BT-Drucksache 16/6454

Kooperation und Koordination im Europäischen Forschungsraum verbessern

Vom 19. September 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6454
16. Wahlperiode 19. 09. 2007

Antrag
der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), Grietje
Bettin, Ekin Deligöz, Dr. Uschi Eid, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann,
Omid Nouripour und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kooperation und Koordination im Europäischen Forschungsraum verbessern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Im Jahr 2000 hat sich die Europäische Union das Ziel der Schaffung eines
„Europäischen Forschungsraumes“ zur besseren Kooperation und Koordinie-
rung der nationalen Forschungspolitiken gesetzt. Es geht darum, die freie Mobi-
lität von Forscherinnen und Forschern, von Technologie und Wissen in der EU
herzustellen, so dass eine übertriebene Fragmentierung des europäischen For-
schungssystems in abgeschottete nationale Systeme endgültig überwunden wer-
den kann. Auch geht es darum, die Mittel für Forschung und Entwicklung in
Europa deutlich zu erhöhen – auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2010
wie es in den Lissabon-Zielen festgehalten wurde. Gleichzeitig soll eine ineffi-
ziente Doppelung von Forschung verhindert und ein effektiverer Einsatz der
Mittel erreicht werden. Mit ihrem in diesem Jahr veröffentlichten Grünbuch
„Der Europäische Forschungsraum: Neue Perspektiven“ will die Europäische
Kommission nun den weiteren Ausbau des Europäischen Forschungsraumes vo-
ranbringen. In dem Grünbuch werden wesentliche Elemente einer zukünftigen
Strategie erörtert und diskutiert, denen Anfang 2008 nach Konsultationen mit
der Öffentlichkeit und den Mitgliedstaaten konkrete Initiativen folgen sollen.

Der Deutsche Bundestag teilt das Ziel der Schaffung eines Europäischen For-
schungsraumes im Grundsatz und begrüßt das Grünbuch der Europäischen
Kommission als gute Diskussionsgrundlage für die Weiterentwicklung des
Europäischen Forschungsraumes. Eine Verstärkung und Bündelung der For-
schungsbemühungen in Europa ist notwendig, damit wir in einer globalisierten
Wirtschaft, die von Wissen und Innovationen angetrieben wird, auch in Zukunft
eine wohlhabende, nachhaltige und sozial gerechte Gesellschaft weiterent-
wickeln können. Gerade globale Herausforderungen wie der Klimawandel und
seine Folgen, die Notwendigkeit nachhaltigen Wirtschaftens, die globale Ver-
breitung infektiöser Krankheiten und der demographische Wandel erfordern
verstärkte grenzüberschreitende Forschungsanstrengungen, weil ein Land al-
leine sie nicht schultern kann. Der Europäische Forschungsraum soll es ermög-

lichen, Daten gemeinsam zu nutzen, Ergebnisse zu vergleichen, multidiszipli-
näre Untersuchungen durchzuführen und auf Spitzentechnologiezentren und ge-
meinsam genutzte modernste Infrastrukturen zurückzugreifen. Die mit den Zie-
len des Europäischen Forschungsraumes verbundenen Anforderungen richten
sich sowohl an die europäische Ebene, die dort aktiv sein soll, wo dies einen
europäischen Mehrwert schafft, als auch an die einzelnen Mitgliedstaaten, die
gefordert sind, ihre nationalen Forschungspolitiken stärker als bisher zu koordi-

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nieren und Anreize zur bi- und multinationalen Kooperation zu setzen. Der
Deutsche Bundestag wird sich intensiv in diesen Prozess einbringen.

