrick
Döring, Mechthild Dyckmans, Jörg van Essen, Ulrike Flach, Otto Fricke, Horst
Friedrich (Bayreuth), Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Miriam
Gruß, Dr. Christel Happach-Kasan, Elke Hoff, Hellmut Königshaus, Dr. Heinrich L.
Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht,
Ina Lenke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Michael Link (Heilbronn),
Horst Meierhofer, Patrick Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen,
Dirk Niebel, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Cornelia Pieper, Jörg Rohde,
Frank Schäffler, Marina Schuster, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler,
Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Florian Toncar, Christoph Waitz,
Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Martin Zeil und der Fraktion der FDP

Entbürokratisierung der Pflege vorantreiben – Qualität und Transparenz der
stationären Pflege erhöhen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Ziel eines Abbaus von Bürokratie muss es vorrangig sein, den Pflegenden mehr
Zeit für Pflege und soziale Betreuung des Pflegebedürftigen zu ermöglichen.
Durch das zurzeit bestehende Übermaß an Bürokratie kommt die eigentliche
Pflege am Menschen jedoch zu kurz.

Die stationäre Pflege ist mit Gesetzen und Verordnungen überfrachtet. Für den
Betrieb einer Pflegeeinrichtung sind Hunderte Vorschriften relevant. Hinzu
kommen ein erheblicher Aufwand durch Doppel- und Mehrfachprüfungen,
steigende Dokumentationspflichten sowie widersprüchliche Regelungen im
Heimgesetz (HeimG) und Pflege-Versicherungsgesetz (Ergänzung des SGB XI).
Laut Verband Deutscher Alten- und Behindertenhilfe e. V. (VDAB) können nur
50 Prozent der Bruttoarbeitszeit von Pflegekräften als effektive Pflegezeit ge-
nutzt werden.

Die Pflegeeinrichtungen sind mit der Tatsache konfrontiert, dass die Struktur-
und Prozessqualität detailliert festgelegt wird. Die Ergebnisqualität hingegen

wird kaum beschrieben und überprüft. In der Folge müssen die Einrichtungen
mit erheblichem Aufwand ihre Strukturen und Prozesse beschreiben. Zeit zur
Optimierung der entscheidenden Qualitätsdimension, der Ergebnisqualität und
zur Pflege am Menschen bleibt so immer weniger. Ein hohes Qualitätsniveau
soll demnach über Gesetze und Verordnungen in die Einrichtungen quasi hin-
einreguliert werden. Unternehmerische Kreativität und Eigenverantwortung,
auch um Antworten auf die demografischen Herausforderungen der nächsten

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Jahrzehnte zu entwickeln, werden in diesem Ansatz nicht gefordert und schon
gar nicht gefördert. Pflegeeinrichtungen werden genauso wenig als Dienstleis-
ter betrachtet wie Pflegebedürftige als Kunden und Nachfrager.

Mehr als 40 Instanzen sind zur Prüfung in den Einrichtungen berechtigt. Die
Prüfungen sind zwischen den Instanzen weder abgestimmt noch einem gemein-
samen Katalog unterworfen, wobei die Prüfungsinhalte jedoch Schnittmengen
aufweisen. Erhebliche Widersprüche bei der Bewertung identischer Sachver-
halte und damit unterschiedliche Prüfungsergebnisse sind die Folge. In einigen
Fällen kommt persönliche Willkür des jeweiligen Prüfers hinzu. Die erhebliche
zeitliche Beanspruchung für die Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung
der zahlreichen Prüfungen bindet allerdings Personal und verkürzt somit die
Zeit, die zur Pflege am Pflegebedürftigen selbst verbleibt.

Pflegende sind aufgrund der Vielzahl der Regelungen für ihren Bereich, die
meist zusätzlich einen breiten Interpretationsspielraum in der Anwendung lassen
bzw. als Bundesgesetze länderspezifisch ausgelegt werden, verunsichert. Die
Folgen der Unsicherheit sind in der Pflegedokumentation besonders gut er-
sichtlich. Es wird „überdokumentiert“, teilweise ohne Bezug auf das zu errei-
chende Ziel Informationen über den zu Pflegenden gesammelt und jede am
Pflegebedürftigen vorgenommene Leistung einzeln abgezeichnet. Das vermeint-
liche Ziel ist es, sich für den Fall eines durch eine der zahlreichen prüfberech-
tigten Instanzen festgestellten Mangels, auch haftungsrechtlich, abzusichern.
Dabei bezweifeln einige Experten sogar, dass eine rechtliche Absicherung
durch das bisherige Dokumentationsverfahren überhaupt möglich ist.

