BT-Drucksache 16/6080

Anpassung der Sozialgesetzgebung für Kultur-, Medien- und Filmschaffende

Vom 6. Juli 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6080
16. Wahlperiode 06. 07. 2007

Antrag
der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Diether Dehm,
Werner Dreibus, Cornelia Hirsch, Kornelia Möller, Wolfgang Neskovic, Petra Pau,
Dr. Petra Sitte, Volker Schneider (Saarbrücken), Oskar Lafontaine, Dr. Gregor Gysi
und der Fraktion DIE LINKE.

Anpassung der Sozialgesetzgebung für Kultur-, Medien- und Filmschaffende

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Kultur ist eine zentrale Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe und integraler
Bestandteil einer modernen Gesellschaft. Ihre Förderung dient in demokrati-
schen Gesellschaften der Fixierung ihres zivilisatorischen Selbstverständnisses
und der Aufrechterhaltung sowie der immerfort notwendigen Verbesserung ihres
grundlegenden gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Förderung von Kultur
und Medien bildet zugleich einen konstitutiven Bestandteil des europäischen
Einigungsgedankens.

Eine Besonderheit des Kulturbereichs in Deutschland – aber auch in anderen
europäischen Ländern – besteht darin, dass kurzzeitige Beschäftigungsverhält-
nisse bei ständig wechselnden Einrichtungen für Kultur-, Medien- und Film-
schaffende nicht die Ausnahme, sondern den Regelfall bilden. In Deutschland
hat sich im Zuge der Einführung der so genannten Hartz-Gesetze die wirt-
schaftliche und soziale Lage dieser Personengruppe existenzbedrohend ver-
schlechtert.

Die zum 1. Februar 2006 wirksam gewordene Verkürzung der Rahmenfrist von
3 auf 2 Jahre (§ 124 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch – SGB III) hat dazu
geführt, dass etwa 50 000 Personen aus diesen Beschäftigungsgruppen die zur
Erlangung von Arbeitslosengeld I (ALG I) erforderliche Anwartschaftszeit von
12 Monaten (§ 123 SGB III) nicht mehr erfüllen können. Obwohl diese Per-
sonen während ihrer Beschäftigung Beiträge zur Arbeitslosenversicherung leis-
ten, bleiben sie von Lohnersatzleistungen aus dieser Versicherung im Rahmen
der Ausübung ihrer Beschäftigung ausgeschlossen.

In anderen europäischen Ländern wurden vergleichbare wirtschaftliche und so-
ziale Problemkonstellationen in der Situation von Kultur-, Medien- und Film-
schaffenden erkannt und durch die Überführung in spezifische nationalstaat-

liche Regelungssysteme gelöst. In Deutschland ist eine landesspezifische Lösung
des skizzierten Problems dringend erforderlich. Andernfalls besteht die Gefahr,
dass die Qualität und die künstlerische Gestaltungsfreiheit in einem erheblichen
Maße eingeschränkt wird und die Kreativschaffenden ihren Auftrag zur kultu-
rellen Grundlage einer modernen Gesellschaft nur noch eingeschränkt leisten
können.

Drucksache 16/6080 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die besonderen Arbeitsbedingungen in der Kultur-, Medien- und Filmbranche
durch eine Anpassung der Sozialgesetzgebung zu berücksichtigen und § 123
SGB III derart abzuändern, dass für Kultur-, Medien- und Filmschaffende mit
wechselnden oder befristeten Anstellungen die Anwartschaftszeit von 12 auf
5 Monate herabgesetzt wird.

Berlin, den 4. Juli 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Die Gesetzgebung zur Sozialversicherung und Arbeitslosenversicherung wurde
durch die so genannten Hartz-Gesetze verschärft. Genügte vorher der Nachweis
von 360 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungstagen innerhalb der letz-
ten drei Jahre, so muss diese Anwartschaft nun innerhalb einer Rahmenfrist von
nur noch zwei Jahren erbracht werden. Für die überwiegende Zahl der Kultur-,
Medien- und Filmschaffenden mit wechselnden oder befristeten Anstellungen
hat dies zur Folge, dass für sie keine realistische Möglichkeit mehr besteht,
einen Anspruch auf ALG I zu erwerben. Bestenfalls erhalten sie ALG II, zu
dessen Bezug sie vorher allerdings, bis auf einen geringen Freibetrag, das
eigene Vermögen aufzehren müssen.

