BT-Drucksache 16/5203

Institutionalisierter Lobbyismus

Vom 30. April 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5203
16. Wahlperiode 30. 04. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill, Dr. Gesine
Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder, Heidrun Bluhm, Roland Claus, Katrin
Kunert, Dorothee Menzner, Michael Leutert, Ulla Lötzer, Dr. Kirsten Tackmann und
der Fraktion DIE LINKE.

Institutionalisierter Lobbyismus

Wie verschiedene Anfragen aus der Fraktion DIE LINKE. und der Fraktion der
FDP ergeben haben, gibt es eine für die breite Öffentlichkeit überraschend neue
Ebene, auf der Industrie-, Wirtschafts- und Verbandsvertreter ihre Lobby-Inte-
ressen einbringen können: durch direkte Mitarbeit in den Ministerien neben der
indirekten durch Beratung von Ministerien. Von der Bundesregierung wurde
bisher bestritten, dass dabei Interessenkonflikte entstehen könnten. Hierzu sind
einige Fragen offen geblieben.

So erklärte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine entsprechende
Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE.),
veröffentlicht auf Bundestagsdrucksache 16/2415 (Antwort auf Frage 56), im
August 2006 hätte im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit (BMU) eine Mitarbeiterin der Firma Bayer AG an der Aufgaben-
erledigung in den Bereichen der EU- und WHO-Aktionspläne „Umwelt und
Gesundheit“, der Forschung auf den Gebieten Umwelt und Gesundheit sowie
der gesundheitlichen Bewertung von Bauprodukten mitgewirkt. Zuvor sei ein
Vertreter der BASF AG im BMU ähnlich tätig gewesen. Die Vertraulichkeit von
Informationen in den Ministerien sei aber durch innerorganisatorische Maß-
nahmen und durch entsprechende Verpflichtungen der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter aus den Unternehmen gewährleistet; insbesondere achteten die je-
weiligen Vorgesetzten darauf, dass den betreffenden Personen keine Aufgaben
übertragen würden, die Auswirkungen auf die entsendenden Unternehmen
hätten.

Diese Antwort ist unbefriedigend. Unter anderem deshalb, weil sich in der
Praxis die angedeuteten Abgrenzungen kaum vornehmen lassen dürften, Ver-
bändevertreter keinen konkreten entsendenden Unternehmen zuzuordnen sind,
und überdies die Rolle der wertvollen informellen Informationen bei der Argu-
mentation der Bundesregierung keine Rolle spielt. In Bezug auf die im BMU
beschäftigten Firmenvertreter von Bayer und BASF ist es zudem offensichtlich,
dass diese an Programmen mitwirkten, welche die Geschäftsfelder der Konzerne

betreffen, die sie ins Ministerium entsendet haben.

Von der Lobbyismusdebatte bislang unbeachtet ist die Tatsache, dass Wirt-
schaftsvertreter seit Jahrzehnten in für die Ministerien arbeitenden Kommissio-
nen, Beiräten oder so genannten Ausschüssen Sitz und Stimme haben. Die Gre-
mien beteiligen sich an der Ausarbeitung von Merkblättern, Leitfäden und
anderen Hilfsmitteln zur Interpretation und Anwendung von Gesetzen und Ver-

Drucksache 16/5203 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

ordnungen und an der Beratung der Bundesregierung. Im Rahmen dieser Betei-
ligung berät die Industrie damit über die Regeln, nach denen ihre eigenen Anla-
gen betrieben werden sollen. Sie bestimmt letztlich auch mit über den Umfang
der Restriktionen und der Überwachung, denen der Betrieb ihrer Anlagen unter-
liegt.

Die Mitarbeit von Industrievertretern in Beratungsgremien ist grundsätzlich
sinnvoll, um deren Praxisbezug und das spezifische Know how zu nutzen. Aus
ähnlichen Gründen sind dort schließlich auch Vertreter von Umweltverbänden
oder Gewerkschaften beteiligt. Der Zweck wird jedoch verfehlt, und zum Teil
ins Gegenteil verkehrt, wenn die Mehrheitsverhältnisse und Diskussionskultur
in den Gremien so sind, dass sich regelmäßig einseitig Interessen durchsetzen
können.

Im Interesse der Industrie liegt aus nahe liegenden Gründen, ihren Geschäften
unter möglichst wenig Auflagen und Beschränkungen nachzugehen. Dies wird
dann problematisch, wenn damit Gefahren für Mensch und Umwelt verbunden
sein können. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, auch die Argumente aus
einem weiten Kreis von Betroffenen in angemessener Weise in die Empfeh-
lungen der Gremien einzubeziehen. Neben Personen mit entsprechendem Er-
fahrungs- und Kenntnishintergrund aus der Industrie, von Behörden und tech-
nischen Sachverständigen müssen auch Wissenschaftler, Umweltverbände,
Arbeitnehmervertreter und Betroffenenverbände so beteiligt werden, dass eine
tatsächliche Abwägung der unterschiedlichen Interessen stattfinden kann.

