Vom 30. Juli 2007
Deutscher Bundestag Drucksache 16/6178
16. Wahlperiode 30. 07. 2007
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Monika Knoche, Dr. Diether Dehm, Hüseyin-Kenan Aydin, Inge
Höger, Ulla Jelpke, Dr. Hakki Keskin, Wolfgang Neskovic, Dr. Norman Paech und
der Fraktion DIE LINKE.
Bilanzierung der bewaffneten Konflikte innerhalb und gegen die Bundesrepublik
Jugoslawien sowie der politischen und sozio-ökonomischen Entwicklung des
UNO-Protektorats Kosovo
Die friedliche außenpolitische Nachkriegsära der Bundesrepublik Deutschland
wurde spätestens 1999 mit der Beteiligung an dem völkerrechtswidrigen NATO-
Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik (BR) Jugoslawien beendet.
Bei dem seitens der NATO humanitär begründetem Krieg gegen Jugoslawien
wurden militärische Objekte und Soldaten der jugoslawischen Armee angegrif-
fen. Darüber hinaus wurden auch von der NATO als „militärisch legitime Ziele“
deklarierte zivile Objekte bombardiert. Außerdem kam es zu so genannten
menschlichen und sächlichen Kollateralschäden. Die damalige Bundesregie-
rung rechtfertigte den Angriffskrieg u. a. mit angeblich stattfindenden „Massa-
kern“, „Konzentrationslagern“ und einem kurz bevorstehenden „Völkermord“
an der albanischen Bevölkerungsminderheit Serbiens usw.
Mit Verabschiedung der UN-Resolution 1244 wurde der NATO-Krieg gegen
Jugoslawien beendet. Seither beteiligt sich Deutschland mit über 2 000 Soldaten
an der UN-mandatierten KFOR-Mission in der serbischen Provinz Kosovo. Die
Provinz ist entgegen den in der UN-Resolution 1244 formulierten Anforderun-
gen, Zielsetzungen sowie Verpflichtungen der internationalen Gemeinschaft
nicht befriedet und stabilisiert. Über 230 000 nicht-albanische Flüchtlinge und
Vertriebene konnten bislang nicht in ein sicheres Umfeld zurückkehren. Sie
leben weiterhin als Binnenflüchtlinge/-vertriebene zumeist in Zentralserbien. Es
bestehen weiterhin massive gesellschaftliche, ökonomische und politische Ver-
werfungen in der Provinz. Parallel dazu gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass
die organisierte Kriminalität im Kosovo die politischen Ebenen durchdrungen
hat.
Wir fragen die Bundesregierung:
I. Bilanz des bewaffneten Konfliktes innerhalb in der Bundesrepublik Jugosla-
wien
1. a) Wie viele Flüchtlinge/Vertriebene gab es im Zeitraum zwischen März 1998
und Dezember 1999 innerhalb des Kosovo (Binnenflüchtlinge), und in wel-
chen Monaten fanden die Flüchtlingsbewegungen verteilt auf die Ethnien
(hier Albaner, Serben/Montenegriner, Bosniaken, Türken, Ashkali und
Roma) statt?
Auf welche Quellenangaben stützen sich die Daten?
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b) Wie viele Flüchtlinge/Vertriebene verließen im Zeitraum zwischen März
1998 und Dezember 1999 den Kosovo (bitte aufgeschlüsselt nach Krite-
rium unter Frage 1a)?
c) Wie viele Menschen wurden im Zeitraum Januar 2000 bis März 2007 im
Kosovo zu Binnenflüchtlingen (bitte aufgeschlüsselt nach Kriterium un-
ter Frage 1a)?
d) Wie viele Flüchtlinge/Vertriebene verließen in dem Zeitraum Januar
2000 bis Februar 2007 den Kosovo (bitte aufgeschlüsselt nach Kriterium
unter Frage 1a)?
e) Wie viele Zivilisten und Zivilistinnen wurden im Zeitraum zwischen
Februar 1998 und Mitte Juni 1999 innerhalb des Kosovo getötet (bitte
aufgeschlüsselt nach Kriterium unter Frage 1a)?
f) Wie viele Zivilisten und Zivilistinnen wurden im Zeitraum ab Mitte Juni
1999 bis Februar 2007 innerhalb des Kosovo getötet (bitte aufgeschlüsselt
nach Kriterium unter Frage 1a)?