Markenzeichen eines Europäischen Forschungsraumes muss die Präsenz von
Forschung und Forschungspolitik in der europäischen Gesellschaft sein. Ein
wirklicher Europäischer Forschungsraum kann nur gelingen, wenn sich eine
demokratische europäische Öffentlichkeit mit den Richtungen, Zielen und Be-
dingungen von Forschung auseinandersetzt. Zentral sind dabei offene Debatten
über die wissenschaftlichen Schwerpunkte, über Chancen aber auch Normen
und Grenzen für die Forschung. Eine ethisch verantwortliche europäische For-
schung braucht die offene gesellschaftliche Debatte über die Grenzen der Na-
tionalstaaten hinweg. Der Deutsche Bundestag ist deshalb der Auffassung, dass
Mechanismen entwickelt werden sollten, die zu einer breiteren Beteiligung ver-
schiedener Akteure, auch aus der Zivilgesellschaft, an den Entscheidungspro-
zessen führen. Auf diese Weise ließen sich in einem umfassenderen Prozess
gesellschaftliche Herausforderungen identifizieren, die in der europäischen,
nationalen und regionalen Forschungsplanung zu berücksichtigen wären. Dabei
muss der Austausch auch die Debatten über Chancen und Risiken neuer Tech-
nologien und Forschungsansätze umfassen. Die Bündelung der jeweiligen na-
tionalen Erkenntnisse und Einschätzungen dieser Fragen bietet eine große
Chance für die europäische Technologie- und Innovationspolitik. Die Anstren-
gungen der EU im Bereich der Nanotechnologie zeigen dies. Ein in der Gesell-
schaft verwurzelter Forschungsraum könnte eine Vorbildfunktion für die weitere
Entwicklung auch in anderen Politikfeldern wie auch über Europas Grenzen
hinaus übernehmen.

Insgesamt muss darauf geachtet werden, dass der Europäische Forschungsraum
nicht alleine auf naturwissenschaftlich-technische Bereiche verengt wird. Auch
die Geistes- und Sozialwissenschaften müssen berücksichtigt werden. Gerade in
Europa genießen diese Disziplinen traditionell ein besonders hohes Ansehen,
das sich zu einem Markenzeichen der europäischen Forschungslandschaft ent-
wickeln ließe. Positiv ist deshalb zu vermerken, dass den Geistes- und Sozial-
wissenschaften im 7. Forschungsrahmenprogramm (FRP) wieder eine größere
Rolle beigemessen wurde als zuvor.

Gleichzeitig mit der Öffnung zwischen den EU-Mitgliedstaaten und einer
Europäisierung der forschungspolitischen Diskurse braucht der Europäische
Forschungsraum auch die Öffnung hin zur übrigen Welt. Wissenschaft kennt
keine geographischen Grenzen. Eine nachhaltige, friedliche und sozial gerechte
globale Entwicklung wird sich nur über starke Wissenschaftsstrukturen und
- akteure sichern lassen, die global kooperieren. Globale Herausforderungen wie
der Klimawandel und die damit verbundenen Bedrohungen, der wachsende
Energiebedarf und die aus ihm resultierende Dringlichkeit einer nachhaltigen,
Ressourcen schonenden und schadstoffarmen Energieversorgung oder auch
Katastrophen wie Erdbeben oder Tsunamis zeigen, wie notwendig eine Koope-
ration in der Forschungspolitik weit über die EU hinaus ist. Die Millenniums-
Ziele wie die Beseitigung der extremen Armut und des Hungers, die Senkung
der Kindersterblichkeit und die Verbesserung der Gesundheit von Müttern sind
genauso wenig ohne Forschung denkbar wie die Sicherung der ökologischen
und ökonomischen Nachhaltigkeit. Der Deutsche Bundestag begrüßt es deshalb,
dass die Europäische Kommission auch die über Europa hinausgehende Zusam-
menarbeit in Wissenschaft und Technologie in den Blick nimmt. Ziel muss es
sein, dass wir in Europa und darüber hinaus die Leistungsfähigkeit der Wissen-
schaft gemeinsam vorantreiben. Dazu sind sowohl die Intensivierung der For-
schungszusammenarbeit mit den Entwicklungsländern als auch mit Russland
und den zentralasiatischen Ländern im Rahmen der europäischen Nachbar-
schaftspolitik notwendig. Zudem bedarf es einer intensiven Kooperation mit

Schwellenländern in Wissenschaftsfragen.

