BT-Drucksache 16/5253

Teilhabechancen für Kinder und Jugendliche aus armen Haushalten fördern

Vom 9. Mai 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5253
16. Wahlperiode 09. 05. 2007

Antrag
der Abgeordneten Markus Kurth, Dr. Thea Dückert, Irmingard Schewe-Gerigk,
Volker Beck (Köln), Katrin Göring-Eckardt, Monika Lazar, Winfried Nachtwei, Omid
Nouripour, Claudia Roth (Augsburg) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Teilhabechancen für Kinder und Jugendliche aus armen Haushalten fördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In der Bundesrepublik Deutschland bestimmt noch immer weitgehend der so-
ziale Status der Eltern den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen. So ist
zum Beispiel ein Ergebnis der PISA-Studie, dass Kinder aus der oberen Ein-
kommensschicht bei gleichen kognitiven Fähigkeiten eine sechs mal höhere
Chance haben, ein Gymnasium zu besuchen, als jene aus unteren bis mittleren
Einkommensschichten. Angesichts der Tatsache, dass jedes sechste Kind in
einer Familie lebt, die Sozialleistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II, SGB XII) bezieht, müssen armutsbedingte Benach-
teiligungen beseitigt werden, die einer gleichberechtigten Teilhabe dieser Kin-
der an Bildungsangeboten im Wege stehen. Betroffen sind nicht nur Familien,
die Leistungen nach dem SGB II und SGB XII oder dem Asylbewerberleis-
tungsgesetz beziehen, sondern auch der immer größer werdende Kreis der Fami-
lien mit einem Niedriglohn. Der wirtschaftliche Aufschwung geht an armen
Familien mit Kindern vorbei. Im März 2007 bezogen 1 846 039 Personen unter
15 Jahren Sozialgeld nach dem SGB II. Das sind 10 Prozent mehr Kinder und
Jugendliche (absolut 173 000) als im Jahr zuvor.

Entscheidend für die Start- und Bildungschancen dieser Kinder aus armen
Familien ist die Bereitstellung eines umfassenden und hochwertigen Förder- und
Bildungsangebots. Eine früh einsetzende und individuell ausgerichtete Förde-
rung von Kindern und Jugendlichen kann maßgeblich dazu beitragen, sozialer
und kultureller Exklusion entgegenzuwirken und Armutskarrieren zu verhin-
dern. Dazu gehört eine gute vorschulische Förderung durch den Rechtsanspruch
auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr, die Abkehr von der frühen
Selektion im Schulsystem sowie die umfassende Unterstützung in rhythmisier-
ten Ganztagsschulen. Notwendig ist zudem eine ausreichend finanzierte und in-
telligent vernetzte Infrastruktur in der Familienbildung und -beratung. Aller-
dings besteht neben diesen zentralen Herausforderungen auch die Aufgabe,
mögliche Barrieren beim Zugang zu diesen Bildungsangeboten zu beseitigen.

Deshalb sind vor allen Dingen die Länder und die Kommunen gefordert, solche
Barrieren zu verhindern bzw. abzubauen. Zusätzlich stellt das soziale Leistungs-
recht eine Möglichkeit dar, Härtefällen entgegenzuwirken.

Das Sozialhilferecht sieht vor, dass bei Kindern und Jugendlichen der notwen-
dige Lebensunterhalt auch den besonderen, insbesondere den durch ihre
Entwicklung und ihr Heranwachsen bedingten Bedarf umfasst (§ 27 Abs. 2

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SGB XII). Dieser besondere, entwicklungsbedingte Bedarf von Kindern wird
im Sozialgeld für Kinder jedoch nicht erfasst, da die Regelsätze für Kinder pau-
schal aus dem Eckregelsatz eines erwachsenen, allein stehenden Haushaltsvor-
standes abgeleitet werden. Einmalige Leistungen, die in der alten Sozialhilfe vor
dem Jahr 2005 primär für die besonderen entwicklungsbedingten Bedarfe von
Kindern in Anspruch genommen wurden, sind im neuen Sozialgeld pauschal in
den Regelsatz integriert worden. Mehrfach durchgeführte pauschale Ableitun-
gen bei der Berechnung der Kinderregelsätze haben zur Folge, dass im Regel-
satz für Kinder beispielsweise nur 2,55 Euro pro Tag für Nahrungsmittel und
Getränke und keine Ausgaben für Bildung vorgesehen sind.