Die Dokumentation kann und wird so nicht als Arbeits- und Hilfsinstrument
genutzt, beispielsweise um einen Pflegebedarf und den daraus resultierenden
Behandlungsbedarf zu ermitteln. Studien zeigen auch, dass insbesondere die
Zielformulierung im Rahmen des Pflegeprozesses den Pflegenden Schwierig-
keiten bereitet. Lösung kann es jedoch nicht sein, von politischer Seite eine
Standardisierung der Pflegedokumentation, womöglich in föderalen Insellösun-
gen, zu fordern. Über eine Entschlackung gesetzlicher Vorgaben für die Pflege
muss hier ebenso nachgedacht werden wie über eine Steigerung der Professio-
nalität der Pflege und der Pflegenden.

Die starre gesetzliche Festlegung bestimmter Anforderungen an Strukturen und
Prozesse in der Hoffnung, auf diesem Weg ein höheres Qualitätsniveau zu er-
reichen, zeigt sich ebenfalls in der Überreglementierung des Personaleinsatzes.
Die „Fachkraftquote“ (nach § 5 Abs. 1 HeimPersV) und die enge Definition der
Pflegefachkraft (nach § 71 Abs. 3 SGB XI) fußen auf der Annahme eines kausa-
len Zusammenhangs zwischen Qualifikation und Qualität. Wer als Fachkraft
gilt, ist wieder von Bundesland zu Bundesland verschieden. Ebenso variiert der
Bezugswert der Fachkraftquote, Tag oder Schicht, zwischen den Bundesländern.
Durch eine starre „Fachkraftquote“ wird ein auf den individuellen Pflegebedarf
abgestimmter Personaleinsatz nicht ermöglicht, die Sicherung von Qualität und
ein effizientes unternehmerisches Handeln der Einrichtung sogar erschwert.

Die im Heimgesetz (§ 7 Abs. 3 und 4 HeimG) und der Heimmitwirkungsver-
ordnung (§§ 29 bis 33 HeimmitwV) vorgesehenen Mitwirkungs- und Informa-
tionsrechte sollen die Mitwirkung der Bewohner sichern und für mehr Transpa-
renz im Betrieb der Pflegeeinrichtungen sorgen. In der Praxis wird jedoch
kritisiert, dass in der bisherigen Form vielmehr der Aufwand gesteigert wird,
als dass den Bewohnern wirkliche Mitentscheidungsrechte eingeräumt werden.
Durch den gestiegenen Abstimmungsaufwand zwischen Heim und Heimbeirat
werden die Pflegesatzverhandlungen einerseits erschwert und verlängert.
Andererseits verfügt der Heimbeirat über keinerlei Rechte, Maßnahmen der
Einrichtungsleitung zu verhindern oder eigene Maßnahmen durchzusetzen. Die

Bewohner sind in der Folge eher verunsichert. Inhalt ihrer Stellungnahmen vor

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Aufnahme von Vergütungsvereinbarungen (nach § 7 Abs. 4 HeimG) sind auch
vielmehr alltäglichere Forderungen, wie nach mehr Obst auf dem Speiseplan.

Der scheinbare Bedarf, Prozesse und Strukturen in der Pflege bis in das letzte
Detail zu regeln, setzt die Pflegenden letztlich einem deutlichen Misstrauens-
vorbehalt aus, dass sie selbst nicht in der Lage wären, Leistungen mit hoher
pflegerischer Qualität zu erbringen. Auf Grund weniger „schwarzer Schafe“,
die in der Öffentlichkeit und in den Medien jedoch verstärkt wahrgenommen
werden, entsteht das Bild, dass Einrichtungen und ihre Pflegemitarbeiter grund-
sätzlich Pflege minderer Qualität, wenn nicht gar gefährliche Pflege, leisten.
Dieses Image ist für die Wachstumsbranche Pflege kontraproduktiv und ver-
langt, auch von Seiten der Politik, ein entschlossenes Gegensteuern. Der viel
diskutierte „Pflegenotstand“, im Sinne eines insbesondere zukünftigen Fehlens
qualifizierter Fachkräfte, hat auch hier seine Ursachen.

Die im Herbst letzten Jahres vorgelegten Ergebnisse des „Runden Tisches
Pflege“ erfüllten nur teilweise die hohen Erwartungen der Fachwelt. Der
Abschlussbericht der Arbeitsgruppe Entbürokratisierung enthält zwar einige
richtige und wichtige Empfehlungen, greift die Notwendigkeit der Entbüro-
kratisierung jedoch nicht grundsätzlich genug auf. Wir brauchen in der Pflege
dringend einen Paradigmenwechsel hin zu mehr Transparenz über die Qualität
des Pflegeergebnisses verbunden mit unternehmerischer Eigenverantwortung
und -initiative.