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Das wichtigste Element zur Verwirklichung eines Europäischen Forschungsrau-
mes sind die Forschungsrahmenprogramme. Sie sind ein Instrument, mit dem es
gelingen kann, eine angemessene Balance zwischen Kooperation und Wett-
bewerb in der europäischen Forschungspolitik zu etablieren. Durch die Instru-
mente der Forschungsrahmenprogramme, zum Beispiel durch die Exzellenz-
netzwerke, werden grenzüberschreitende Kooperationen zwischen Forscher-
gruppen und Forschungseinrichtungen gefördert. Die so entstehenden For-
schungszusammenhänge stehen zusätzlich in einem produktiven europäischen
Wettbewerb mit anderen Forschungsprojekten und -initiativen. So können For-
schungscluster und Netzwerke von hoher wissenschaftlicher Exzellenz entste-
hen. Auf diese Weise leisten die Forschungsrahmenprogramme einen wichtigen
Beitrag dazu, die Kooperation zwischen Wissenschaftlern anzuregen, und beför-
dern zugleich einen Exzellenzwettbewerb um die besten Ansätze und Ideen. Mit
dem inzwischen gestarteten 7. Forschungsrahmenprogramm sind die Instru-
mente noch einmal verbessert und weitere innovative Maßnahmen eingeführt
worden, z. B. der Europäische Forschungsrat, mit dem exzellente Grundlagen-
forschung eine echte gesamteuropäische Ausrichtung erhält. Wir begrüßen es
besonders, dass der Forschungsrat sich in der ersten Förderrunde auf die För-
derung des wissenschaftlichen Nachwuchses konzentriert. Außerdem sind die
finanziellen Mittel für das Forschungsrahmenprogramm erhöht worden, wenn
auch nicht so deutlich, wie es wünschenswert gewesen wäre. Es muss gelingen,
den bürokratischen Aufwand bei der Beantragung von Mitteln weiter zu redu-
zieren, so dass auch kleine Hochschulen, kleinere Forschungseinrichtungen und
kleine und mittelständische Unternehmen bessere Chancen haben für eine er-
folgreiche Beteiligung an Ausschreibungen der Forschungsrahmenprogramme.

Insgesamt ist der Fortschritt bei der Erreichung der Lissabon-Ziele noch nicht
ausreichend. Insbesondere die privaten Ausgaben für Forschung, die zwei Drit-
tel zur Erreichung des 3-Prozent-Zieles beitragen sollen, sind noch nicht hoch
genug und sind vor allem seit dem Jahr 2000 nicht angestiegen, sondern stagnie-
ren im europäischen Durchschnitt bei rund 1 Prozent des BIP. Während in den
USA und Japan der privat finanzierte Anteil im Jahr 2004 bei 64 Prozent bzw.
75 Prozent der gesamten Forschungsausgaben lag, betrug diese Quote in Europa
55 Prozent. Auch in Deutschland, wo die öffentliche Hand seit Jahren große
Anstrengungen unternommen hat, ihre Forschungsausgaben zu steigern, ist der
Anteil der privat finanzierten Forschung noch zu niedrig. Es gibt aber inzwi-
schen eine Reihe von europäischen Initiativen und neuen Instrumenten, die sich
den Zielen der Beschleunigung von Innovation und der besseren Einbindung der
privaten Wirtschaft widmen. Zu nennen sind die Gemeinsamen Technologie-
plattformen (JTP) und das Programm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation
(CIP). Diese Instrumente sind nach einem angemessenen Zeitraum in ihrer Wir-
kung zu evaluieren und dann gegebenenfalls entsprechend weiterzuentwickeln,
damit in Zukunft auch die privaten Unternehmen einen angemessenen Beitrag
zur Erreichung des 3-Prozent-Zieles leisten.

Abzulehnen ist dagegen ein konzeptionell und finanziell unausgereiftes Projekt
wie das Europäische Technologieinstitut (EIT), mit dem lediglich eine Parallel-
struktur zu den bestehenden Initiativen geschaffen und die etablierten Pro-
gramme eher geschwächt als gestärkt würden. Dies träfe insbesondere dann zu,
wenn sich die Europäische Kommission mit ihren Vorstellungen durchsetzt,
dass Teile der notwendigen Mittel aus dem bestehenden FRP und den Program-
men für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation sowie für Lebenslanges Lernen
bereitgestellt werden sollen. Das lehnen wir – ebenso wie auch das Europäische
Parlament – ab.