Bei längerem Leistungsbezug sind die betroffenen Familien vielfach nicht in der
Lage, Rücklagen für die im pauschalierten Regelsatz enthaltenen Ausgaben-
positionen zu bilden. Dies führt insbesondere in Haushalten mit Kindern häufig
dazu, dass Mittel für die Anschaffung von Büchern, für die sportliche oder
künstlerische Betätigung, für die Teilnahme am Schulessen, für den Mehrauf-
wand für eine gesunde Ernährung oder für die Fahrkarte zur Schülerbeförderung
nicht aufgebracht werden können.

Die Situation von armen Familien mit Kindern wird durch die Kürzungen eini-
ger Bundesländer im Bereich der Lernmittelfreiheit und einschränkenden Rege-
lungen zur Schülerbeförderung in nicht akzeptabler Weise verschärft. Mit ihren
finanzpolitisch motivierten Kürzungen bei den Lernmitteln für Schüler bauen
Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen in nicht vertretbarer
Weise besondere Härten für Kinder aus einkommensschwachen Familien beim
Zugang zu Bildungsangeboten auf. Sie belasten die Kommunen, die in einigen
Fällen bereits dazu übergangen sind, mit eigenen Mitteln, soziale Härten bei
Kindern und Jugendlichen vor Ort abzufedern. Einige Bundesländer erstatten
die Kosten der Schülerbeförderung lediglich bis zur 10. Schulklasse. Dadurch
wird es insbesondere in ländlichen Räumen armen Familien mit Kindern er-
schwert, ihre Kinder eine weiterführende Schule bzw. die Oberstufe besuchen zu
lassen.

Aufgrund der unzureichenden Erfassung entwicklungsbedingter Bedarfe von
Kindern in den pauschalierten Regelsätzen und der ungenügenden Bildungs-
förderung durch die Bundesländer sind die Möglichkeiten einer gezielten Förde-
rung von armen Kindern stark eingeschränkt. Dies ist keine unabänderliche
Tatsache. Durch besondere Hilfen und Sachleistungen können Teilhabechancen
eröffnet werden.

II. Der Deutsche Bundestag appelliert an die Landesregierungen,

dafür Sorge zu tragen, dass Familien die Leistungen nach dem SGB II (Arbeits-
losengeld II), dem SGB XII, dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen oder
den Kinderzuschlag nach § 6a des Bundeskindergeldgesetzes erhalten,

1. weiterhin mit Lernmitteln ausgestattet werden,

2. über die Ausstattung mit Schulbüchern hinaus, zusätzlich auch Schulmaterial
vor Ort in den Schulen erhalten,

3. bis zum Erhalt der allgemeinen und fachgebundenen Hochschulreife die
Schülerbeförderungskosten mit dem öffentlichen Personennahverkehr erstat-
tet werden.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

es den Kostenträgern des SGB II, SGB XII und des Asylbewerberleistungsge-
setzes zu ermöglichen, Sachleistungen zu gewähren, die der körperlichen, geis-

tigen und sozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen dienen. Berech-
tigte dieser Sachleistungen sollen Kinder und Jugendliche in Familien sein, die

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Leistungen nach dem SGB II, SGB XII und dem Asylbewerberleistungsgesetz
beziehen und solche, die den Kinderzuschlag nach § 6a des Bundeskindergeld-
gesetzes erhalten. Sachleistungen sind z. B.:

a) Lernmittel und Schulmaterial in begründeten Fällen, sofern keine Erstattung
durch das Bundesland vorgesehen ist.

b) Mahlzeiten im Rahmen der Ganztagsbetreuung in Kindertagesstätten und
Schulen.

c) Die Inanspruchnahme von kommunalen Sportangeboten, Musikschulen und
Bibliotheken.

d) Kosten für die Schülerbeförderung in begründeten Fällen, sofern keine Er-
stattung durch das Bundesland vorgesehen ist.

Berlin, den 9. Mai 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

1. Vor dem Hintergrund steigender Armutsgefährdungen von Familien mit Kin-
dern ist nicht nachvollziebar, dass einige Bundesländer sich sukzessive von
der Verantwortung für alle Schülerinnen und Schüler verabschieden. Kürzun-
gen im Bereich der Lernmittel und der Schülerbeförderung sind nicht hin-
nehmbare besondere Härten für Kinder aus einkommensschwachen Familien
beim Zugang zu Bildungsangeboten. Dies gilt in gleicher Weise für eine zeit-
liche Begrenzung der Schülerbeförderung bis zur 10. Schulklasse, die insbe-
sondere armen Kindern im ländlichen Raum den Besuch der Oberstufe er-
schwert. Sofern die Länder überhaupt noch Lernmittel zur Verfügung stellen
bzw. erstatten, so ist dies auf Schulbücher begrenzt. Im Bildungsauftrag der
Länder sollte über die Ausstattung mit Schulbüchern hinaus, auch die Versor-
gung mit Schulmaterial (für Taschenrechner, Schreibmaterialen, etc.) in den
Schulen enthalten sein, um allen Kindern die gleichen Voraussetzungen für
den Schulbesuch zu gewährleisten.