2. Wie viele von den getöteten Zivilisten und Zivilistinnen wurden durch KFOR
und UNMIK-Polizei und wie viele durch interethnisch motivierte Gewalt-
taten getötet (bitte aufgeschlüsselt nach Kriterium unter Frage 1a)?
3. a) Wie viele Zivilisten und Zivilistinnen wurden im Zeitraum Februar 1998
bis Mitte Juni 1999 als vermisst erklärt (bitte aufgeschlüsselt nach Krite-
rium unter Frage 1a)?
b) Wie viele von ihnen wurden wieder freigelassen oder tot aufgefunden
bzw. für tot erklärt (bitte aufgeschlüsselt nach Kriterium unter Frage 1a)?
c) Wie viele Zivilisten und Zivilistinnen wurden im Zeitraum Mitte Juni
1999 bis März 2007 als vermisst erklärt (bitte aufgeschlüsselt nach Krite-
rium unter Frage 1a)?
d) Wie viele von ihnen wurden wieder freigelassen oder tot aufgefunden
bzw. für tot erklärt (bitte aufgeschlüsselt nach Kriterium unter Frage 1a)?
e) Wie viele Flüchtlinge/Vertriebene sind seit dem Ende des engeren Kon-
fliktzeitraums (1998 bis 1999) wieder in den Kosovo zurückgekehrt?
4. a) Wie viele Flüchtlinge/Vertriebene suchten während des engeren Konflikt-
zeitraumes (Anfang 1998 bis Anfang 2000) in Deutschland Asyl (bitte
aufgeschlüsselt nach Kriterium unter Frage 1a)?
b) Wie viele asylsuchende Menschen aus der Bundesrepublik Jugoslawien,
die im engeren Konfliktzeitraum (Februar 1998 bis Mitte 1999) in
Deutschland lebten, wurden noch im selben Zeitraum zum Verlassen der
Bundesrepublik Deutschland aufgefordert (bitte aufgeschlüsselt nach
Kriterium unter Frage 4a)?
5. Wie viele jugoslawische Sicherheitskräfte und wie viele Kosovo-albanische
Rebellen wurden in dem Zeitraum zwischen März 1998 und Mitte Juni 1999
im Kosovo getötet (bitte aufgeschlüsselt nach Monaten und Quellennen-
nung)?
6. Sind der Bundesregierung seit der Antwort auf die Kleine Anfrage der
Fraktion der PDS vom 4. November 1999 „Kriegsbilanz V Gräueltaten im
Kosovo“ (Bundestagsdrucksache 14/2001) neue Dokumentationen der
Gräueltaten bekannt?
a) Welche Anzahl von ehemaligen „Konzentrationslagern“ und Gefangenen-
lager konnten inzwischen nachgewiesen werden, und wo befanden sich
diese in der Region Kosovo?
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b) Welche Erkenntnisse liegen über Anzahl, ethnische Zusammensetzung
und Schicksal der in diesen „Konzentrationslagern“ und Gefangenen-
lagern verbrachten Gefangenen vor?
c) Wie viele Gastfamilien von OSZE-Beobachtern wurden zu welchem
Zeitpunkt ermordet, und welche Erkenntnisse liegen über die Täter vor?
II. Bilanz des NATO-Krieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien
7. a) Welche Verluste gab es seitens der NATO?
b) Wurden während des NATO-Krieges gegen die Bundesrepublik Jugos-
lawien Bundeswehr-Soldaten getötet oder verletzt?
c) Wurden deutsche Waffensysteme durch Feindeinwirkung zerstört?
Wenn ja, welche Waffensysteme, und wie viele?