Der Europäische Forschungsraum muss sich durch die Mobilität der Forscher-
innen und Forscher auszeichnen. Der staatenübergreifende Austausch von Per-

sonen ist ein besonders wichtiger Beitrag zum Wissenstransfer. Wir teilen die
Auffassung der Europäischen Kommission, dass es gelingen muss, einen ge-

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meinsamen europäischen Arbeitsmarkt für Forscherinnen und Forscher zu
schaffen. Bisher sind auf diesem Feld aber noch kaum Erfolge zu verzeichnen.
Oft und gerade für die ehrgeizigsten und talentiertesten Forscherinnen und For-
scher ist der europäische Arbeitsmarkt nicht attraktiv genug, weil die Mobilität
über Landesgrenzen hinaus oder zwischen Universität und Privatwirtschaft eher
bestraft als honoriert wird. Zwar gibt es mit dem „Marie-Curie-Programm“ ein
erfolgreiches europäisches Instrument, das mit dem 7. FRP finanziell noch bes-
ser ausgestattet worden ist. Allerdings sind immer noch sehr wenige Forscherin-
nen und Forscher langfristig auch im europäischen Ausland beschäftigt. Es müs-
sen weitergehende Bemühungen zum Abbau von Mobilitätsbarrieren erfolgen.
Die „Europäische Charta für Forscher“ und der Verhaltenskodex für deren Ein-
stellung müssen zügig in den Mitgliedstaaten – auch in Deutschland – umgesetzt
werden. Ein besonders schwerwiegendes Hindernis für die Mobilität von
Forscherinnen und Forschern ist die Tatsache, dass häufig die Portabilität von
Sozialversicherungsansprüchen nicht gegeben oder sehr unübersichtlich und
schwierig ausgestaltet ist. Ziel muss es sein, hier zu vernünftigen europäischen
Regelungen zu gelangen, um der besonderen Bedeutung des Wissenschaftssek-
tors und den erhöhten Mobilitätsanforderungen an die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler gerecht zu werden. Wir begrüßen deshalb die Initiative der Eu-
ropäischen Kommission, hier über bilaterale Abkommen hinaus zu weiteren
Fortschritten zu gelangen. Gerade für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
aus den mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten muss der Arbeitsmarkt
geöffnet werden, allerdings ohne dass dies zu einem Ausbluten des dortigen
Wissenschaftsbereiches führt. Gleichzeitig muss auch der Austausch von Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftlern zwischen Drittstaaten und der Europäi-
schen Union erleichtert werden.

Der europäische Arbeitsmarkt wird nur dann an Attraktivität gewinnen, wenn
der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses eine hohe Priorität einge-
räumt wird. Zur erfolgreichen Gewinnung von Nachwuchswissenschaftlerinnen
und Nachwuchswissenschaftlern muss bereits früh angesetzt werden: So sollte
bereits während des Studiums intensiv für Berufs- und Karrierewege in der
Wissenschaft geworben werden. Damit universitäre und außeruniversitäre
Forschungseinrichtungen im Wettbewerb um qualifiziertes Personal bestehen
können, müssen sie dem wissenschaftlichen Nachwuchs attraktivere Arbeits-
bedingungen und verlässlichere Karrierepfade bieten, als dies bislang gerade in
Deutschland der Fall ist. Wenn strukturelle und kulturelle Hindernisse dazu füh-
ren, dass zu viele Nachwuchswissenschaftlerinnen dem Wissenschaftsbereich
beim Durchlaufen der akademischen Qualifikationsstufen verloren gehen, dann
stellt dies eine Verschwendung von Kreativitäts-, Ideen- und Innovationspoten-
zial dar, die sich Europa nicht mehr leisten kann. Insbesondere muss es gelingen,
gerade in den staatlichen Hochschulen und Forschungseinrichtungen jungen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern schon frühzeitig Möglichkeiten zu
eigenständiger Forschung zu geben. In Deutschland stellt das Festhalten an der
Habilitation immer noch ein gravierendes Hindernis für die Gewinnung von
Nachwuchswissenschaftlern dar. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass Wis-
senschaft als Beruf vor allem in den Natur- und Technikwissenschaften zu wenig
attraktiv ist. Europa leidet unter einem Mangel an Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern. Hier müssen Staat und Wirtschaft gemeinsam ansetzen.