2. Die Kinderregelsätze werden nicht nach dem besonderen Bedarf von Kin-
dern, sondern pauschal aus dem Eckregelsatz eines erwachsenen, allein ste-
henden Haushaltsvorstandes abgeleitet. Für Kinder bis zur Vollendung des
14. Lebensjahres ist dies in Höhe von 60 Prozent und für Kinder ab 15 Jahren
in Höhe von 80 Prozent (§ 28 Abs. 1 Nr. 1 SGB II) des Eckregelsatzes von
derzeit 345 Euro der Fall.

Der Eckregelsatz orientiert sich an den unteren 20 Prozent der Einkommen
von Ein-Personen-Haushalten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe.
Es handelt sich hierbei um eine Bezugsgruppe, die im besonderen Maße
armutsgefährdet ist. Nach einer Untersuchung der Armutsforscherin Irene
Becker (2006) im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung hat diese Bezugs-
gruppe nach den Ergebnissen der letzten Einkommens- und Verbrauchsstich-
probe aus dem Jahr 2003 ihr Vermögen abbauen müssen. Außerdem ist die
Bezugsgruppe der unteren 20 Prozent der Einkommen in Ein-Personen-
Haushalten, die zu 50 Prozent aus Rentenbeziehenden besteht, nicht geeig-
net, die daraus wiederum pauschal abgeleiteten besonderen Bedarfe für Kin-
der, abzubilden. Dies gilt insbesondere für solche Ausgaben, die für eine

gleichberechtigte Teilhabe an Bildungsangeboten erforderlich sind. Für Bil-
dung, wie z. B. die Teilnahme an Kursen oder an einem Schüleraustausch,

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sind im Regelsatz gar keine Ausgabenpositionen vorgesehen. Durch pau-
schale Abschläge und prozentuale Ableitungen sind im Regelsatz für Bücher,
Schreibwaren, Software, Ausleihgebühren, Schulmaterialien und Tagesaus-
flüge 12,77 Euro pro Monat vorgesehen. Für den Besuch von Sport- und Kul-
turveranstaltungen bzw. Einrichtungen stehen einem armen Kind 3,76 Euro
pro Monat zur Verfügung. Für Nahrungsmittel und Getränke sind 2,55 Euro
pro Tag für ein Kind im Regelsatz enthalten. Ein Essen in der Schule oder in
der Kindertagesstätte liegt vielfach bereits über diesem Tagessatz. Diese An-
teile entsprechen nicht den realen Lebensverhältnissen und nicht dem beson-
deren entwicklungsbedingten Bedarf von Kindern.

Waren im Bundessozialhilfegesetz vor dem Jahr 2005 noch vielfältige Ein-
zelleistungen für Krankheit, Schulbedarf, Schulmöbel etc. gewährleistet,
wird nach den Regelungen des SGB II und des SGB XII als einmalige Leis-
tung lediglich noch die Erstattung der Kosten für eine mehrtätige Klassen-
fahrt vorgesehen. Mit Einführung der Pauschalierung seit dem 1. Januar 2005
wurde der alte Regelsatz nach dem Bundessozialhilfegesetz pauschal als Er-
satz für die früher ausgezahlten einmaligen Leistungen erhöht. In diesem
pauschalen Aufschlag wurden jedoch die einmaligen Bedarfe für Kinder
durch eine altersunspezifische Erfassung relativiert.

Gegenwärtig können SGB-II- und SGB-XII-Leistungsträger selbst im Einzel-
fall keine Lernmittel und Schülerbeförderungskosten auf dem Weg der
Vorleistung zur Verfügung stellen. Aus diesem Grunde ist es dringend erfor-
derlich, den Sozialleistungsträgern die Möglichkeit einzuräumen, Sachleis-
tungen, die der körperlichen, geistigen und sozialen Entwicklung von Kindern
und Jugendlichen dienen, zu gewähren. Von diesen Möglichkeiten soll kein
Kind aus einer armen Familie ausgeschlossen sein. Daher sind Kindergeld-
zuschlagsbeziehende ebenfalls als Sachleistungsberechtigte einzubeziehen.

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