8. a) Welche militärischen Infrastrukturen und Waffensysteme wurden in der
Bundesrepublik Jugoslawien durch die NATO zerstört, und wie viele
(Zahlen angeben der Waffensysteme in absoluten Zahlen und Prozent der
seinerzeit vermuteten Gesamtgröße des jugoslawischen bzw. serbischen
Bestandes sowie nach Waffentypen gegliedert)?
b) Welche militärischen Infrastrukturen und Waffensysteme wurden in der
Bundesrepublik Jugoslawien durch die Bundeswehr zerstört, und wie
viele (bitte aufgeschlüsselt nach Kriterium unter Frage 8a)?
9. a) Wie viele Zivilisten und Zivilistinnen wurden auf Seiten der Bundes-
republik Jugoslawien während des NATO-Krieges durch NATO-Waffen-
systeme getötet (bitte mit Quellenangabe)?
b) Wie viele Zivilisten und Zivilistinnen wurden auf Seiten der Bundes-
republik Jugoslawien während des NATO-Krieges durch deutsche Waf-
fensysteme getötet (bitte mit Quellenangaben)?
c) Wie viele Zivilisten und Zivilistinnen wurden auf Seiten der Bundes-
republik Jugoslawien während des NATO-Krieges durch NATO-Waffen-
systeme verletzt (bitte mit Quellenangabe)?
d) Wie viele Zivilisten und Zivilistinnen wurden auf Seiten der Bundes-
republik Jugoslawien während des NATO-Krieges durch deutsche Waf-
fensysteme verletzt (bitte mit Quellenangabe)?
10. a) Welche zivilen Infrastrukturen wurden in der Bundesrepublik Jugosla-
wien durch die NATO zerstört, und wie viele Infrastrukturobjekte (auf-
geteilt nach Kategorien wie Schulen, Fabriken, Brücken etc.)?
b) Welche dieser zivilen Infrastrukturen wurden durch die NATO als „legi-
time militärische Ziele“ deklariert und zerstört bzw. angegriffen (aufge-
schlüsselt nach Kriterium unter Frage 10a)?
c) Welche zivilen Infrastrukturen wurden in der Bundesrepublik Jugosla-
wien durch die Bundeswehr zerstört, und wie viele Infrastrukturobjekte
(aufgeschlüsselt nach Kriterium unter Frage 10a)
III. Organisierte Kriminalität in Kosovo und Deutschland
11. Über welche Informationen verfügt die Bundesregierung bezüglich organi-
sierter Kriminalität in der serbischen Provinz Kosovo und deren personelle
und operative Verquickung mit der politischen Ebene?
a) Wie bewertet die Bundesregierung die Qualität der Verbindung von orga-
nisierter Kriminalität und Politik hinsichtlich des Aufbaus stabiler und
tragfähiger staatlicher Strukturen der serbischen Provinz Kosovo?
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b) Verfügt die Bundesregierung über Kenntnisse im Hinblick auf organi-
sierte Kriminalität, die aus der serbischen Provinz Kosovo heraus in
Deutschland operiert?
12. Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass das bayerische und
das niedersächsische Landeskriminalamt, aber auch die Polizei in Öster-
reich und Italien, zentrale Ermittlungen hinsichtlich der organisierten Kri-
minalität in Deutschland mit Verbindung in die serbische Provinz Kosovo
durch das BKA (Bundeskriminalamt) zum hier einschlägigen Thema
wünschten, diese aber vom BKA abgelehnt wurden?
a) Ist es zutreffend, dass die Weisung für die Ablehnung zentraler Ermitt-
lungen aus dem Bundesministerium des Innern kam?
Wenn ja, welche Gründe gab es für diese Weisung?
b) Wenn nein, warum weist die Bundesregierung das BKA nicht an, ent-
sprechende Ermittlungen aufzunehmen oder Amtshilfe gegenüber den
anderen Behörden zu leisten?
13. a) Ist der Bundesregierung bekannt, dass Hashim Thaci im Zusammenhang
mit umfangreichen Drogen- und Waffengeschäften im Oktober 2003 in
engem Kontakt zur in Deutschland lebenden „Kelmendi-Familie“ ge-
standen haben soll?
b) Kann die Bundesregierung Gründe angeben, weshalb die von Serbien
ausgestellten internationalen Haftbefehle gegen Hashim Thaci und wei-
tere gesuchte Personen (z. B. Agim Ceku bis zu seiner Nominierung als
Premierminister) bislang nicht vollstreckt wurden?