Das Problem wurde bereits in Auswertung der 15. Legislaturperiode von der
Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ durchgeführten Anhörung
„Auswirkungen der Hartzgesetzgebung auf den Kulturbereich“ parteiübergrei-
fend erkannt. Der Kommissionsbericht dazu resümierte: „Die Experten der An-
hörung äußerten einvernehmlich, dass die Änderungen der Rahmenfrist sich
nachteilig auf den Bezug von Arbeitslosengeld der Künstlerinnen und Künstler
auswirken werde. Es wurde festgestellt, dass die Änderungen die Besonderhei-
ten der Kulturberufe nicht berücksichtigen. Bei der Abfassung des Gesetzes sei
ersichtlich ein ‚Normalarbeitsverhältnis’ zu Grunde gelegt worden. Kurzzeitige
Beschäftigungsverhältnisse bei ständig wechselnden Einrichtungen blieben
außer Betracht, obwohl sie im Kulturbereich den Regelfall bilden würden.“
(Kommissionsdrucksache 16/18b)

Die seinerzeit von dem Vertreter der Bundesagentur für Arbeit eingeräumte
Möglichkeit einer potentiellen Schlechterstellung von Kulturschaffenden
wurde in einer aktualisierten Stellungnahme der Bundesagentur für Arbeit von
März 2006 ausdrücklich bestätigt: „Wie bereits in der Stellungnahme vom Mai
2005 ausgeführt, kann die Verkürzung der Rahmenfrist für den Bezug von Ar-
beitslosengeld gerade bei der Berufsgruppe der Künstlerinnen und Künstler
dazu führen, dass die Anspruchsvoraussetzungen nicht mehr erfüllt werden.
[…] Es muss deshalb bei der pauschalen und durch Ihre seit 1. Februar 2006
gemachten Erfahrungen offenbar bestätigten Annahme bleiben, dass diese Be-
rufsgruppe in besonderem Maße von der genannten Rechtsänderung betroffen
sein kann.“ (a. a. O.)

Betroffen sind nicht nur Künstlerinnen und Künstler, sondern alle auf Produkti-
ons- oder Projektdauer Beschäftigte im Kultur-, Medien- und Filmbereich. Die
Interessenvertreter der Beschäftigten aus diesen Branchen haben daher den
Versuch unternommen, die durch die Hartzgesetzgebung genommene soziale

Absicherung über tarifliche Regelungen abzufedern. Für Film- und Fernseh-
schaffende sollte der Problematik dadurch begegnet werden, dass die für sie

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6080

typischen überlangen täglichen Arbeitszeiten über ein Zeitkonto in sozialver-
sicherungspflichtige Beschäftigungszeiten umgewandelt werden. Doch ist zu
beobachten, dass solche Lösungen in der Praxis wenig bewirken, da nicht ein-
mal die von Landes- oder Bundesinstitutionen geförderten Filmproduktionen
den Tarifvertrag einhalten.

Das Problem besteht in vergleichbarer Weise im europäischen Ausland. Son-
derregelungen wurden daher in etlichen Staaten geschaffen. Im Bericht der
Enquete-Kommission wurden das Schweizer und das Französische Modell be-
nannt. Eine Regelung für Deutschland hat die spezifische Situation der hiesigen
Kultur-, Medien- und Filmschaffenden aufzunehmen. Dazu ist der Nachweis
von bisher 12 Monaten sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung innerhalb
der Rahmenfrist von zwei Jahren auf 5 Monate herabzusetzen. Letztere Zahl
basiert auf den Erfahrungen der Interessensvertreter und -verbände der Be-
schäftigten in diesen Branchen und würde es erlauben, nicht nur die wenigen
Kultur-, Medien- und Filmschaffenden mit guter Auftragslage abzusichern,
sondern auch eine Mehrheit von Kreativbeschäftigten mit einem darunter lie-
genden Niveau.

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