Auch bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie der Gleichstellung von
Männern und Frauen gibt es auf dem europäischen wissenschaftlichen Arbeits-
markt noch erheblichen Nachholbedarf. Immer noch besteht, gerade in Deutsch-
land, ein Leitbild des männlichen Wissenschaftlers, der sich weitgehend frei von
familiären und sozialen Verpflichtungen einzelkämpferisch einzig auf seine
Wissenschaft konzentriert. Dieses heroisierte Berufsbild wirkt insbesondere auf

Frauen, aber auch auf junge Männer, die eine akademische Laufbahn anstreben,
abschreckend. Inzwischen verstehen es Unternehmen mitunter sehr viel besser,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/6454

ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern familienfreundliche Strukturen zu bie-
ten.

Ein weiteres zentrales Projekt des Europäischen Forschungsraumes ist der Auf-
bau von pan-europäisch integrierten Forschungsinfrastrukturen. Dabei geht es
zum einen um die Schaffung gemeinsamer europäischer Infrastrukturen, aber
auch um die virtuelle Vernetzung bereits bestehender Einrichtungen, die als
verteilte Struktur gemeinsam genutzt werden können. Nach Angaben der Euro-
päischen Kommission sind bisher 40 Prozent aller pan-europäisch relevanten
Forschungsinfrastrukturen europäisch vernetzt. Mit der Einrichtung des Euro-
päischen Strategieforums für Forschungsinfrastrukturen (ESFRI) soll eine ziel-
gerechtere Steuerung erreicht werden und die Integration der Forschungsinfra-
strukturen weiter vorangetrieben werden. Das Ziel einer langfristig und strate-
gisch ausgerichteten Forschungspolitik ist zu begrüßen. Gerade bei der Einrich-
tung von großen und teuren Forschungsinfrastrukturen hat die Planung auf
europäischer Ebene den Vorteil, dass mehrere Länder ihre Mittel bündeln kön-
nen und so ein effizienterer Einsatz der Mittel und letztlich bessere und vielfäl-
tigere Möglichkeiten für die Forscherinnen und Forscher eröffnet werden. Eine
gesamteuropäische Planung bietet den Vorteil, dass einzelstaatliche Versuche
sich mit der Errichtung von Großprojekten zu profilieren, in europäisch koordi-
nierte Bahnen gelenkt werden und so ineffiziente Doppelungen und Lücken der
Infrastruktur vermieden werden. Auch können so grenzüberschreitende, regio-
nale Forschungsverbünde und -cluster besser gefördert werden. Hinzu kommt,
dass vorbildhafte pan-europäische Infrastrukturen auch die Öffnung des Euro-
päischen Forschungsraumes zur Welt befördern, weil sie Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler aus anderen Teilen der Welt anzieht. Die Innovationsfähig-
keit vom ESFRI kann nur gesichert werden, wenn eine ausreichende Pluralität
an Forschungsthemen und -ansätzen in den Entscheidungsgremien vertreten
sind und auch die Perspektive der Technikfolgenabschätzung frühzeitig einbe-
zogen wird. Bisher ist bei vielen der Vorhaben der von ESFRI vorgeschlagenen
„Roadmap“ aber noch nicht klar, wie sie finanziert werden können. Besonders
bedenklich ist es, dass sich die Industrie bisher selbst dann nicht engagiert, wenn
die entsprechenden Einrichtungen für sie von unmittelbarem Nutzen sind.

In Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen werden über
35 Prozent aller Forschungsarbeiten in Europa durchgeführt. Ohne einen Euro-
päischen Hochschulraum (Bologna-Prozess) ist daher ein Europäischer For-
schungsraum kaum denkbar. Insbesondere für die Hochschulen, die sich an der
Schnittstelle zwischen dem Europäischen Forschungsraum und dem Europäi-
schen Hochschulraum befinden, stellt die erwünschte Europäisierung eine be-
sondere Herausforderung dar. Die europäischen Hochschulen, und dies gilt für
die deutschen Hochschulen in besonderem Maße, müssen ihre Forschungsleis-
tung im internationalen Vergleich weiter verbessern. Hierzu benötigen sie eine
wesentlich bessere Grundfinanzierung, um flächendeckend hochwertige Lehr-
und Forschungsbedingungen anbieten zu können. Gute Studienbedingungen,
unmittelbare Teilhabe von Studierenden an Forschungsprozessen und interna-
tionaler Studierendenaustausch wiederum motivieren Studierende für spätere
Wissenschaftskarrieren. In Deutschland kann eine intensivierte Kooperation mit
außeruniversitären Forschungseinrichtungen dazu beitragen, diese Faktoren zu
stärken. Zudem ist es wichtig, dass Bachelorabsolventinnen und -absolventen in
ausreichender Zahl der Übergang in Masterstudiengänge ermöglicht wird. Auch
muss für eine attraktivere Promotions- und Post-Doc-Förderung an den Hoch-
schulen gesorgt werden. Die Stärkung der sozialen Dimension des Bologna-Pro-
zesses fördert ebenfalls das Potential des europäischen wissenschaftlichen
Nachwuchses. Studierende, die sozial abgesichert und schon früh europaweit
mobil sind, werden später in ihrer Karriere wichtige Beiträge zum Europäischen

Forschungsraum leisten können.

Drucksache 16/6454 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Neben den gemeinschaftlichen Instrumenten kann auch die grenzüberschrei-
tende Kooperation bei nationalen Forschungsprogrammen zu einem europäi-
schen Mehrwert führen. Es ist sinnvoll und notwendig, dass die Mitgliedstaaten
eigene national ausgerichtete Forschungsanstrengungen unternehmen. Für einen
starken Europäischen Forschungsraum muss auch die wissenschaftliche Leis-
tungsfähigkeit in den Mitgliedstaaten verbessert werden. Es ist aber sinnvoll, bei
der Verfolgung von nationalen Forschungsprogrammen stärker als bisher darauf
zu achten, dass es dabei aus europäischer Perspektive weder zu unsinnigen Dop-
pelungen noch zu Lücken in den jeweiligen Forschungsbemühungen kommt.
Wir müssen deshalb die verabredete Kooperation und den Austausch zwischen
den Mitgliedstaaten stärken und wollen die grenzüberschreitende Vernetzung
von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern virtuell oder personell vor Ort
stärken. Kontinuität ist hierbei eine wichtige Voraussetzung für vertiefte grenz-
überschreitende Kooperation. Mit ERA-NET hat die Europäische Kommission
ein Instrument eingeführt, dass es einzelnen Forschungseinrichtungen und Wis-
senschaftsorganisationen erleichtern soll, Potenziale für mögliche Kooperatio-
nen zu erkennen und auch zu nutzen. Soweit es erste Zahlen erkennen lassen,
trifft dieser „bottom-up“-Mechanismus auf eine erfreuliche Nachfrage und sollte
in Zukunft weiterentwickelt werden. Im 7. FRP wurde darüber hinaus das Instru-
ment ERA-Net-Plus eingeführt. Die Europäische Union stellt damit zusätzliche
Mittel zur Verfügung, wenn es zu koordinierten Ausschreibungen mit gemein-
samem Mitteleinsatz kommt. Allerdings lehnen wir eine grundsätzliche Öffnung
nationaler Forschungsausschreibungen für Bewerber aus anderen Mitgliedstaa-
ten ab. Eine solche Öffnung würde letztlich auf weniger statt mehr Koordinie-
rung der nationalen Programme hinauslaufen. Als Folge könnte die EU-Kom-
mission auch die Koordinierungskompetenz für die nationalen Programme er-
halten. Dies widerspräche der Stärkung des „bottom-up“-Prozesses innerhalb
der europäischen Forschungspolitik, den wir für wichtig halten, um einen Euro-
päischen Forschungsraum zu schaffen.