Da aber weder die zu Grunde liegenden Gesetze noch die Geschäftsordnungen
dieser Kommissionen in der Regel ausreichend Minderheitenrechte vorsehen,
kann meist eine „große Koalition“ aus Vertretern von Unternehmen und an deren
Erfolg interessierten Vertreter von Wirtschaftsverbänden, Landesbehörden und
gelegentlich auch Wissenschaftlern die Richtung vorgeben. Der Zusammenhalt
dieser Gruppen resultiert möglicherweise auch aus dem Bedürfnis, eine in der
täglichen Arbeit etablierte Praxis nicht in Frage stellen zu müssen und daher
allen Neuerungen eher abwehrend entgegenzutreten.

Diese geschilderte Praxis wird dadurch befördert, dass Industrieunternehmen
in einer Kommission in verschiedenen Funktionen beteiligt werden können,
z. B. unmittelbar als Vertreter des Unternehmens, als Vertreter eines Industrie-
verbandes oder als Delegierter aus anderen Beratungsgremien. Dadurch sind
sie überrepräsentiert. Kritische Positionen von z. B. von Umwelt- oder alterna-
tiven Verkehrsverbänden finden so oft nur protokollarische Beachtung, selten
aber Niederschlag in den verabschiedeten Texten. Eine ausgewogene und nicht
auf die einseitige Durchsetzung von Einzelinteressen gerichtete Beratung ist
unter diesen Voraussetzungen kaum zu erwarten. Trotzdem wird das Ergebnis
mit der angeblich pluralistischen Zusammensetzung der Gremien gerechtfer-
tigt.

Diese unbefriedigende Situation wird noch dadurch verschärft, dass die Arbeit
in den Kommissionen per Definition ehrenamtlich ist, also in der Regel ohne
Aufwandsentschädigung erfolgt. Die Ehrenamtlichkeit trifft aber nur in der
Theorie auf alle Mitglieder in gleicher Weise zu.

Tatsächlich erfolgt die Kommissionsarbeit für die Wirtschaftsvertreter und auch
für die Vertreter der Landesbehörden, der Wissenschaft usw. in deren Dienstzeit
und mit dienstlichem Auftrag. Diesen Personen entstehen keine persönlichen
Nachteile durch die Mitarbeit in Kommissionen. Lediglich die überwiegend
ehrenamtlichen Vertreter von Umweltverbänden oder auch die berufenen Ein-
zelpersonen in den Gremien arbeiten in ihrer Freizeit oder im Urlaub. Sie neh-
men persönliche Belastungen und finanzielle Nachteile in Kauf. Mit dieser
Differenzierung werden kritische Positionen zusätzlich marginalisiert und deren

Wortführer in ihrer Arbeit nicht unerheblich belastet. Die Chancengleichheit

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5203

wird auch dadurch beeinträchtigt, dass diese Personengruppe nicht auf die Res-
sourcen ihrer Arbeitsstelle zurückgreifen kann. Auch so wird die Durchsetzung
einseitiger Interessen gefördert.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie können die „jeweiligen Vorgesetzten darauf achten“, dass Vertretern der
Wirtschaft in Ministerien „keine Aufgaben übertragen werden, die Auswir-
kungen auf die entsprechenden Unternehmen haben“, wenn sich diese mit
Fragen beschäftigen, die grundsätzlich mit der Weiterentwicklung von ge-
setzlichen und untergesetzlichen Regelwerken zu tun haben, wie beispiels-
weise die Mitarbeiter der BASF und der Bayer AG im Bundesministerium für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, die sich mit Fragen aus den
Komplexen Umwelt und Gesundheit, Umwelt und Wirtschaft bzw. gesund-
heitliche Bewertung von Bauprodukten beschäftigten?

2. Glaubt die Bundesregierung tatsächlich, dass solche grundsätzlichen Fragen
von Vertretern der Chemie-Industrie unabhängig von der industriellen Inte-
ressenlage, also ohne Interessenkonflikte bearbeitet werden können?

3. Durch welche neuen Sichtweisen und Erfahrungen hat der Personalaustausch
mit Unternehmen und Verbänden die Arbeit des Bundesministeriums für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wesentlich befruchtet (bitte kon-
krete Beispiele)?

4. Bekommen Vertreter von Umwelt- und Verbraucherverbänden ähnliche Mit-
arbeitsangebote von den Ministerien wie die genannten Industrievertreter,
wenn nein, warum nicht?

5. In welchem Umfang wurden die Vertreter der Fraport AG und des Flughafens
Köln/Bonn im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
beteiligt an den Beratungen zum Schutz gegen Fluglärm und zum entspre-
chenden Gesetzentwurf aus dem Umweltministerium?