II. Vor diesem Hintergrund fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregie-
rung auf,

– die Prüfkompetenzen von Medizinischem Dienst der Krankenkassen (MDK)
und Heimaufsicht zu konkretisieren sowie auf eine verbesserte inhaltliche
und terminliche Zusammenarbeit der Prüfinstanzen hinzuwirken: Als ord-
nungsrechtliche Instanz prüft die Heimaufsicht die Strukturqualität nach
dem Heimgesetz. Sachverhalte, die durch die Heimaufsicht geprüft werden,
werden nicht mehr durch den MDK geprüft. Der MDK prüft vorrangig die
Ergebnisqualität. Außerdem muss sich die Heimaufsicht mit den weiteren
zur Prüfung berechtigten Instanzen abstimmen. Die Heimaufsicht und die
weiter an einer Prüfung beteiligten Instanzen erstellen ein gemeinsames
Ergebnis der Prüfung;

– Maßnahmen zu ergreifen, um die Transparenz über die Qualität der Pflege-
leistungen zu erhöhen. Die Pflegeeinrichtungen müssen viel mehr als heute
die Möglichkeit haben, sich als „weiße Schafe“, als Dienstleister, die eine
hohe Pflegequalität im Sinne einer Verbesserung der pflegeinduzierten
Lebensqualität ihrer Bewohner anbieten, darstellen zu können. Aus diesem
Grund sollte ein Benchmarking zwischen den Einrichtungen nach bundes-
einheitlichen Qualitätskriterien eingeführt werden: Die Qualitätskriterien
sind unter Mitarbeit der Leistungsträger in Abstimmung mit den Prüfinstan-
zen zu erarbeiten und sollen sich möglichst eng an dem Ergebnis des Pflege-
prozesses orientieren. Für die einzelnen Qualitätskriterien sind zwischen
Leistungsträgern und Prüfungsinstanzen Grenzwerte zu vereinbaren. Ein
Verletzen der Grenzwerte löst eine Prüfung durch den MDK aus. Die durch
die Einrichtungen realisierten Ergebnisse in den einzelnen Qualitätskriterien
sind zu veröffentlichen, um den Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen oder
dem gesetzlichen Vertreter die Möglichkeit zu geben, eine Pflegeeinrichtung
auch nach (Ergebnis-)Qualitätsgesichtspunkten auswählen zu können;

– die Regelungen des Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes (PQsG) auf ihre Er-
forderlichkeit und Praxistauglichkeit zu überprüfen. Sollten sie zu mehr
Bürokratie beitragen, als dass sie zu spürbaren Qualitätsverbesserungen für
die Pflegebedürftigen führen, ist durchaus auch ein Streichen (beispiels-

weise der Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen (LQV) und der Leis-
tungs- und Qualitätsnachweise (LQN)) sinnvoll;

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– schwerpunktmäßig zu anlassbezogenen und unangemeldeten ergebnisquali-
tätsorientierten Prüfungen im SGB XI überzugehen;

– Maßnahmen zur stärkeren Professionalisierung der Pflege und der Pflegen-
den einzuleiten. Dazu gehört unter anderem eine Ausweitung der Definition
der Pflegefachkraft nach § 71 Abs. 3 SGB XI;

– die Felder der Mitwirkung der Bewohner dahin gehend zu überprüfen, ob
eine Steigerung der Beteiligung erreicht werden konnte und gegebenenfalls
zu überarbeiten;

– voneinander abweichende Regelungen im SGB XI und im Heimgesetz zu
harmonisieren;

– die Erforderlichkeit und Praxistauglichkeit der §§ 12 und 13 HeimG (An-
zeige-, Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten) zu überprüfen und als
nicht erforderlich und praxisuntauglich identifizierte Pflichten zu streichen;

– die Regelungen des Heimgesetzes und der Heimmindestbauverordnung
(HeimMindBauV) daraufhin zu überprüfen, ob und inwieweit sie das Ent-
stehen neuer Wohnformen (betreutes Wohnen, generationenübergreifendes
Wohnen, Altenwohngemeinschaften etc.) erschweren oder gar verhindern
und gegebenenfalls die gesetzlichen Regelungen entsprechend anzupassen.

Berlin, den 15. Februar 2006

Heinz Lanfermann
Birgit Homburger
Daniel Bahr (Münster)
Dr. Konrad Schily
Jens Ackermann
Michael Kauch
Detlef Parr
Dr. Karl Addicks
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Elke Hoff
Hellmut Königshaus
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp

Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Michael Link (Heilbronn)
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Cornelia Pieper
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Martin Zeil
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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