In der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft ist der ungehinderte
Zugang zum jeweils neuesten Kenntnisstand die Grundvoraussetzung für erfolg-
reiche Forschungsarbeit. Wissenschaftliche Datenbestände und Online-Biblio-
theken sollten europaweit zugänglich sein. Im Zuge der Digitalisierung ergeben
sich neue Möglichkeiten für die Publikation und die Systeme der wissenschaft-
lichen Überprüfung und Begutachtung. Die Europäische Kommission hat in ih-
rer Mitteilung über wissenschaftliche Informationen im Digitalzeitalter1 bereits
einige Vorschläge zur Sicherung eines breiten Zugangs und zur Speicherung und
Bewahrung von wissenschaftlichen Informationen unterbreitet. Insbesondere
die positive Haltung der Europäischen Kommission zur Verbesserung von
Open-Access-Publikationen unterstützt der Deutsche Bundestag ausdrücklich.
Die organisatorischen, rechtlichen, technischen und finanziellen Voraussetzun-
gen für eine umfassende Umsetzung von Open-Access-Ansetzen müssen zügig
geschaffen werden. Wir begrüßen, dass im Rahmen des 7. FRP Maßnahmen, die
einen besseren Zugang zu Ergebnissen von Forschungsprojekten ermöglichen,
begünstigt werden. Auf deutscher Ebene muss das Urheberrecht schnellstmög-
lich um einen wissenschaftsfreundlichen sogenannten 3. Korb erweitert werden.
Die Bemühungen um die Schaffung eines europäischen Patentrechts müssen
nach Jahren der Auseinandersetzung endlich zu einem erfolgreichen Abschluss
gebracht werden. Nur die Einführung eines EU-Patents wird die Anmeldung
von Patenten in Europa erleichtern und damit zur Wettbewerbsfähigkeit bei-
tragen.
1 KOM(2007)56 vom 14. Februar 2007

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/6454

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich gemeinsam mit den europäischen Partnern dafür einzusetzen, dass der
Europäische Forschungsraum weiterentwickelt und gestärkt wird, so dass die
Potentiale der europäischen Forschung realisiert werden können und die
Leistungsfähigkeit der Forschung in Europa und darüber hinaus gesteigert
werden kann;

2. sich dafür einzusetzen, einen europaweiten Diskurs über Forschungsschwer-
punkte, -richtungen und -ziele zu initiieren und so die gesellschaftliche Par-
tizipation zu erhöhen. Die Möglichkeit zu Rückmeldung und Mitgestaltung
kann auch zu einer nachhaltigen Qualitätssteigerung europäischer For-
schungspolitik beitragen;

3. sich dafür stark zu machen, dass die bestehenden europäischen Strukturen der
Forschungsförderung, insbesondere das 7. FRP, der Europäische Forschungs-
rat, das Programm zum Lebenslangen Lernen und das Programm für Wett-
bewerbsfähigkeit und Innovation, gestärkt und weiterentwickelt werden und
Mechanismen der Qualitätssicherung implementiert werden. Außerdem ist
die Begleitforschung zur Wirksamkeit der Förderinstrumente zu intensi-
vieren;

4. sich dafür einzusetzen, dass in den bestehenden Förderstrukturen auch zu-
künftig ausreichende Möglichkeiten zur Förderung des wissenschaftlichen
Nachwuchses enthalten sind und die entsprechenden Instrumente weiter zu
stärken. Insbesondere die Förderung der Post-Doc-Phase und die Bildung
von selbständig forschenden Nachwuchsgruppen sollte betont werden;

5. sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass der Plan für ein Euro-
päisches Technologieinstitut aufgegeben wird, auf jeden Fall aber zu verhin-
dern, dass für dessen Errichtung Gelder aus dem jüngst gestarteten 7. FRP,
den Europäischen Strukturfonds, dem Programm „Lebenslanges Lernen“
und dem Programm für Wettbewerb und Innovation (CIP) zur Verfügung ge-
stellt werden. Anstelle des EIT sollte der Europäische Forschungsrat gestärkt
und weiterentwickelt werden;

6. sich für eine verbesserte europäische Kooperation bei den nationalen Förder-
programmen einzusetzen und wechselseitig vereinbarte Forschungskoopera-
tionen zu fördern. Instrumente wie ERA-NET und ERA-Net-Plus sollen bes-
ser bekannt gemacht und weiterentwickelt werden;

7. sich für eine stärkere Verknüpfung des Europäischen Hochschulraumes mit
dem Europäischen Forschungsraum einzusetzen. Eine erfolgreiche Umset-
zung des Bolognaprozesses in den Mitgliedstaaten muss auch bedeuten, die
Studierenden von Beginn des Studiums an stärker an die Forschung heranzu-
führen und ihnen Auslandserfahrungen im Rahmen von Studierendenaus-
tauschprogrammen (wie ERASMUS) in breitem Umfang zu ermöglichen.
Durch eine solche engere Verknüpfung wird die Attraktivität des Europäi-
schen Forschungsraumes gerade auch bei den nachwachsenden Generationen
gestärkt werden;