6. Welche Regelungen der Kostenerstattung und der Aufwandsentschädigung
für ehrenamtliche Arbeit in für die Bundesregierung tätigen Kommissionen,
Ausschüssen oder Beiräten sind z. B. für die einzelnen Gremien beim BMU
bzw. BMG (Reaktorsicherheitskommission, Kommission für Anlagensicher-
heit, Risikokommission) und beim BMAS (Ausschuss für Betriebssicherheit,
Ausschuss für Gefahrstoffe) getroffen worden?

7. Aus welchen rechtlichen und tatsächlichen Gründen ist eine für ehrenamt-
liche Arbeiten in der Regel sonst übliche Erstattung von belegbaren Kosten
(über die Erstattung von Reisekosten, Kosten für Verbrauchsmaterialien, so-
wie Kosten für Literatur hinausgehend) bzw. eine pauschale Aufwandsent-
schädigung (z. B. Sitzungsgeld) durch die Bundesregierung nicht durchgän-
gig möglich – bzw. wird im Fall des BMU für die Mitarbeit in der KAS
schlicht abgelehnt?

8. Setzt die Bundesregierung „ehrenamtliche Arbeit“ mit „unentgeltlicher Ar-
beit“ in dem Sinne gleich, dass für geleistete Arbeit keine Kostenerstattung
oder Aufwandsentschädigung gezahlt oder sonstige finanzielle Hilfestellung
gegeben werden sollte und die Arbeit einer Kommission einer Freizeitgestal-
tung gleichzusetzen ist?

9. Hält die Bundesregierung unter diesem Gesichtspunkt die Kommissionsar-
beit von Vertretern der Industrie, bzw. von Industrie- und Berufsverbänden
sowie von Länder- oder Bundesbehörden, die in ihrer Arbeits- bzw. Dienst-
zeit und unter Umständen mit Unterstützung entsprechender Büros ihre Mit-
gliedschaft in einer Kommission ausüben, für ehrenamtlich?

Drucksache 16/5203 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
10. Wird nach Auffassung der Bundesregierung unter diesen Gesichtspunkten
die z. B. im Bundes-Immissionsschutzgesetz geforderte gleichberechtigte
Partizipation der beispielsweise in der Kommission für Anlagensicherheit
tätigen gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen gewahrt, vor allem
hinsichtlich der Mitarbeit von Umweltverbänden?

11. Welche Schutzmechanismen sind vorgesehen, um eine einseitige Interes-
sensausrichtung in Beratungsgremien identifizieren und regulieren zu kön-
nen?

12. Wie werden im Interesse der Allgemeinheit die Positionen von betroffenen
Minderheitsgruppen in den Gremien gestärkt?

13. Wie werden Interessen von Einzelnen bzw. von einzelnen Gruppen in den
Ergebnissen von Kommissionen gekennzeichnet?

14. Wie werden Gegenargumente, die nicht von der Mehrheit einer Kommis-
sion getragen werden, ausgewiesen, damit diese in den Entscheidungen des
Ministeriums zusätzlich berücksichtig werden können?

15. Wie erklärt die Bundesregierung die Tatsache, dass selbst finanziell
schwächste Kommunen und Landkreise in der Lage sind, für ehrenamtliche
Arbeiten neben den Reisekosten ein Sitzungsgeld zu zahlen, wohingegen
die teilweise sehr umfangreichen und zeitraubenden Arbeiten in den Kom-
missionen auch für die ehrenamtlichen Mitglieder bei einigen dieser Gre-
mien (z. B. KAS) ohne jeglichen Kostendeckungsbeitrag seitens der Bun-
desregierung bleiben?

16. Aus welchen rechtlichen und ggf. sonstigen Gründen wird die Art der Kos-
tenerstattung in verschiedenen Kommissionen und Beiräten unterschiedlich
gestaltet (z. B. auch durch eine satzungsmäßig verankerte Zahlung von
Honoraren), und wann und wie ist die Bundesregierung bereit, hier die be-
stehenden Ungleichbehandlungen abzustellen?

17. Wann und wie wird die Bundesregierung das Versprechen von Bundes-
minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel,
(„Politik braucht starke Umweltverbände“) vom 23. September 2005 um-
setzen, nach dem die „gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für ehren-
amtliches Engagement im Natur- und Umweltschutz“ verbessert werden
sollen?

18. Wann und wie wird die Bundesregierung bereit sein, den in ihre Arbeit
integrierten Lobbyismus zu Gunsten von Industrie und Wirtschaft abzustel-
len zu Gunsten eines Lobbyismus für Natur, Umwelt, Klima und die Zu-
kunft dieser Erde?

Berlin, den 26. April 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.