14. Wie erklärt die Bundesregierung, dass sie Kraft ihrer Mitgliedschaft in der
Internationalen Polizei Organisation (Interpol) sich auch dem Statut dieser
Organisation sowie den einschlägigen Resolutionen (hier insbesondere zu
verweisen auf Resolution NO AGN/53/RES/6 von September 1984, dem-
nach keine politischen Gründe gegen eine Auslieferung geltend gemacht
werden dürfen) der Generalversammlung von Interpol zu unterwerfen hat,
jedoch dieser Verpflichtung im Fall des genannten serbischen, internationa-
len Haftbefehls nicht nachkommt?
15. Kann die Bundesregierung konkrete Aufklärung darüber leisten, inwiefern
die UN-Resolution 1244 aus dem Jahr 1999 bezüglich der Kosovo-Proble-
matik oder andere völkerrechtliche Dokumente, der UNMIK Kompetenzen
einräumen, internationale Haftbefehle seitens des souveränen Staates Ser-
bien mit Blick auf Staatsbürger Serbiens (wozu die Bürger der serbischen
Provinz Kosovo nach wie vor gehören bzw. unter Beachtung des speziellen
Status des Kosovo zumindest bis Juni 1999 jurisdiktiv gehörten; also bis zu
dem Zeitpunkt, an dem die Angeschuldigten die ihnen vorgeworfenen Taten
begangen haben sollen) für nicht rechtskräftig zu erklären bzw. die Staaten
aufzufordern, dem internationalen Haftbefehl nicht nachzukommen?
IV. Sozio-ökonomische Entwicklung
16. Wie hoch ist das Bruttosozialprodukt des Kosovo absolut und per Kopf (auf-
geschlüsselt nach Jahren von 2000 bis 2006 und Nennung der Quelle)?
17. Wie groß ist der Haushalt des Kosovo (aufgeschlüsselt wie unter Frage 16)?
a) Wie hoch ist der Anteil internationaler Hilfe am Haushalt?
b) Wie hoch ist der Eigenanteil am Haushalt?
18. Wurde seit dem Jahr 1999 ein Steuersystem aufgebaut?
19. Welche Sozialstaatsreformen wurden durchgeführt?
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20. Wurde seit dem Jahr 1999 ein Rentensystem aufgebaut?
21. Wurde seit dem Jahr 1999 ein Krankenkassensystem aufgebaut?
Wenn nein, warum nicht?
22. Wie hoch ist die offizielle Arbeitslosigkeit im Kosovo (aufgeschlüsselt wie
unter Frage 16)?
23. Gibt es derzeit oder zeitnah relevante internationale Investitionsvorhaben
(Arbeitsplätze mit mindestens 100 Mitarbeitern) im Kosovo?
24. Existieren Arbeitnehmervertretungen (Betriebsrats- und Personalratsstruk-
turen sowie Gewerkschaften)?
25. Kann die Bundesregierung einschätzen, ob Kosovo als selbständiger Staat
ohne internationale Finanzhilfen bestehen, d. h. wirklich unabhängig sein
könnte?
Wenn nein, wie hoch schätzt sie den jährlichen Bedarf (bis 2017) an inter-
nationaler Hilfe?
V. März-Unruhen 2004
26. Verfügt die Bundesregierung über Informationen, die bestätigen oder wider-
legen können, dass die Unruhen im Kosovo vom März 2004 durch in die
organisierte Kriminalität verstrickte Akteure vorbereitet worden sind?
27. Verfügt die Bundesregierung über Erkenntnisse, dass der Bundesnachrich-
tendienst und die Bundeswehrführung (Einsatzführungskommando) in Ber-
lin und im Kosovo bereits vor den Unruhen Mitte März 2004 über deren
Vorbereitung Kenntnisse besaß?
Berlin, den 26. Juli 2007
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion