BT-Drucksache 16/5141

Abschiebestopp und Schutz für Flüchtlinge aus Afghanistan

Vom 25. April 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5141
16. Wahlperiode 25. 04. 2007

Antrag
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Dr. Norman Paech, Hüseyin-Kenan Aydin,
Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Inge Höger, Ulla Jelpke,
Dr. Hakki Keskin, Monika Knoche, Jan Korte, Michael Leutert, Kersten Naumann,
Wolfgang Neskovic, Petra Pau, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich, Dr. Gregor
Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

Abschiebestopp und Schutz für Flüchtlinge aus Afghanistan

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der Abschiebungen
von Flüchtlingen aus Afghanistan gemäß § 60a Abs. 1 des Aufenthaltsgeset-
zes (AufenthG) einzusetzen;

2. den Bundesminister des Innern zu beauftragen, sein Einverständnis gegen-
über den Bundesländern für eine Aufenthaltsgewährung aus humanitären
Gründen nach § 23 Abs. 1 AufenthG für Flüchtlinge aus Afghanistan zu er-
klären und sich für entsprechende Regelungen einzusetzen;

3. den Bundesminister des Innern zu beauftragen, dafür zu sorgen, dass das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge keine Widerrufe von Asyl- und
Flüchtlingsanerkennungen von Personen aus Afghanistan vornimmt;

4. den Bundesminister des Innern zu beauftragen, dafür zu sorgen, dass das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das Vorliegen politischer und ins-
besondere geschlechtsspezifischer Verfolgungsgründe in Bezug auf Afgha-
nistan besonders sorgfältig prüft und afghanischen Flüchtlingen zumindest
ein subsidiärer Schutz entsprechend der Richtlinie 2004/83/EG des Rates
vom 29. April 2004 gewährt wird.

Berlin, den 25. April 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion
Begründung

Es ist unverantwortlich, dass Flüchtlinge in ein von Krieg geprägtes und zer-
störtes Land wie Afghanistan mit sich stetig verschlechternder und instabiler
Sicherheitslage abgeschoben werden: In weiten Teilen herrschen kriegsähn-
liche Zustände. Terroranschläge und andere sog. sicherheitsrelevante Vorfälle
sind zunehmend an der Tagesordnung. Bereits im ersten Halbjahr 2006 stellte

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UNICEF fest, dass es sechsmal so viele Angriffe gab wie im Vergleichszeit-
raum 2005. Die willkürliche Gewaltanwendung in Afghanistan unterscheidet
nicht zwischen Zivil- und Militärpersonen. Das Auswärtige Amt warnt drin-
gend vor Reisen nach Afghanistan. Die Rechte der Menschen, werden sowohl
von der Regierung als auch von den Warlords massiv verletzt. Die Zivilbevöl-
kerung ist in allen Teilen des Landes, einschließlich in Kabul, durch Terroran-
schläge und durch Kampfeinsätze der internationalen Truppen bedroht. Die
Versorgung mit Grundnahrungsmitteln ist nicht sichergestellt, Wohnungen sind
in der zerbombten Hauptstadt für die meisten Menschen unbezahlbar und eine
funktionierende Infrastruktur für die fast 5 Millionen Einwohnerinnen und Ein-
wohner Kabuls ist nicht vorhanden. Die medizinische Versorgung ist selbst in
der Hauptstadt katastrophal, Einkommensmöglichkeiten sind rar und unsicher.

Es ist widersinnig, wenn die Bundesregierung aufgrund der verschärften Sicher-
heitslage der Entsendung von Aufklärungstornados und weiterer Soldaten und
Soldatinnen nach Afghanistan zustimmt und zugleich nicht alles unternimmt,
um Flüchtlinge vor Abschiebungen in dieses von Gewalt geprägte Land zu
schützen.

Die unübersichtliche und chaotische Lage führt zu zahlreichen rechtsfreien
Räumen und zur tagtäglichen Verletzung elementarer Menschenrechte. Die Si-
tuation hat sich vor allem für Frauen verschlechtert. Sie sind besonderen Ein-
schränkungen und Bedrohungen ausgesetzt. Da in einem Großteil der Gesund-
heitseinrichtungen kein weibliches Personal beschäftigt ist, können Frauen die
Angebote nur sehr eingeschränkt wahrnehmen. Alleinstehende Frauen sind völ-
lig marginalisiert, da sie keinerlei sozialen Schutz genießen und in der Regel
der Willkür anderer Männer ausgeliefert sind. Ein Drittel aller Ehen gelten als
Zwangsverheiratungen, die Hälfte aller Mädchen wird vor dem 16. Geburtstag
verheiratet. Gewalt gegen Frauen ist weit verbreitet und wird von den afghani-
schen Behörden nur selten verfolgt.

Weder die afghanische Regierung noch internationale Hilfsorganisationen kön-
nen abgeschobene Flüchtlinge vor konkreten Gefahren für Leib und Leben
wirksam schützen. Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus dem Ausland sind in
besonderer Weise verletzlich und häufiger von Menschenrechtsverletzungen
betroffen als andere afghanische Zivilpersonen. Sowohl das VG Meiningen
(8 K 20639/03 Me, U. v. 16. November 2006) als auch das VG München (M 23
E 06.60078, B. vom 18. April 2006) befinden beispielsweise, dass für Rück-
kehrerinnen, Rückkehrer und Abgeschobenen in Afghanistan eine extreme
Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG droht. Sie werden typischer-
weise Opfer von Plünderungen, Entführungen und Gelderpressungen, vor denen
die Regierung nicht einmal in Kabul Schutz gewährleisten kann.

Deshalb hat der UNHCR in einer Stellungnahme „Humanitäre Erwägungen im
Zusammenhang mit der Rückkehr nach Afghanistan“ bereits im Mai 2006 die
Aussetzung bestehender Rückkehrverpflichtungen aus humanitären Gründen
für zwei Personengruppen gefordert: Für besonders schutzbedürftige Personen,
die auf Behandlungs-, Schutz- oder Betreuungsmöglichkeiten angewiesen sind,
die in Afghanistan nicht verfügbar wären, und für Personen, denen aufgrund
fehlender familiärer und/oder sonstiger sozialer Auffang- und Schutzmechanis-
men eine Reintegration in die afghanische Gesellschaft erschwert oder unmög-
lich wäre.

Der öffentliche Druck und die „Verschärfung der Situation in Afghanistan“ (In-
nensenator Udo Nagel laut Pressemitteilung vom 13. März 2007) führte dazu,
dass das Bundesland Hamburg entschieden hat, auf die geplante und bereits
eingeleitete Abschiebung von Familien mit Kindern für die Dauer mindestens
eines Jahres zu verzichten. Dies unterstreicht, dass eine angeblich unverändert

stabile Sicherheitslage zur Begründung von Abschiebungen nicht mehr heran-
gezogen werden kann.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5141

Angesichts der geschilderten konkreten Gefahren für Leib und Leben der
Flüchtlinge aus Afghanistan, der sie bei einer Abschiebung ausgeliefert wären,
lässt sich die Forderung nach einem humanitär begründeten Abschiebestopp
nicht mehr auf einzelne Gruppen beschränken. Eine Beschränkung des humani-
tären Schutzes auf Familien mit Kindern ist angesichts der durch willkürliche
Gewalt und extreme Not geprägten Lage, die alleinstehende Männer und kin-
derlose Ehepaare ebenfalls trifft, nicht zu begründen (vgl. auch die Forderun-
gen des Flüchtlingsrats Hamburg, Presseerklärung vom 15. März 2007).

Afghanische Flüchtlinge haben einen Anspruch auf Erteilung einer Aufent-
haltserlaubnis nach Artikel 15c i. V. m. Artikel 18 der so genannten Qualifika-
tionsrichtlinie der Europäischen Union (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom
29. April 2004). Demnach müssen die Mitgliedstaaten der EU einen subsidiä-
ren Schutzstatus gewähren, wenn „eine ernsthafte individuelle Bedrohung des
Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt
im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“
vorliegt. Die Qualifikationsrichtlinie entfaltet mangels fristgerechter Umset-
zung durch die Bundesrepublik Deutschland seit dem 10. Oktober 2006 eine
unmittelbare Wirkung. Die aus ihr resultierenden rechtlichen Verpflichtungen
gegenüber der Flüchtlingsgruppe der Afghanen gilt es uneingeschränkt umzu-
setzen. Hierbei ist insbesondere auch der besonderen Situation von Frauen und
den geschlechtsspezifischen Gewaltverhältnissen in Afghanistan Rechnung zu
tragen.

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