8. sich dafür einzusetzen, dass im Rahmen des Kohäsions- und der Struktur-
fonds verstärkt Mittel für wissenschaftliche Infrastruktur in den neuen EU-
Mitgliedsländern, die einen berechtigten Anspruch auf wirtschaftlichen und
wissenschaftlichen Anschluss an die älteren Mitglieder haben, bereitgestellt
werden;

9. sich für eine Verbesserung der forschungspolitischen Kooperation mit Ent-
wicklungs- und Schwellenländern und im Rahmen der europäischen Nach-
barschaftspolitik einzusetzen;

Drucksache 16/6454 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
10. dafür zu sorgen, dass sozial-, kultur- und geisteswissenschaftliche For-
schung inklusive Technikfolgenabschätzung von Beginn an in die einzelnen
Forschungsfelder und Forschungsprojekte einfließt. Durch solche interdis-
ziplinären Ansätze kann ein erhöhtes Innovationspotenzial in der europäi-
schen Forschung und ein weltweit einmaliges Qualitätsmerkmal erreicht
werden;

11. Strategien zu entwickeln, wie private Finanzierungsbeteiligungen oder Nut-
zungsentgelte für große europäische Forschungsinfrastrukturprojekte er-
schlossen werden können, ohne dass die Unternehmen wesentlichen Ein-
fluss auf die Ausrichtung der Forschungseinrichtung gewinnen;

12. verstärkte Anstrengungen zur Koordination der europäischen und nationa-
len Forschungsprogramme für Klimaschutz, Erneuerbare Energien, Ener-
gieeffizienz und Nachhaltigkeit zu unternehmen;

13. sich dafür einzusetzen, dass die Förderstrukturen so gestaltet werden, dass
sie die Chancen von Frauen in Wissenschaft und Forschung verbessern. Ziel
muss eine gleichstellungsorientierte Personalpolitik und die nachweisliche
Steigerung des Anteils von Frauen am wissenschaftlichen Personal auf allen
Hierarchieebenen sein;

14. sich um eine Erhöhung des Frauenanteils auch in den deutschen forschungs-
politischen Gremien nach europäischem Vorbild zu bemühen;

15. die Bemühungen zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Arbeits-
marktes für Forscherinnen und Forscher zu unterstützen. Dabei muss auch
in Deutschland das Aufenthalts- und Arbeitsrecht für Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler aus Drittstaaten sowie ihrer Familienangehörigen ver-
bessert werden. Für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Mit-
gliedstaaten muss die Portabilität von Sozialversicherungsleistungen ver-
bessert werden. Ferner muss aufbauend auf dem Bologna-Prozess die
europaweite Mobilität, Transparenz und Kompatibilität zwischen Auf-
baustudiengängen und Doktorandenprogrammen verbessert werden;

16. das europäische Patentsystem so weiterzuentwickeln, dass es Innovationen
erleichtert, statt sie zu behindern. So muss die Reichweite von Patenten be-
grenzbar sein und die von Patent-Anmeldern beantragten Rechte müssen
sorgfältiger als bisher darauf geprüft werden, ob sie als Ausschlussrechte
genutzt werden sollen, die weitere Beiträge zu Innovation, Produktivität und
Kreativität verhindern;

17. die Bemühungen der Europäischen Kommission zur Verbesserung des
Zuganges zu wissenschaftlichen Informationen und deren Archivierung
zu unterstützen und insbesondere zügig die rechtlichen Grundlagen für
eine umfassende Umsetzung von Open-Access-Ansätzen zu schaffen;

18. die Chancen des Europäischen Forschungsraumes für die weitere Entwick-
lung einer echten europäischen Öffentlichkeit zu erkennen und zu nutzen.
Gerade weil Wissenschaft immer schon international organisiert war, kann
die Verwurzelung des Europäischen Forschungsraumes in der europäischen
Gesellschaft einen Vorbildcharakter für die weitere Entwicklung der euro-
päischen Integration übernehmen.

Berlin, den 19. September 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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